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Wildes, verweifeltes Schluchzen, jammervolles Stöhnen unterbrach Vikniksor. Es hörte sich an, als heule der Wind im Schornstein und suche durch die klappernde Ofentür einen Ausweg ins Freie. Zigeuner war es, der da schluchzte. Er weinte, das Gesicht in den verschränkten Armen vergraben, daß seine Schultern zuckten. Er weinte zum erstenmal, seit er in der Schkid war.

„Ich will nicht!“ schrie er. „Ich will nicht ins Landtechnikum. In die mathematische Fakultät möchte ich. Schweine hüten mag ich nicht!“ Und wieder schluchzte er mit zuckenden Schultern. Dann wurde er still.

Vikniksor war abwartend im Zimmer hin und her gegangen. „Gromonoszew will studieren“, fuhr er jetzt fort. „Aber das kann er nicht. Er ist moralisch zu schwach. Aus ihm würde nur ein Schuft werden, und ein gebildeter Schuft ist hundertmal schlimmer als ein ungebildeter. Wenn die Arbeit ihn bessert, kann er zu den Büchern zurückkehren. Deshalb — ich wiederhole es — sehe ich keinen anderen Ausweg.“

Er fuhr fort: „Aber auch die übrigen müssen bestraft werden. Das wollen wir selbst machen. Ihr sollt bestimmen, wer von euch ein Dieb ist. Zu diesem Zweck werden wir ein Scherbengericht abhalten…“ Der Eßraum kam in Bewegung. Die Stimmen rauschten auf wie der Wald in einer Herbstnacht. „Ablehnen!“ schrie einer.

Ein anderer zischte ihn nieder und rief zurück: „Richtig! Ein Scherbengericht!“

Vikniksor liebte bekanntlich originelle Einfälle. Er hatte deshalb das Scherbengericht aus dem Altertum geholt und gesagt: Hier habt ihr ein Mittel für euren sozialen Schutz, ihr Schkider, eine Maßnahme gegen Diebe. Nur schade, daß ich mir diese Erfindung nicht patentieren lassen kann, denn sie wurde schon vor zweieinhalbtausend Jahren in Athen gemacht…

Amöbe, der diensthabende Erzieher, schnitt sechzig Papierstreifen zurecht und verteilte sie auf den Tischen.

„Jeder soll drei Namen aufschreiben“, sagte Vikniksor. „Nämlich die Namen derer, die er für die Gefährlichsten hält. Wer mehr als fünfmal aufgeschrieben ist, wird aus der Schule entfernt und in eine andere Anstalt versetzt. Wer mehr als dreimal auf den Zetteln steht, kommt in die fünfte Gruppe unter dem Buchstaben 'D' (Dieb). Und alle, die mehr als einmal aufgeführt werden, kommen eine Gruppe tiefer als die, in der sie sich augenblicklich befinden. Wenn ihr nun schreibt, dann bemüht euch, gerecht zu sein, laßt euch nicht aus persönlicher Feindschaft verleiten, Unschuldige anzuschwärzen. Jetzt fangt an!“ Wieder ein Stimmengewirr, das aber sofort verstummte. Langsam glitten die Bleistifte über das Papier. Der Graphit knirschte. Die Jungen saßen nachdenklich da und hielten die Hand zum Schutz gegen fremde Blicke über ihren Zettel.

Wenn sie fertig waren, rollten sie die Zettel zusammen und übergaben sie den Diensthabenden, die diese „Papierscherben“ zum Lehrertisch brachten und sie in den dazu bestimmten Kasten legten. Als sich genau sechzig Zettel in dem Kasten angesammelt hatten, stand Vikniksor auf.

„Wir schreiten jetzt zur Auszählung“, erklärte er. „Wählt Kontrolleure.“

Hühnchen, Japs, Falke und Mamachen wurden ausersehen. Japs holte Papier und Tinte aus der Klasse und setzte sich zum Auszählen der Stimmen neben Vikniksor. Der Direktor nahm den ersten Zettel aus dem Kasten.

Wieder trat angespannte, lastende Stille ein. Vikniksor rollte den Zettel auseinander und las vor: „Gromonoszew, Dolgoruki, Ustinowitsch.“ Der zweite Zettel wurde auseinandergerollt. „Dolgoruki, Gromonoszew, Fedulow.“

Nun kam der dritte. „Dolgoruki, Koslow, Petrow.“

Auf den vierten Zettel reagierte der Eßraum mit nervösem Gelächter. „Hab' Angst vor Dresche, wenn ich einen hinschreibe.“ Wohl aus demselben Grunde waren ungefähr zwanzig Zettel unbeschrieben.

Nachdem alle Zettel verlesen waren, zählte Vikniksor mit den „Kontrolleuren“ die Stimmen aus. Folgendes Resultat ergab sich: Dolgoruki — 37, Gromonoszew — 30, Koslow — 26, Ustinowitsch — 13, Bessowestin — 7 und Starolinski 3 Stimmen. Kaufmann bekam zwei Stimmen, Jankel und Ljonka waren je einmal genannt worden. „Ins landwirtschaftliche Technikum“, verkündete Vikniksor, „werden nicht drei, sondern vier Zöglinge versetzt, und zwar Dolgoruki, Bessowestin, Gromonoszew und Ustinowitsch. Koslows Kenntnisse reichen für das Technikum nicht aus. Er kommt deshalb in die Tarassow-Anstalt.“

Koslow brach in Tränen aus. „Tarassow“ war ein Verteilungsheini, aus dem der Weg direkt ins „Kloster“ führte. „Die allgemeine Versammlung ist geschlossen“, erklärte Vikniksor. Die Jungen trotteten aus dem Eßraum.

Nur Zigeuner blieb sitzen. Er hatte das Gesicht in den Armen vergraben und schluchzte.

Mehrere Tage später fand die „erste Entlassung“ statt. Sie verlief ohne jedes Gepränge. Beim Mittagessen hielt Vikniksor den Entlassenen eine versöhnliche Abschiedsrede. Sie hatten sich mit dem Verlassen der Schule abgefunden: Kutscher, weil er es gewohnt war, von Heim zu Heim zu wandern; Ustinowitsch, der den Spitznamen Ochse hatte, aus angeborener Kaltblütigkeit und der Gewissenlose, weil er sich über die Versetzung ins landwirtschaftliche Technikum sogar ein wenig freute, denn er liebte das Landleben. Nur Zigeuners Gesicht hellte sich bis zum Schluß nicht mehr auf. Er schüttete zwar niemandem sein Herz aus, aber die Jungen hörten ihn in den letzten Nächten häufig weinen. Nach dem Mittagessen verabschiedeten sich die Entlassenen von ihren Kameraden und den Propheten. Dann ging es zum Baltischen Bahnhof. Jankel, Ljonka, Japs und Dse begleiteten sie. Sie gingen die AltPetershofer Chaussee hinunter, bogen in die Straße am Obwodny-Kanal ein. Die vier Reisenden trugen „Entlassungssachen“, die sie von der Abteilung Volksbildung bekommen hatten — Tuchmantel, Hose und Jacke — und schleppten Säcke mit Wäsche und ihren sonstigen ärmlichen Habseligkeiten auf der Schulter. Zigeuner marschierte als letzter, von seinen Klassenkameraden umringt.

„Na, Zigeuner, hast du keine Lust wegzugehen?“ fragte Jankel. Zigeuner antwortete nicht gleich.

„Ich türme!“ rief er dann dumpf. „Ehrenwort, ich türme. Ich hält's nicht aus.“

„Laß das, Zigeuner“, sagte Japs herzlich. „Du gewöhnst dich ein. Schreib uns oft, wir schreiben dir auch. Natürlich macht der Abschied keinen Spaß, wir waren doch schließlich drei Jahre zusammen, aber…“

Japs stockte. Ein Kloß saß ihm in der Kehle. Jeder versuchte Zigeuner zu trösten, so gut er nur konnte. Auf dem Bahnhof wurden die Entlassenen von Kostalmed, der gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt war, erwartet. Er brachte sie zu ihren Plätzen, händigte ihnen die Fahrkarten ein und ging zur Schule zurück, nachdem er sich verabschiedet hatte.

Bis zum Abfahrtssignal saßen die Jungen bei den Entlassenen im Abteil. Zigeuner kamen wieder die Tränen. Auch Jankel und Ljonka weinten.

„Glückliche Reise!“ rief Jankel und rannte auf den Bahnsteig hinaus. „Schreibt bald!“

„Glückliche Reise!“ wiederholten die übrigen.

Der Zug fuhr ab. Schweigend saßen die Verjagten da. Sie wußten nicht, worüber sie reden sollten. Der Vergangenheit zu gedenken war schrecklich und schmerzhaft, und das Neue lag noch vor ihnen. Im Abteil war es schwül. Es roch nach Stearinkerzen und Mottenpulver. Die Räder ratterten, am Fenster glitten Birken vorbei. Sie sahen wie Menschen aus — wie junge, übermütige Mädchen in weißen Spitzenkleidern.

SPALTUNG IM ZK

Filmträume * Eine prinzipielle Frage * Der Rauchkonflikt * Der „Tag“ * Sein oder Nichtsein * Spaltung im ZK * Der Kampf um die Massen * Waffenstillstand.

Eine Stunde nach Mitternacht. Von den Anstrengungen des Tages erschöpft, liegen die Schkider in tiefem, gesundem Schlaf. Im Raum ist es still. Ruhig atmen die Schläfer. Der leichte Nachtwind bringt durch das offene Fenster einen frischen Hauch herein. Nur Ljonka und Jankel sind noch wach. Verträumt sehen sie in die Nacht hinaus und unterhalten sich flüsternd. Die Blutsbrüder mögen noch nicht schlafen. Ihre Betten stehen dicht am Fenster, und die Luft kühlt den erhitzten Körper. „Was für'n Wetter!“ seufzt Jankel. „Ja, schön“, antwortet Ljonka. Jankel kratzt sich schweigend den Kopf.