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Still war es in dem großen Schlafraum der Schule. Manchmal knarrte die Lüftungsklappe. Die Zöglinge schnarchten, jeder auf seine Art — einer pfeifend, ein anderer heiser, ein dritter sanft und gleichmäßig. Die Ecklampe warf einen friedlichen, unbeweglichen Schein. Hinter der Wand, in Elanljums Wohnung, schlug die sächsische Tischuhr zwei. Gleichzeitig fuhren in verschiedenen Ecken des Schlafraums vier Köpfe lauschend von den Kissen hoch. Die anderen Jungen schnarchten ruhig weiter. Da sprangen die vier lautlos aus dem Bett und schlichen aus der Tür.

„Nach unten!“ flüsterte Kutscher auf dem Korridor. Sie gingen über die Vordertreppe zum Nebeneingang der Pförlner-wohnung. Diese Tür wurde gewöhnlich nur verriegelt. Heute war sie abgeschlossen.

„Verdammt!“ fluchte Zigeuner.

„Ist ja Wurscht“, antwortete Kutscher. „Wir gehen eben durch die Vordertür.“

„Und der Schlüssel?“ Kutscher überlegte nicht lange.

„Los, rauf! Wir bestechen ganz einfach den diensthabenden Schüler. Wenn uns jemand sieht, dann sagt ihr, daß ihr auf der Toilette wart, um zu rauchen.“

Doch sie brauchten diese Ausrede nicht. In der Küche brannte das Licht. Schaben liefen über die gekachelten Wände. Spatz, der Diensthabende, saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt. Kutscher trat allein in die Küche, ging auf Zehenspitzen zu Spatz hin und sah ihm ins Gesicht. Spatz schlief. Leise zog Kutscher den Tischkasten auf, nahm den Schlüsselring mit dem großen Schlüssel heraus, schob den Tischkasten ebenso vorsichtig wieder zu und machte sich aus dem Staube.

Jetzt brauchten sie nur noch die Ausgangstür zu öffnen. Das war nicht schwierig. Dann glitten die vier Jungen über die Treppe auf den Hof. Die Nacht war heiß. Es roch nach fauligem Holz und nach Erde. In den Fenstern der Schkid brannte kein Licht. Nur oben in der Mansarde, wo Alnikpop wohnte, flimmerte noch eine Petroleumlampe. Auf der Straße fuhr eine Droschke vorbei, dumpf klapperten die Pferdehufe über das Pflaster. Dann wurde es wieder still.

„Pssst!“ zischte Kutscher. Seine zusammengebissenen, weißen Zähne blitzten in der Dunkelheit auf.

Sie schlichen an der Mauer entlang bis zur Eisentür des Konsumladens. Daneben stand der Sack, als wäre er ein wertloses Ding. Zigeuner bückte sich und las beim Schein der Laterne: „Britisch-ostindischer Kaffee… Kaffee!“ Er schrie es beinahe. „Richtiger Kaffee, Donnerwetter!“

„Halt die Fresse, Zigeuner!“ zischte Kutscher. „Schnell! Nackter, Bock, los! Der Nackte auf den Zaun, Ochse zur Treppe!“ Er packte den Sack an einem Ende, Zigeuner umklammerte das andere. Mit der fünf Pud schweren Last rannten sie zum Zaun.

Dahinter lag eine Fabrik für Feuerlöscher. Sie war durch ein einstöckiges, halbzerstörtes Gebäude, das früher als Fabrikschuppen gedient hatte, von der Straße getrennt. „Steig auf den Zaun!“ befahl Kutscher seinem Blutsbruder. „Du auch, Nackter!“

Zigeuner und der Nackte kletterten auf den niedrigen Holzzaun, aus dem spitze Nägel ragten. Es war nicht einfach, sich auf den Nägeln zu halten. Kutscher hob den Sack unter Anspannung aller Kräfte zu den Kumpanen hoch.

„Nehmt ihn, aber leise!“ keuchte er. „Vorsicht!“

Dann kletterte er ebenfalls auf den Zaun, horchte und kommandierte:

„Runter damit!“

Der schwere Sack plumpste auf einen Kohlenhaufen. Die drei Strolche sprangen hinterher.

Einen Augenblick hockten sie schweigend da und betasteten ihre zerfetzten Hosen. Dann packten sie den Sack und schleppten ihn in den zerstörten Schuppen. Dort gruben sie ihn ein, schütteten Schutt darauf und machten sich unter den gleichen Vorsichtsmaßregeln auf den Rückweg.

Spatz schlief immer noch fest, deshalb war es das Werk eines Augenblicks, den Schlüssel in den Tischkasten zurückzulegen. Unbemerkt kamen sie in den Schlafraum, zogen sich aus und gingen zu Bett. Den Verkauf des Kaffees übernahm Kutscher, der Beziehungen zu Hehlern hatte.

„Trinkt, Genossen, trinkt, ihr Sündenlöcher!“

Sie tranken, tanzten und sangen…

Die Dielen krachten, die Köpfe brummten, in den Ohren dröhnte es, und vor den Augen drehte sich alles.

„Trinkt!“ schrie Kutscher. „Trinkt, Brüderchen!“

Er saß auf einem knorrigen Birkenklotz mit abgeschabter Rinde.

Zigeuner lag auf dem Fußboden wie Stenka Rasin, der am Ufer der breiten Wolga zecht. Ochse, Kaufmann, der Nackte, der Gewissenlose, Happen, Hühnchen waren dabei, und außerdem noch zwei Jungkommunarden, ja, zwei Jungkommunarden, die der Versuchung nicht hatten widerstehen können — Ljonka und Jankel. Sie feierten das „erfolgreich gedrehte Ding“.

Kutscher hatte den Kaffee für achthundert „Eier“ losgeschlagen. Achthundert Millionen Rubel![8] Das war damals eine erhebliche Summe, ganz besonders für dieSchkid mit ihren mageren Lebensmittelrationen, mit der Hirsegrütze und dem Seehundstran.

Das Geld war nicht gleichmäßig verteilt worden. Kutscher hatte dreihundert „Eier“ bekommen, Zigeuner zweihundert, der Nackte und Ochse je hundertfünfzig. Anläßlich ihres Erfolges veranstalteten sie jetzt ein nach Schkider Begriffen außergewöhnliches Gelage. Die Diebe waren nicht entdeckt worden. In der Schule erfuhr man überhaupt nichts von dem Diebstahl. Die Konsumangestellten vermuteten, Einbrecher von außerhalb hätten den Kaffee gestohlen. Sie kamen nicht auf den Gedanken, sich einmal bei ihren Nachbarn umzusehen. Und die Bande, die plötzlich soviel Geld besaß und nicht wußte, wohin damit, praßte… „Sauft!“

Bierflaschen auf dem Fußboden, eine Schnapspulle auf dem Brettertisch, daneben Wurst, Konfekt, Keks, Schokolade… „Sauft!“

Ein Gelage in dem halbzerstörten Seitenflügel, im Holzschuppen… Viele tranken zum erstenmal Alkohol.

Sie erbrachen sich auf die Diele, neben die Schokolade und die Kekse. „Sing, mein Liebling!“ Kutscher fiel dem Gewissenlosen um den Hals. „Sing, verdammt, ich bitte dichl Ich will ein Lied!“ Und der Gewissenlose sang mit seiner weichen, schönen Stimme:

Überwuchert sind die schmalen Wege,
über die mein Liebster einstmals zog.
Moos und Gras wächst jetzt auf jedem Stege,
wo wir gingen, bis das Glück uns trog…

Jankel und Ljonka hockten in der Ecke, still, ohne sich zu rühren. Der Rausch drang ihnen in jede Pore ihres Körpers und ließ ihr Herz schneller klopfen. Aber — hämmerte es nur vom Rausch? Nicht auch vor Scham und Beklommenheit? „Jungkommunarden sind wir… und haben uns verkauft… Ach, verdammt!“

Doch die Hemmungen fielen, als sie genug Branntwein im Leibe hatten. Die Scham verging, der Rausch blieb. Sie umschlangen sich und sangen — Ljonka in krampfigem Baß, Jankel mit seinem natürlichen Tenor:

Für fuffzehn „Eier“ mach ich Skandal!
He, Kutscher! Bier her, verflucht noch mal!

Kaufmann wälzte sich sternhagelvoll auf dem Fußboden, packte den Nackten Herrn und kitzelte ihn.

„Nackter, gib mir ein 'Eierchen'!“

Der Nackte drückte ihm einen Millionenschein in die Hand. Wenn man hundert Stück davon in der Tasche hat, ist man nicht geizig.

Die letzten Glasscherben in den Fensterrahmen klirrten beim Tanz; der Bier floß von dem Tisch aus Holzscheiten und vermischte sich mit dem Erbrochenen auf dem Fußboden.

Kam mein Liebster aus der Stadt,
wo er sich besoffen hat.

Der Gewissenlose sang, Kutscher, der Künstlersohn, fiel ihm um den Hals und lachte und weinte.

„Gewissenloser, sing! Sing, du Tranfunzel! Du platzt vor Talent… Hoho! Ha-a-a!“ Dann umarmte er Zigeuner, küßte ihn und stammelte: „Zigeunerfresse, Freundchen!.. Meine Mutter und mein Vater waren Halunken, du bist mein einziger Freund. Wenn ich noch tiefer sinke, bin ich in der Hölle…“ Sie tranken, sangen, tanzten.

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Der sogenannte Papierrubel stand damals so niedrig im Kurs, daß er in Millionen-Scheinen ausgegeben wurde. Offizielle Währungseinheit war der Tscherwonez (Mehrzahl: Tscherwonzen). 1 Tscherwonez = 10 Goldrubel. Ein Goldrubel war in der NÖP-Zeit etwa 8–15 Millionen Papierrubel wert.