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Pausenlos, in qualvoller Eintönigkeit, erklang das Lied, und erst tief in der Nacht, als der Zug in Twer hielt, weil die Lokomotive Wasser nehmen mußte, verstummte der Sänger — er war wohl eingeschlafen. Draußen heulte noch immer der Sturm, und im Abteil schnarchten ein Student mit Wickelgamaschen, eine Dame mit verblichenem Trauerschleier und ein Tatare aus Ufa mit seiner Frau. Sie schnarchten alle, und der Tatare pfiff außerdem durch die Nase und seufzte im Traum. Vikniksor konnte nicht schlafen. Tagsüber hatte er aus Untätigkeit ein Nickerchen gemacht, jetzt saß er unbeweglich in der dämmrigen Ecke, gegen den Lichtschein geschützt, und dachte nach. Seine zusammenhanglosen Gedanken flogen dorthin, wohin die Räder rollten — nach Petrograd, in die Schkid.

In den vier Wochen, die der Lehrgang gedauert hatte, war Vikniksor die Schkid noch mehr ans Herz gewachsen. Er wußte jetzt, daß die Schkid sein Kind war, nach dem er sich sehnte, sein Kind, das er hegen und pflegen mußte. Wie es dort wohl aussah. War alles in Ordnung, war etwas passiert? Vikniksor wuß te, daß er auf alles gef aß t sein muß te.

Die Schkid war kein normales Kind, auf das man sich verlassen konnte, gerade jetzt nicht, wo kurz vor seiner Abreise viele neue Schwererziehbare, die noch niemals unter pädagogischem Einfluß gestanden hatten, in die Schule eingeliefert worden waren. Wie sah es dort aus?

Endlich schlief Vikniksor über seinen Gedanken ein. Er träumte vom Minin-Denkmal auf dem Roten Platz, von der „Chronik“, von Elanljum, von den Jungen, die gerade im Eßraum bei Tisch saßen, von dem Schild der Teefabrik in der Mjasnizkaja-Straße, von dem kahlgeschorenen Referenten mit dem herabhängenden Schnurrbart, der auf dem Kongreß für Sozialerziehung gesprochen hatte, und wieder von der Schkid, von Japs, der das Sonnenblumenwappen in der Hand hielt, und vom „Junkom“…

Dann geriet alles durcheinander. Das Schild der Teefabrik kam in die „Chronik“, der kahlgeschorene Referent schwenkte die „Chronik“, der steinerne Minin trat in den Eßraum… Vikniksor schlief fest. Der Student weckte ihn.

„Stehen Sie auf, Genösse, wir sind in Petrograd.“ Widerwillig öffnete Vikniksor die Augen, streckte gähnend die Beine aus und griff nach seinem Mantel, der zu Boden gefallen war. Aber als er auf den Bahnhofsplatz trat, wurde ihm das Herz warm. Alles kam ihm vertraut vor — die Petrograder Droschkenkutscher, die Zeitungshändler und Gepäckträger. Selbst den Zaren Alexander III. mit dem „Gedenkkranz der Ruhmlosigkeit“ fand er plötzlich schön. In Petrograd war es Morgen. Die Hitze hatte noch nicht eingesetzt. Vikniksor wollte mit der Straßenbahn fahren. Doch als er eine Weile vergeblich an der Haltestelle gewartet hatte, beschloß er, zu Fuß zu gehen. Er zog seinen Mantel aus und schritt die Ligowka hinunter, am Obwodny-Kanal entlang auf die Schule zu. Immer quälender wurde die Frage: Wie sieht es dort aus? Neben dem Elektrizitätswerk am Obwodny-Kanal schleppten Lastträger Kohlensäcke über die Lauf gänge in eine Schute. Vikniksor blieb stehen und sah zu, wie die Kohle gleich schwarzen Diamanten funkelnd in den Eisenbauch der Schute fiel. Er blickte ins Wasser, auf dem ölflecke schillerten. Dann dachte er wieder: Wie sieht es dort aus? und ging hastig weiter.

Inzwischen war es heiß geworden. Die goldene Sonnenscheibe stand jetzt schon über dem Jungfrauen-Kloster.

Elanljum saß, Vikniksor stand vor ihr. Er stützte sich mit dem Ellenbogen auf eine Nußbaumkommode. Das Lächeln war aus seinen Augen verschwunden.

„Ach, Viktor, ich bin vollständig erschöpft, ich hab' nichts ausrichten können, ich weiß nicht mehr aus noch ein.“ Vikniksor lehnte an der Kommode und lauschte wortlos Elanljums Bericht.

„Dieser Dolgoruki… er ist unverbesserlich, ein rückfälliger Verbrecher, ein entsetzlicher Mensch…“

Vikniksor schwieg. Ein verlorenes, kummervolles, fast verzweifeltes Lächeln stand in seinen Augen.

Dann saß er lange an dem schweren Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, hatte die Lampe abgeschirmt und dachte nach. Ist Dolgoruki wirklich ein hoffnungsloser Fall? Ein fünfzehnjähriger Junge? Unmöglich. Da wurde irgendein Mittel vergessen, nicht alles versucht…

Er zog die Schublade auf und nahm eine braune Akte heraus. Sie trug die Aufschrift: „Charakteristiken B-K“.

Vikniksor schlug die Akte auf und holte eine Charakteristik heraus. „Siwer Dolgoruki… Dieb. Stahl im Heim für Künstlerkinder, bestahl die eigenen Kameraden… Kinderheim Nr. 18… Stahl… Gymnasium von Zarskoje Selo. Stahl, wurde aus der Schule verwiesen… lernte schlecht… Institut für schwererziehbare Minderjährige… Diebstahl, Flucht… Kloster…“

Trotzdem — ein Erziehungsmittel war noch nicht angewandt worden. Aber welches?

Plötzlich fiel es ihm ein: Erziehung durch Arbeit!

Arbeit, körperliche Arbeit… in Werkstätten, Fabriken, am Hochofen, hinter dem Pflug, auf dem Traktor. Sie ist der beste Erzieher der Welt, sie kann das erreichen, was Menschen mit Büchern nicht schaffen. Und weil die Sache hoffnungslos schien, wollte sich Vikniksor die Arbeit zu Hilfe holen.

Am gleichen Tage lief er trotz seiner Müdigkeit von der Abteilung Volksbildung zur Landwirtschaftsverwaltung und von dort zur Stelle für Berufsausbildung. Er berichtete und suchte zu überzeugen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Und als er nach seiner Rückkehr in die Schkid die Treppe hinaufging, summte er vor sich hin:

Arbeit steht noch viel bevor,
bis sich öffnet uns das Tor,
um uns freizugeben
für den Weg ins Leben.

Beim Abendbrot kam Vikniksor mit finsterem Gesicht in den Eßraum. „Guten Abend.“

„Guten Abend, Viktor Nikolajewitsch!“ antwortete ein Chor von dumpfen Stimmen.

Abwartend saßen die Jungen da. Sie wußten, daß Vikniksor etwas sagen würde und auf jeden Fall etwas Unerfreuliches. Alle schwiegen. Sie bliesen auf den heißen Tee und kauten ihr Brot. Marx, dessen Bild über dem Tisch der Sumpfonier hing, bohrte die Blicke in Fjodor Dostojewskis düstere Augen. Die Jungen sahen Vikniksor an. Er schwieg. Dampf wölkte sich über den Tischen.

„Heute ist allgemeine Versammlung“, erklärte Vikniksor schließlich. Einer seufzte.

„Wann?“ fragte ein anderer. „Gleich… nach dem Abendbrot.“ Nach dem Essen räumten die Diensthabenden das Geschirr ab und fegten die Brotkrümel von den mit schwarzem Wachstuch bezogenen Tischen.

Vikniksor stand auf, klopfte sich nachdenklich mit dem Finger gegen die Schläfe und begann zu sprechen — zuweilen laut, zuweilen fast im Flüsterton.

„Jungen! Ihr wißt, wovon ich reden werde und reden muß, was ich nicht verschweigen kann. Ihr wißt, daß während meiner Abwesenheit in der Schule Dinge vorgekommen sind, die es früher niemals gegeben hat. Alles wurde in der 'Chronik' festgehalten. Die Schule hat sich in eine Räuberhöhle verwandelt, in einen Schlupfwinkel für gemeingefährliches Gesindel. Aber das ist nur scheinbar so. Ich bin überzeugt, daß die Schkid unverändert geblieben ist und sich die meisten von euch nur insofern zum Schlechten gewandelt haben, als sie an Niveau verloren. Doch das sind Kleinigkeiten. Das kann man wieder in Ordnung bringen. Allein schuldig ist eine Gruppe…“ Vikniksor blickte zu Dolgoruki hin. Die Blicke aller folgten ihm. Kutscher duckte sich und schlug die Augen nieder. „Eine Gruppe“, wiederholte Vikniksor, „eine Gruppe von Schurken, rückfälligen Verbrechern, Rädelsführern… Dazu gehören meines Erachtens…“, die Jungen spitzten die Ohren, gespannte, lastende Stille trat ein, „… Dolgoruki, Gromonoszew, Bessowestin. Sie sind im Rahmen unserer Schule nicht zu bessern. Das einzige Mittel, das ich mir für sie ausdenken konnte, ist Erziehung durch Arbeit. Sie werden in das landwirtschaftliche Technikum des Petershofer Kreises versetzt. Ich hoffe, daß sie sich dort, in der friedlichen ländlichen Umgebung, bei dauernder körperlicher Arbeit bessern werden. Ich hoffe…“