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Die Freunde legten sich wieder hin. Das Einschlafen fiel ihnen jetzt schwer. In der Kammer war es kalt geworden, und sie zitterten unter Saschas Mantel und auf den beiden nassen, zerfetzten Matratzen.

„Wir wollen Feuer machen“, schlug Ljonka vor.

„Nicht doch!“ widersprach Sascha erschrocken. „Hier ist lauter Stroh und so was. Das gibt 'nen Brand.“

„Unsinn.“

Ljonka kroch von den Matratzen herunter und schob das Werg von dem schmutzigen Steinfußboden. In den Kreis, der sich auf diese Weise gebildet hatte, legte er ein Häuflein Werg und riß ein Streichholz an. Aber das durchnäßte Werg wollte kein Feuer fangen.

„Hast du Papier?“

SCHKID. Die republik der strolche i_042.png

Aufstehn, aufstehn!

„Nein“, antwortete Sascha. „Nur Bücher, und um die ist es zu schade.“

Ljonka wühlte in seiner Hosentasche und zog zusammengefaltetes Papier hervor.

„Was ist das?“ erkundigte sich Sascha.

„Heinrich Heine“, sagte Ljonka kläglich und lächelte traurig in die Dunkelheit.

Er zerknüllte ein Blatt und zündete es an. Die Flamme leckte über das Papier, erlosch, rauchte und schlug dann wieder hoch. „Komm her“, sagte Ljonka.

Sascha rückte heran.

Sie hatten die Übersetzung von Heine fast ganz verbrannt, als sich auf der Treppe Schritte näherten. Ljonka erstickte das Feuer mit den bloßen Händen. Es erlosch sofort.

Wieder tauchte eine Hand mit Laterne in der Deckenöffnung auf, und diesmal folgten ihr zwei Köpfe.

„He, ihr Hühner! Kommt raus!“ Das war Alnikpops Stimme. Sascha und Ljonka preßten sich lautlos an die Wand. „Na, wird's bald!“

„Komm raus!“ flüsterte Ljonka.

Hintereinander kletterten sie durch das Loch ins Treppenhaus — verschlafen und schmutzig, mit nassem Werg und Stroh beklebt. Ohne ein Wort gingen sie die Treppe hinunter. Alnikpop und Meftachudyn brachten sie ans Tor. Alnikpop hatte die Hände fröstelnd in die Ärmel gesteckt.

„Nicht nett von Ihnen, Onkel Sascha“, sagte Sascha Pylnikow. „Was soll ich machen, Jungens! Viktor Nikolajewitsch hat es so angeordnet.“ Er machte ihnen die Pforte auf und fügte hinzu: „Alles Gute!“

Auf der Straße war es finster und kalt.

Die Laternen brannten nicht mehr, der Mond schien nicht, und die Sterne flimmerten nur verschwommen zwischen den Wolken. Langsam trotteten Sascha und Ljonka die dunkle, breite Allee hinunter, vorüber an einem hell erleuchteten Restaurant. „Halunken!“ brummte Sascha.

Das galt den NÖP-Leuten, die zu dieser späten Stunde noch zechten. Die Jungen bekamen allmählich Hunger. Auf dem Newski-Prospekt kauerten die Kutscher der Nachtdroschken frierend auf ihren Wagen.

„Komm wieder zurück“, sagte Ljonka.

„Hat das Sinn?“ wandte Sascha ein. „Sie lassen uns ja doch nicht schlafen.“

„Ach was — los, komm!“

Sie gingen zur Schkid zurück.

Der wachsame Meftachudyn hatte das Tor verschlossen. Sie mußten über das mit Stacheldraht umwickelte zerbrochene Gitter klettern. Unbemerkt kamen sie in ihren Verschlag unter der Treppe und schliefen ein.

Am nächsten Morgen erwachten sie aus alter Gewohnheit um acht Uhr.

Als sie auf den Hof kamen, klingelte es in der Schkid gerade zum Frühstück. Die verschleierte Sonne erwärmte die Erde. Auf dem Gras verdampfte der Tau.

Hinter dem Holzstoß kam Meftachudyn hervor. Er hatte eine Axt in der Hand, wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab, sah nach Osten und gähnte. Als er die Jungen erblickte, ging er zu ihnen hin.

„Na, doch hier geschlafen?“

„Nein“, widersprach Sascha erschrocken. „Nein, nicht hier, wir…“

Meftachudyn lachte.

„Ich wissen, ich selbst sehen, wie reingekommen.“ Er sah in die Luft und ergänzte: „Ich doch Mitleid. Ich — meine Pflicht getan.“

Ljonka klopfte dem Tataren auf die Schulter.

„Ich weiß.“ Als Meftachudyn weg war, schlug er vor: „Wir gehn jetzt in die Schkid.“

Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen in die Küche. Der Älteste und der Diensthabende gaben ihnen Tee und riefen Jankel und Japs.

„Na, wie steht's?“ fragte Japs teilnahmsvoll.

„Schlecht“, antwortete Ljonka. „Wir können nicht länger ohne Bleibe rumlaufen. Ist zu kalt.“

„Tja“, meinte Jankel nachdenklich. „Geht doch mal zu Vikniksor und jammert ihm was vor. Vielleicht erbarmt er sich.“

Die Blutsbrüder tranken ihren Tee aus und folgten dem Rat. „Herein!“ rief Vikniksor, als sie an seine Tür klopften.

Sie traten ein und blieben an der Tür stehen.

„Was wollt ihr?“

„Verzeihen Sie uns, Viktor Nikolajewitsch…“

„Nein… Schert euch aus der Schule, habe ich gesagt. Solche Schurken will ich hier nicht haben.“ Die Jungen wandten sich zum Gehen.

„Übrigens… wenn ihr die Fensterscheiben wiedereinsetzt, dann…“

„Dann?“

„Dann dürft ihr in einem Monat in die Schule zurückkommen.“ „Vielen Dank, Viktor Nikolajewitsch.“

Damit verließen sie das Zimmer. Sie wußten vor lauter Kummer nicht mehr, was sie machen sollten.

„Was heißt denn das?“ stieß Ljonka hervor. „Wenn wir die Fensterscheiben nicht wiedereinsetzen, dürfen wir dann überhaupt nicht mehr wiederkommen?“ „Scheint so“, seufzte Sascha.

„Wir müssen uns also überlegen, wo wir das Geld herkriegen. Die Scheiben müssen wir wohl auf jeden Fall wiedereinsetzen.“ Sie gingen in den Hof zurück. „Komm auf die Straße“, sagte Sascha.

Der herrliche Frühlingstag machte ihnen diesmal kein Vergnügen. Langsam, ziellos schlenderten sie davon. „Wir müssen was verkaufen“, stellte Sascha fest. „Ja.“ Ljonka nickte. „Aber was?“ Sie überlegten.

Als sie am Jussupow-Park vorbeikamen, schlug Ljonka vor: „Gehn wir da mal rein.“

Im Park setzten sie sich auf eine Bank. Hier war der Frühling noch deutlicher zu spüren als auf der Straße. Die Knospen sprossen, und am Ufer des Teiches, auf dem das Eis schon geschmolzen war, kam das erste Gras hervor. Die Blutsbrüder saßen da und zerbrachen sich den Kopf.

„Ich hab' was“, erklärte Ljonka errötend. „Was?“

„Einen Zahn.“

Er nahm die Mütze ab, schob das Futter weg, holte ein winziges Papierknäuel hervor und wickelte es umständlich auseinander. Ein runder Gegenstand kam zum Vorschein. „Einen Goldzahn“, wiederholte er. „Im Herbst fand ich ihn in Katherinenhof. Ich glaub', den kann man verkaufen.“ Sascha grinste.

„Warum hast du ihn denn so lange aufbewahrt?“ Ljonka errötete noch tiefer.

„Es ist natürlich dumm, aber es heißt doch, daß Zähne Glück bringen.“

„Glück!“ spottete Sascha. „Der Zahn hat dir wahrhaftig viel Gluck gebracht!“

Ljonka beschloß, den Zahn zu verkaufen. „Und was verkaufe ich?“ fragte Sascha.

Er knüpfte sein Bündel auf und holte das „Kapital“ von Marx heraus.

„Ob man dafür was bekommt?“ Ljonka sah auf den Titel. „Wahrscheinlich ebensoviel wie für meinen Zahn.“ Sascha blätterte in dem dicken Band. Dann schob er ihn in sein Bündel zurück.

„Nein!“ erklärte er. „Marx kaiin ich nicht verkaufen. Lieber verscheure ich meine Stiefel.“

Er trug neue englische Stiefel, die ihm sein Bruder mitgebracht hatte, als er ihn im Winter besuchte.

„Die verkaufe ich!“ Er zog die Stiefel aus und steckte sie in 'sein Bündel. „Los!“ sagte er dann. Die Jungen verließen den Park. Sascha war seit dem letzten Sommer nicht mehr barfuß gelaufen. Er trat jetzt ganz unsicher auf und fuhr bei jedem spitzen Stein hoch. Zuerst gingen sie in einen Juwelierladen. Der dicke jüdische Juwelier sah sich den Zahn gründlich an, zuerst mit bloßem Auge, dann mit der Lupe. Danach blickte er zu den Jungen auf.

„Wo habt ihr den her?“

„Gefunden“, antwortete Ljonka.

Der Juwelier überlegte einen Moment, warf den Zahn auf die Goldwaage, holte, ohne nach dem Preis zu fragen, fünf „Eier“ aus der Kasse und legte sie den Freunden hin. „Zuwenig“, sagte Ljonka. Der Juwelier griff nach dem Geldschein.