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Nur durch Heime gestoßen, verloren,
hab' ich nie eine Heimat gekannt.
Warum hat mich die Mutter geboren?
Ach, nur Unglück auf Erden ich fand!..

Niemand kannte das Lied, aber aus Höflichkeit summten alle mit, bis Goga verwegen den schwarzen Schöpf schüttelte und das Lied vom Äpfelchen „auf den Zähnen“ zu spielen begann. Die „Zahnmusik“ war in der Schkid außerordentlich beliebt, und jeder Neue studierte als erstes diese komplizierte Kunst eifrig und ausdauernd, um das Recht zu haben, an den gemeinsamen Konzerten teilnehmen zu können.

Als „Zahnmusiker“ braucht man vor allem Gehör und gute Zähne. Alles andere ist Übungssache. Diese Kunstart beruht auf folgender Technik: Man trommelt die Melodie mit den Nägeln von vier Fingern auf den Oberkieferzähnen, zuweilen auch mit acht Fingern, wenn man zweihändig spielt. Der Mund wird dabei mehr oder weniger weit geöffnet oder geschlossen. Dadurch entstehen die verschieden hohen Töne. Spezialisten der Zahnmusik erreichen eine Virtuosität, daß sie jede beliebige, noch so komplizierte Melodie spielen können ohne steckenzubleiben.

Goga war ein solcher Virtuose. Als Stotterer konnte er nicht singen. Deshalb hatte er sich vollständig auf die Zahnmusik gelegt. Er war gleichzeitig Dirigent und Solist des Schkid-Orchesters. Er entblößte die großen weißen Zähne, legte träumerisch den Kopf zurück und begann mit flinken Schlägen die Melodie zu trommeln. Dann fiel das ganze Orchester ein. Die Gesichter wurden starr vor lauter Konzentration. Die glasigen Augen brannten in einer Begeisterung, die jedem Musiker eigen ist. Selbstverständlich spielten sie ohne Noten, aber dafür mit um so mehr Gefühl. Sie gaben äußerst komplizierte Variationen zum besten. In ihrer Besessenheit merkten sie nicht, wenn der Schulleiter eintrat. Sein Erscheinen bedeutete, daß es Schlafenszeit war. In den ersten Tagen hatte die Schkid einen unverhältnismäßig großen Personalbestand. Auf acht Zöglinge kamen acht Angestellte, obgleich keiner von ihnen überflüssig war: ein Pförtner, eine Köchin, eine Putzfrau, der Schulleiter, seine Assistentin und drei Erzieher. Der Schulleiter war eine strenge Persönlichkeit: drohende Augenbrauen, eine Bürstenfrisur und auf der langen Nase einen Zwicker. Die Anfänge seiner pädagogischen Tätigkeit gingen bis in die graue Vorzeit zurück. Er erinnerte sich mit Vorliebe seiner Jugendzeit und erzählte oft davon. Die Jungen hatten zwar Angst vor ihm, machten aber seine schwachen Seiten bald ausfindig. Er sang gern und liebte es, dem Gesang zu lauschen. Im ersten Stock gab es einen Saal. Dort schloß er sich häufig ein, setzte sich an den Flügel und schmetterte „Stenka Rasin“ oder „Tage unseres Lebens“, daß es durch die ganze Schule schallte. Daraufhin strömten die Zuhörer vor der Tür zusammen und machten sich über ihn lustig. „Ein verkannter Schaljapin!“[3]

Schon am Gründungstage war der Direktor ins Schulgebäude eingezogen. Er wohnte im ersten Stock.

Seine Wohnung war vom Schülerinternat nur durch einen Raum getrennt, der bei feierlichen Anlässen als „Weißer Saal“ bezeichnet wurde. An den Wänden dieses Saales hingen billige Drucke von den gemalten Porträts russischer Schriftsteller. Dostojewski'nahm unter ihnen den Ehrenplatz ein. Assistentin des Direktors war seine Frau, die weißblonde Deutsche Ella Lumberg, russisch lautete ihr Name Ella Andrejewna Ljumberg. In der ersten Zeit spielte sie die Hausmeisterin, doch später gab sie deutschen Sprachunterricht. Das Ehepaar ist als Gründer der Schule zu bezeichnen. Anfangs waren nur wenige Erzieher vorhanden. Den Turnunterricht gab ein Student, dem man den Spitznamen „Väterchen“ verliehen hatte. Als Naturkundelehrer diente ein schwächliches Männlein, das in Kaigorodows Blumenbücher verliebt war und aus einer deutschen Petersburger Apothekerfamilie stammte. Er war nachsichtig und arglos. Die Zöglinge mochten aber seinen schwer aussprechbaren Namen nicht. Sie änderten darum Herbert Ljudwigowitsch zuerst in Herb-Ljudowitsch, machten daraus Herb-Ljuditsch, nannten ihn dann einfach freundschaftlich Werbljuditsch und tauften ihn schließlich endgültig Werbljud, zu deutsch Kamel. Obwohl die Jungen Kamel wegen seiner Milde gern hatten, machten sie sich über seine zahlreichen Absonderlichkeiten lustig. Sie beobachteten ihn zum Beispiel dabei, wie er vor dem Schlafengehen in Unterhosen eine Mazurka tanzte und dazu in falschen Tönen plärrte. Besonders gingen den Schkidern die endlosen Tonleitern auf die Nerven, die er auf dem verstimmten Klavier, das leider in seinem Zimmer stand, allzuoft herunterklimperte; denn nächst den Blumen war die Musik Kamels Leidenschaft. Er hatte jedoch keine Ahnung vom Spielen und bot den Schkidern während seiner Amtsperiode in der Schule nichts als diese Tonleitern.

Der dritte Erzieher war eine farblose Persönlichkeit. Er verschwand bald wieder von der Bildfläche, weil ihm die zu kleine Lebensmiltel-zuteilung und der zu anstrengende Dienst bei den Schwererziehbaren nicht paßten. Wie es heißt, hat er später als Sporlinstrukteur im Unterrichtsministerium und danach als Angestellter in einem Fleischerladen sein Dasein gefristet.

SCHKID. Die republik der strolche i_005.png

Der Schulleiter war eine strenge Persönlichkeit.

DER ZIGEUNER AUS DEM KLOSTER

Grüß euch, Halunken! * Vikniksor * Balsam gegen Langeweile * Der erste Dichter der Republik * Block war mein Klassengefährte * Zigeuner im Ruhmesglanz.

Die Tage des süßen Nichtstuns dauerten nur kurze Zeit. Allmählich füllten sich die Reihen der Schkider; auswärtige Schüler, die nach dem Unterricht wieder nach Hause gingen, kamen hinzu. Es wurden drei Klassen gebildet, die der Schulleiter aus unerfindlichen Gründen „Abteilungen“ nannte. Der Unterricht begann. Es gab weniger freie Zeit zum Spazierengehen. Außerdem setzte strenger Frost ein. Abends hockten die Jungen meistens im Schlaf räum und verkürzten sich die Zeit auf harmlose Weise. An einem dieser Abende, als sie sich wärmesuchend um den Ofen gedrängt hatten, kam zusammen mit Viktor Nikolajewitsch ein Bursche in einem verschlissenen Uniformmantel in den Schlafraum. Ein Neuer! dachten die Schkider und musterten ihn kritisch. Der Schulleiter räusperte sich, nahm den Jungen am Arm und schob ihn vor.

„Da habt ihr noch einen Kameraden, Kinder“, sagte er. „Er heißt Kolka Gromonoszew. Ein gescheiter Junge, der etwas von Mathematik versteht. Hoffentlich freundet ihr euch bald mit ihm an.“ Damit ging Viktor Nikolajewitsch aus dem Zimmer und überließ es den Jungen, miteinander Bekanntschaft zu schließen. Kolka Gromonoszew betrachtete die Sitzenden ziemlich herausfordernd. Als er feststellte, daß darunter niemand stärker war als er, grüßte er selbstsicher: „Grüß euch, Halunken!“

„'n Abend!“ knurrte Spatz im Namen aller feindselig. Er merkte sofort, daß der Neue sehr bald die erste Geige in der Klasse spielen und damit seine eigene Macht dahinschwinden würde. Ein Blick hatte genügt, um das zu spüren, und darum mochte er den Neuen nicht.

Unterdessen trat Kolka sorglos zum Ofen, stieß die Jungen weg und setzte sich ans Feuer.

Sie rückten beiseite und starrten den Neuen schweigend an. Sein herausforderndes Benehmen, überhaupt sein ganzes Äußeres gefiel ihnen nicht.

Kolka machte einen bösartigen Eindruck. Störrisches Haar fiel ihm in die gerade Stirn. Unter den dunklen Brauen blickten die Augen listig und dreist hervor. Sein hagerer, muskulöser Körper verriet seine Kraft.

Kolka hatte den langen Weg eines Verwahrlosten hinter sich. Mit fünf Jahren hatte er den Vater verloren, später auch die Mutter. Bei entfernten Verwandten war er ohne Aufsicht aufgewachsen und vollständig verwildert. In dem Bestreben, ihn möglichst schnell loszuwerden, hatten ihn die Verwandten in das Gatschinski-Institut gegeben.

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Berühmter russischer Baßsänger (1873–1938).