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Auch sie hatte viel durchmachen müssen. Als sie im Frühjahr 1919 von ihrer Dienstreise zurückkehrte, wurde ihr Zug von Banditen überfallen. Die Banditen beraubten den Zug, erschossen das gesamte Bahnpersonal, töteten, verwundeten oder verschleppten viele Fahrgäste. Der Mutter gelang es, sich zu retten. Als sie jedoch schließlich in dem Städtchen an der Kama eintraf, war Ljonka schon fort. Jahrelang hielten ihn seine Angehörigen für tot. Und nun war er zurückgekehrt. Damit schienen Ljonkas schlimme Abenteuer endgültig abgeschlossen zu sein. Er wollte unter seine dunkle Vergangenheit einen energischen Schlußstrich ziehen und suchte Arbeit. Aber es war damals nicht einfach, welche zu finden. Überall herrschte Arbeitslosigkeit. Und Ljonka besaß keinerlei Spezialausbildung. Er ließ aber den Mut nicht sinken, obgleich er, kein leichtes Leben hatte: Daheim konnten sie sich nur selten satt essen. Die Mutter schlug sich mit gelegentlichen Unterrichtsstunden durch, Ljonkas jüngerer Bruder arbeitete für einen Groschenverdienst bei einem privaten Bäcker als Gehilfe. Ljonka gelang es, für kurze Zeit Arbeit zu finden: Ein paar Wochen lang spielte er „Sowjetpferdchen“ in einer Limonadenfabrik, das heißt, er fuhr mit einem Handwagen Bier- und Limonadenkisten aus.

Es war eine langweilige, einförmige, unsäglich schwere Arbeit, aber sie machte Ljonka glücklich. Ungeduldig wartete er auf den ersten Lohn, damit er der Mutter das erste ehrlich verdiente Geld bringen könnte. Aber zu einer Lohnzahlung kam es nicht. Eines Tages machte Ljonka mit seinem Begleiter die gewohnte Fahrt durch die Stadt. In der Gorstkiner Straße schleppte der Begleiter — ein alter Mann — eine Bierkiste in den ersten Stock einer Kneipe, während Ljonka mit dem Karren vor der Tür wartete. Er träumte vor sich hin, die ermüdeten Hände vermochten den schweren Karren nicht mehr im Gleichgewicht zu halten und ließen die Deichsel los. Dadurch rutschten die aufgetürmten Kisten vom Karren und krachten scheppernd auf das Straßenpflaster. Fast alle Flaschen waren entzwei. Ljonka wußte, daß ihm der deutsche Besitzer der Fabrik dafür das Fell über die Ohren ziehen würde. In seiner Angst ließ er den Karren stehen und nahm Reißaus. Am gleichen Tage begegnete er auf dem Markt einem Jungen namens Wolkow, den er von früher kannte. Sie hatten dieselbe Realschule besucht und sich ein wenig angefreundet. Damals war Wolkow ein hübscher, wohlerzogener Junge aus einer Äristokratenfamilie gewesen. Jetzt hatte er sich in einen waschechten geriebenen Taschendieb verwandelt. Er schlug Ljonka vor, mit ihm auf Halbpart zu „arbeiten“. Nach einiger Überlegung schickte Ljonka ihn zum Teufel. Er wußte nicht, daß es ihm beschieden war, den Burschen schon nach kurzer Zeit wieder zu treffen. In die Fabrik kehrte Ljonka nicht mehr zurück. Er gab seine Sehnsucht nach Arbeit auf und besuchte von nun an die Schule. Doch auch hier hatte er Pech — er mußte die Schule bald wieder verlassen. Es war ein ehemaliges privates Gymnasium, in dem sich die Bräuche der Zarenzeit erhalten hatten. Die Schüler bestanden größtenteils aus Bürgersöhnen und — töchtern. Sie bekamen irgendwie heraus, daß Ljonka früher gestohlen hatte und in Besserungsanstalten gewesen war. Sie schikanierten ihn. Und er mußte sein Recht auf das Studium mit den Fäusten verteidigen.

Nach einer Prügelei stellte die Direktorin, der Ljonka sowieso ein Dorn im Auge war, den Antrag, ihn auszuschließen. Am gleichen Tage traf ihn ein neues Mißgeschick: Krause, der deutsche Besitzer der Limonadenfabrik, machte ihn ausfindig. Ljonka hatte der Mutter verheimlicht, daß er aus der Fabrik weggelaufen war. Er hatte ihr weisgemacht, er habe die Fabrik nur verlassen, um wieder zur Schule zu gehen. Jetzt kam seine Lüge ans Tageslicht.

Aber die Mutter verzieh ihm, ja, sie half ihm sogar aus der Patsche. Mit großer Mühe trieb sie Geld auf und schickte Ljonka in die Fabrik mit dem Auftrag, dem Deutschen die Schulden zu bezahlen. Ljonka schämte sich, das Geld anzunehmen; er wußte, daß die Mutter Monate brauchen würde, um es abzuarbeiten, doch es gab keinen anderen Ausweg.

Auf dem Wege zur Fabrik kam er über den Trödelmarkt und ließ sich dort mit Falschspielern ein, in der Hoffnung, er könne der Mutter das Geld von dem Gewinn zurückzahlen. Aber schon nach zwanzig Minuten hatten ihm die Falschspieler fast sein gesamtes Geld — siebenhundert Millionen Rubel — abgegaunert.

Vor Verzweiflung wollte Ljonka in der Fontanka Selbstmord begehen. Vorher setzte er sich noch einmal in eine kleine Teestube an der Mutschnygasse, um sich für die letzten ihm verbliebenen „Eier“ richtig satt zu essen. Hier traf er seinen alten Freund Wolkow. Es war eine schicksalhafte Begegnung. Bereits am nächsten Tage war er in der Lage, seinem ehemaligen Chef die zerschlagenen Flaschen zu bezahlen. Der Mutler gab er das Geld zurück, raudite von nun an teure Zephirzigaretten, ging häufig ins Kino, staffierte sich neu aus und kaufte bei den Antiquitätenhändlern einen ganzen Berg von Büchern. Nach einem Monat stand er im Aufnahmeraum der Kriminalpolizei, und wieder einmal wurden ihm die Fingerabdrücke abgenommen. Zwei Wochen später marschierte er an einem Wintermorgen zur DostojewskiSchule, eine Einweisung der Gouvernementskommission für minderjährige Verbrecher in der Hand. Er ging freiwillig hin, weil er der Mutter keinen Kummer machen wollte. Aber im Grunde seines Herzens war er überzeugt, daß er höchstens zwei bis drei Wochen in der Schule bleiben würde. Er wußte genau, daß er hier ebenso Reißaus nehmen würde, wie er es bisher bei allen derartigen Instituten getan hatte.

Ljonka war niemals besonders gesprächig gewesen. Er mußte schon sehr eng mit jemandem befreundet sein, ehe sich ihm die Zunge löste. Hier, in der Schkid, freundete er sich gar nicht erst mit jemandem an. Er lebte vor sich hin, nur mit dem Gedanken beschäftigt, wie und wann er türmen könnte.

Die Schkid kam ihm allerdings anders vor als die übrigen Kinderheime und Kolonien, die er bisher erlebt hatte. Hier waren die Jungen belesener, und vor allem — sie traten den Neuen freundlich gegenüber. Niemand verprügelte oder verfolgte ihn, obgleich Ljonka, durch bittere Erfahrungen belehrt, darauf gefaßt war, jedem, der ihm zu nahe treten wollte, eine Abfuhr zu erteilen.

Aber einstweilen wurde er in Ruhe gelassen, ja, es kümmerte sich überhaupt niemand um ihn, bis die Sache mit der Eule kam. Das war ein Ereignis, das die ganze Schule von ihm reden ließ, das ihn für eine gewisse Zeit zur auffälligsten Figur in der Schkider Republik machte. Ljonka war nicht gerade aus einem Pensionat für adlige Jungfrauen in die Schkid gekommen. Bei dem Wort „Diebstahl“ errötete er schon längst nicht mehr. Wenn es sich um etwas anderes gehandelt hätte, wenn die Jungen einen Einbruch in die Vorratskammer oder einen noch schwerwiegenderen Streich vorgehabt hätten, würde er vielleicht aus Kameradschaft mitgemacht haben. Aber es widerstrebte ihm, zu sehen, daß die Jungen über eine blinde alte Frau herfielen. Solche Dinge hatte er schon früher verachtet. Er ekelte sich zum Beispiel davor, in fremder Leute Taschen zu greifen. Deshalb hatte er auf die Taschendiebe immer nur hochmütig herabgesehen. Er fand einen Kofferraub oder einen Ladeneinbruch anständiger und weniger kleinlich als den Taschendiebstahl.

Als die Jungen über Ljonka herfielen und ihn verprügelten, wunderte er sich nicht allzusehr. Er wußte genau, daß der Heilige Geist zu den Kinderheimgebräuchen gehörte. Früher hatte er selbst wiederholt daran teilgenommen. Er wehrte sich nicht einmal sehr gegen die Schläge. Er versuchte nur, sein Gesicht und die anderen verwundbaren Körperstellen möglichst zu schützen. Als aber Vikniksor in die Klasse kam und ihn drohend anbrüllte, anstatt ihn zu verteidigen, wurde er wütend. Trotzdem folgte er dem Direktor gehorsam in sein Arbeitszimmer.

Vikniksor schloß die Tür hinter sich und betrachtete den Neuen, der noch immer aufschnupfte und sich mit dem Ärmel das blutbeschmierte Gesicht wischte. Der Direktor war ein passionierter Sherlock Holmes. Er beschloß deshalb, den Zögling zu überrumpeln. „Weshalb haben dich die Kameraden verprügelt?“ forschte er mit bohrenden Blicken. Ljonka antwortete nicht.