Изменить стиль страницы

„Sieg!“ schrie er. „In der ersten Halbzeit ist der Weltmeister geschlagen!“

Ljonka grinste über sein ganzes breites Gesicht und keuchte: „Das war unfair. Du hast mir die Gurgel zugedrückt, sonst…“ Sie hatten keine Lust mehr zum Stilliegen. Saschas Melancholie war wie fortgeblasen, und er tanzte auf dem baufälligen Dach einen Hopak.

Dabei stieß er an einen Stein. Er hob ihn auf, holte aus und warf ihn gen Himmel. Pfeifend beschrieb der spitze Stein einen Halbkreis, verschwand und fiel irgendwo auf einem fernen Hof zu Boden. „Ein sauberer Wurf!“ rief Ljonka und suchte auch nach einem Stein, um damit Ehre einzulegen. Aber auf dem Dache waren keine Steine mehr zu finden. Deshalb kletterte er durch das Dachfenster auf den Boden. Kurz darauf kam er zurück, die Hosentasche voll Ziegelbruch.

„Los!“ Ein dunkler Punkt sauste in den Himmel. Dann ein zweiter… „So macht es keinen Spaß“, meinte Sascha. „Wir müßten ein Ziel haben.“

Er hockte sich an den Dachrand und spähte in die Tiefe. Unten, in dem schmalen Durchgang zwischen zwei Mauern, sah er einen Müllhaufen. Parallel zum Seitenflügel lag das einstöckige Gebäude einer Wäscherei.

Die Sonnenstrahlen brachen sich an dem hohen First des Seitenflügels und vergoldeten die oberen Fensterrahmen.

Sascha hockte einen Augenblick wie verzaubert da, in den Anblick der funkelnden Fenster versunken. Dann streckte er die Hand aus, griff nach einem Stein und warf ihn, ohne sich von der Stelle zu rühren, in eine Fensterscheibe.

Klirrend zersplitterte das Glas und zerstiebte in tausend kleine Diamantenfunken.

Sascha hob den Kopf. Ljonka stand neben ihm und starrte unverwandt, wortlos, auf das klaffende Loch. Dann nahm er einen Stein, zielte und warf die restliche Scheibe im oberen Fensterrahmen ein. Damit amüsierten sie sich lange, sie rannten auf den Boden, um sich neue Steine zu holen, sie schmissen mit ganzen Ziegeln. Als sämtliche Scheiben der Wäscherei zertrümmert waren, sahen sich die Freunde an.

„Na?“ fragte Ljonka gelassen.

„Dussel!“ brummte Sascha und schaute nach unten. Die Sonne strahlte so fröhlich wie zuvor, immer noch duftete es nach Frühling, aber es war auf dem Dach irgendwie ungemütlich geworden. Beide hatten die Lust verloren, weiter auf dem warmen Blech zu liegen.

„Wir wollen abhauen“, meinte Sascha.

„Ich spuck drauf!“ brummte er. „Sie werden nicht erfahren, wer's war. Niemand hat uns gesehen.“

Sascha seufzte nur. Unbemerkt kamen sie auf den Hof. Die Jungen spielten immer noch. Der graue Ball prallte auf dem flachen Brett ab und sprang in die Luft. Elanljum saß auf ihrem Balken, hatte das Buch weggelegt und blickte verträumt zu einer Schäfchenwolke am blauen Himmel empor. Ljonka und Sascha gingen zu ihr hin und fragten, ob sie sich neben sie auf den nach Fichtenharz duftenden Holzhaufen setzen dürften. „Wo wart ihr?“ fragte sie mit durchbohrendem Blick. Ljonka sah Sascha an.

„In der Klasse, Ella Andrejewna“, antwortete er. „So? Und was habt ihr da gemacht?“

SCHKID. Die republik der strolche i_041.png

Damit amüsierten sie sich lange.

„Jelchowski mußte Staub wischen, weil er Dienst hat, und ich…“ Ljonka heuchelte Verlegenheit. „Und du?“

„Ich… Ella Andrejewna, ich arbeite gerade an einer Übersetzung von Heine.“

Elanljum sah ihn erstaunt an, dann lächelte sie.

„Wirklich? Du übersetzt Heine? Bravo! Kommst du denn damit zurecht?“

„Sehr gut sogar!“ schwindelte Ljonka weiter. „Ich hab' schon hundert-zwanzig Zeilen übersetzt.“

Er merkte, daß Sascha ihn ansah und ihm ein Zeichen mit den Augen machte, aber nun konnte er nicht mehr zurück.

„Ich interessiere mich überhaupt sehr für die deutsche Sprache“, fuhr er fort. „Wissen Sie, das ist 'ne richtige Manie — ich bin ein Germanophile.“

Elanljum strahlte über das ganze Westfalengesicht. „Ich übersetze auch Goethe, Ella Andrejewna.“ Das genügte Elanljum.

„Du solltest mir die Übersetzungen zeigen. Warum hast du das nicht schon längst getan?“

Das Feuer der Beredsamkeit verließ Ljonka urplötzlich. Er hob horchend den Kopf, stotterte: „Ich glaube, Japs ruft!“ und rannte vom Hof.

Sascha stürzte hinter ihm her.

„Weshalb hast du das über Heine und Goethe zusammengelogen?“ fragte er, als sie in der Schkid die Treppe hinaufgingen. „Wo willst du die Übersetzungen jetzt hernehmen?“

Ljonka wußte weder, warum er gelogen hatte, noch wo er die Übersetzungen herbekommen sollte.

„Ich sag' einfach, ich hätte sie verbrannt“, beruhigte er den Blutsbruder.

In der Klasse war niemand außer Japs und Falke. Sie waren gerade — naß und vergnügt — vom Baden in Katharinenhof zurückgekommen, saßen jetzt auf der Bank und plauderten.

Japs schnupfte nach seiner Gewohnheit auf und schwenkte die Arme.

„Du kennst die deutsche Sprache zuwenig, deshalb kannst du dir kein Urteil bilden!“ rief Japs.

„Ich wiederhole trotzdem: Heine ist unübersetzbar“, kreischte Kostja-Falke.

Sascha und Ljonka horchten auf. Hier sprach man also über Heine. „Soll ich dir beweisen wie man Heine so übersetzen kann, daß die Übersetzung nicht schlechter ist als das Original?“ beharrte Japs. Ljonka machte einen Satz auf ihn zu. „Ich nehm' dich beim Wort!“ schrie er. „Übersetz mal hundert Zeilen von Heine und ein paar Sachen von Goethe!“

Japs sah ihn erstaunt an und antwortete auf schnupfend: „Ich laß mich nicht provozieren.“

„Ach, bitte, lieber Japs!“ flehte der Fensterscheibenzertrümmerer. Dann erzählte er ihm, wie er Elanljum die Hucke vollgelogen hatte und wie wichtig es für ihn war, aus dieser unangenehmen Situation herauszukommen. Japs stieg das Blut ins Gesicht.

„Na schön“, meinte er, „das schaffen wir schon. Ich übersetze es dir. Das ist für mich 'ne Kleinigkeit.“

Wieder schien für Ljonka die Sonne, wieder hörte er den lustigen Straßenlärm und spürte den Frühling. Sascha blühte mit ihm auf. Später gingen sie mit Spatz und dem Nackten Herrn nach Katherinenhof, badeten, sahen beim Karussellfahren zu, drängten sich durch die fröhlich lärmenden Spaziergänger und kamen erst zum Abendessen in die Schule zurück.

Das Erlebnis auf dem Dach fiel ihnen erst beim Schlafengehen wieder ein. Während Ljonka die Stiefel aufschnürte, beugte er sich zu Sascha hinüber und flüsterte: „Und die Fensterscheiben?“

Sascha konnte nicht gleich antworten. Kostalmed, der diensthabende Prophet, donnerte mit seiner Löwenstimme durch den Schlafraum, daß alle hochschreckten: „Pantelejew, störe die Kameraden nicht beim Schlafen!“

Nachdem Kostalmed mit klapperndem Stöckchen in den anderen Schlafraum gegangen war, steckte Sascha den Kopf unter der Decke hervor und flüsterte: „Quatsch!“

Am nächsten Tage war anderes Wetter. Nachts hatte es ein Gewitter gegeben, der Morgen flimmerte in allen Regenbogenfarben, und blaß-graue Wolken verhüllten die Sonne. Dennoch spürte man, daß es Frühling war.

Sascha und Ljonka standen in glänzender Stimmung auf. Beim Frühstück setzte Japs den neben ihm sitzenden Ljonka in maßloses Erstaunen.

„Ich hab' hundertzwanzig Zeilen übersetzt!“ tuschelte er. „Wann?“ stieß Ljonka hervor. Er vergaß beinahe die nötige Vorsicht.

„Heute morgen“, antwortete Japs. „Ich bin um sieben aufgestanden und hab' mich gleich dran gemacht. Und zwei Gedichte von Goethe hab' ich ebenfalls übersetzt.“

Nach dem Frühstück übergab Japs tatsächlich Ljonka drei Bogen beschriebenes Papier, und Ljonka setzte sich auf der Stelle hin und schrieb die Übersetzung ab, damit die Handschrift nicht etwa Zweifel an der Identität seiner Arbeit aufkommen ließ. Er saß dabei am Fenster. Heine entzückte ihn und regte seine schöpferische Ader an. Er bekam Lust, selbst etwas zu verfassen. Nachdem er mit dem Abschreiben fertig war, blickte er auf die Straße hinunter. An der Ecke stand ein Milizionär mit einem Khakihelm und einem rotblonden Schnurrbart, lächelte in die Sonne und wischte sich die Regentropfen von seinem Gummicape. Die Spatzen tschilpten, und von den nassen Bürgersteigen stiegen dünne Nebelschwaden auf. Ljonka wollte dieses Bild so schön und lebenswahr wie nur möglich beschreiben. Und er tat es, so gut er konnte: