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„Was schweigst du? Ich habe dich gefragt, warum du in der Klasse verprügelt worden bist?“ Vikniksor sah dem Neuen noch aufmerksamer in die Augen. „Wegen der Plätzchen, ja?“

„Ja“, brummte Ljonka.

Vikniksor stieg das Blut ins Gesicht. Es sah aus, als würde er gleich losbrüllen und mit den Füßen stampfen. Doch er brüllte nicht. Er sagte nur ruhig, deutlich und ausdruckslos, als diktiere er: „Schuft! Bastard! Mißgeburt!“

„Warum beschimpfen Sie mich?“ brauste Ljonka auf. „Woher nehmen Sie das Recht dazu?“

Da sprang Vikniksor auf.

„Was?“ brüllte er, daß es durch die ganze Schule schallte. „Was hast du gesagt? Woher ich das Recht nehme? Du Banditenkerl!“

„Selber einer!“ stammelte Ljonka.

Vikniksor erstickte fast vor Wut. Er packte den Neuen am Kragen und zerrte ihn zur Tür.

Alles übrige spielte sich dann vor den Augen der verdutzten Schkider ab.

Ljonka saß nun schon den dritten Tag im Karzer, ohne zu wissen, daß sein Schicksal die ganze Schule in wilde Erregung versetzt hatte. In der vierten Abteilung wurden vom Morgen bis in die Nacht endlose Debatten geführt.

„Schließlich ist es eine Gemeinheit, Jungens!“ schimpfte Jankel wütend. „Der Bursche hat die Schuld auf sich genommen, er leidet ohne jeden Grund, und wir…“

„Es würde mich interessieren, was du vorschlägst?“ Japs grinste ' böse.

„Was ich vorschlage? Daß die ganze Klasse zu Vikniksor hingeht und ihm sagt, Pantelejew habe keine Schuld, sondern wir allein.“ „Ach nee! Da müßten wir schön dumm sein. Geh doch selbst, wenn du willst.“

„Na und? Was glaubst du denn sonst? Ich geh' auch hin.“

„Bitte! Hau doch ab!“

„Und dann erkläre ich, wer die ganze Sache angestiftet hat. Und wer die Jungens auf Ljonka hetzte…“

„Ach so? Du willst petzen?“

„Immer sachte, Leute!“ brummte Kaufmann. „Ich will euch mal was sagen. Natürlich wäre es dumm, wenn die ganze Klasse hinginge. Melden wir uns alle, dann kommen wir samt und sonders in die fünfte Gruppe.“

„Wir müßten es auslosen“, piepsjg Mamachen. Vielleicht ein Orakel befragen Japs kicherte. „Nein, Leute“, widersprach Kaufmann. „Wir brauchen weder zu losen noch das Orakel zu befragen. Ich glaube, man müßte es anders machen. Einer sollte hingehen und alle Schuld auf sich nehmen.“

„Und wer?“ forschte Japs. „Du.“

„Ich?“

„Ja! Du sollst hingehen.“ Das klang wie ein kategorischer Befehl. Japs erblaßte.

Wer weiß, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn die Jungen nicht plötzlich erfahren hätten, daß Pantelejew aus dem Karzer entlassen worden sei. Wenige Minuten später erschien er in der Klasse. Sein Gesicht, mit blauen Flecken und blutunterlaufenen Stellen verziert, war blasser als sonst. Grußlos ging er zu seiner Bank, setzte sich und packte seine Habseligkeiten. Gelassen holte er mehrere Bücher und Hefte, ein angerissenes Zigarettenpäckchen Marke „Smytschka“, einen gestrickten, gestopften Schal, eine Schachtel mit Federhaltern und Bleistiften und eine halbleere Tüte mit Zuckerstückchen aus dem Fach und legte alles auf die Bank. Dann band er es mit einem Bindfaden zusammen. Schweigend sah die Klasse seinen Manipulationen zu. Endlich brach Brotkanten die Stille. „Wo willst du hin, Pantelej?“

SCHKID. Die republik der strolche i_024.png

Na, Frieden?

Pantelejew antwortete nicht. Er schnaufte nur. Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Hast du die Sprache verloren? Willst du nicht mit uns reden, he?“

„Laß das, Ljonka, sei nicht mehr böse!“ Jankel ging zu dem Neuen hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. Aber Pantelejew schüttelte die Hand ab.

„Ihr könnt alle zum Teufel gehen!“ knurrte er, zog den Knoten auf seinem Paket fest und schob es in die Bank. Da trat Japs vor Pantelejews Bank.

„Weißt du, Ljonka, du… wirklich… du bist ein feiner Kerl“, stotterte er errötend und schnupfte auf. „Verzeih uns bitte. Das sage ich im Namen der ganzen Klasse. Stimmt's, Jungem?“ „Richtig!“ grölten die Jungen. Sie umdrängten Ljonkas Bank von allen Seiten. Das knochige Gesicht des Neuen rötete sich. Eine Art schwaches Lächeln erschien auf seinen ausgetrockneten Lippen. „Na, Frieden?“ fragte Zigeuner und hielt dem Neuen die Hand hin. „Zum Teufel mit euch! Frieden!“ brummte Ljonka. Lächelnd drückte er die dargebotene Hand.

Die Jungen hielten ihm nacheinander eifrig die Hand hin. „Leute, Leute! Die Hauptsache haben wir noch gar nicht erwähnt!“ rief Jankel. Er sprang auf die Bank und verkündete: „Pantelej, im Namen der ganze Klasse danke ich dir dafür, daß du, daß du… na, du weißt schon selbst.“

„Wofür?“ fragte Ljonka zurück. Sein erstauntes Gesicht verriet, daß er es durchaus nicht wußte.

„Dafür… dafür, daß du uns nicht verpfiffen hast, sondern die Schuld auf dich nahmst.“

„Was für eine Schuld?“ „Du hast Vikniksor doch gesagt, du hättest der Eule die Plätzchen geklaut? Spiel nicht den Bescheidenen. Das hast du doch gesagt?“

„Ich?“

„Nun ja! Wer denn sonst?“

„Ich habe überhaupt nicht dran gedacht.“

„Wieso nicht?“

„Ich bin doch kein Dummkopf!“

Wieder senkte sich Stille über die Klasse. Nur Mamachen kicherte erstickt.

„Erlaubt mal, was ist denn nun?“ Jankel wischte sich die schweißbedeckte Stirn. „Verdammt! Wir nahmen an, Vikniksor hätte dich wegen der Plätzchen in den Karzer gesteckt.“

„Hat er auch. Aber was habe ich damit zu tun?“

„Wieso hast du damit nichts zu tun?“

„Nee, gar nichts.“

„Puh!“ Jankel ärgerte sich allmählich. „Nun erkläre uns endlich, du Nervensäge, was los war.“

„Ganz einfach. Da gibt es nicht viel zu erklären. Er fragte: 'Weshalb wurdest du verprügelt? Wegen der Plätzchen?' Und ich antwortete: 'Ja, wegen der Plätzchen!'“

Pantelejew sah die Jungen an, und zum erstenmal erblickten die Schkider ein fröhliches, offenes Lächeln auf seinem knochigen Gesicht.

„Stimmt das etwa nicht?“ schmunzelte er. „Ihr habt mich doch wegen der Plätzchen verprügelt, ihr Teufel!“

Dröhnendes Gelächter der gesamten Klasse übertönte seine letzten Worte.

Der Friede war geschlossen. Und Pantelejew wurde endgültig als gleichberechtigtes Mitglied in die verschworene Schkid-Gemeinschaft aufgenommen.

Noch am gleichen Tage packte er sein Paket mit den Federhaltern, dem Schal und dem Fastenzucker wieder aus und legte den Inhalt an seinen Platz zurück. Und nach einiger Zeit dachte er überhaupt nicht mehr an Flucht. Die Jungen gewannen ihn lieb, und er fühlte sich ebenfalls zu vielen seiner neuen Kameraden hingezogen. Allmählich taute er auf und erzählte ihnen sein Leben. Besonders häufig erwähnte er dabei die Stadt Menselinsk. Er benutzte dieses Wort so oft, daß die Jungen ihn im Scherz den „Menselinsker“ nannten… Da trat ein Ereignis ein, das jeden Spott über den Neuen erstickte und ihn sogar in unerreichbare Höhen emporhob.

Etwa zwei Wochen vor seiner Aufnahme in die Schkid hatte Ljonka im Filmtheater „Empire“ an der Sadowajastraße einen amerikanischen Cowboyfilm gesehen. Im Vorprogramm waren Zauberkünstler und Jongleure aufgetreten, eine fischähnliche Sängerin in einem Schuppengewand hatte zwei Romanzen gesungen, zwei Mädchen hatten in Matrosenhosen den „Matelot“ getanzt, und am Schluß hatte ein Coupletsänger zu den Klängen eines kleinen Akkordeons „Knüttelverse über Tagesereignisse“ vorgetragen. Ljonka fand, er könne solche satirischen Verse mindestens ebensogut schreiben, und hatte deshalb, nach Hause zurückgekehrt, aus einem Heft ein Blatt Papier gerissen und hastig, um die Inspiration nicht zu verlieren, innerhalb von zehn Minuten sechs Vierzeiler skizziert. Darunter befand sich folgender:

Ist der Goldkurs hochgeschraubt
von der NÖP mit Mühe,
kostet, wenn man's auch kaum glaubt,
drei Rubel eine Rübe.