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Mehrere stürzten sich auf den Neuen, einer schlug ihm die Füße weg, er fiel zu Boden. Zigeuner und Kaufmann hielten ihm die Hände fest, und Japs stopfte ihm keuchend das schmutzige, fette Plätzchen in den Mund. Der Neue riß sich los und schlug Japs mit dem Kopf gegen das Kinn.

„Ach, prügeln willst du dich?“ brüllte Japs.

„So ein Schuft!“

„Du brauchst wohl Keile, he?“

„Gebt ihm den Heiligen Geist!“

„Los!“

Pantelejew wurde in einen Winkel der Klasse gezerrt und bekam einen Mantel über den Kopf geworfen. Dann ging das elektrische Licht aus, und in der nun eingetretenen Stille prasselten dem widerspenstigen Neuen die Schläge auf den Kopf.

Niemand merkte, daß sich die Tür öffnete. Grell flammte das Licht auf. Mit blitzendem Zwicker stand Vikniksor auf der Schwelle und sah die Jungen drohend an.

„Was geht hier vor?“ Sein Bariton klang laut, aber unheilverkündend ruhig.

Die Jungen waren rechtzeitig auseinandergeflitzt. Nur Pantelejew saß noch vor der Tafel auf dem Fußboden und wischte sich die Stupsnase, aus der das Blut rieselte. Es vermischte sich mit den Tränen und den Krümeln des verhängnisvollen Plätzchens, die ihm am Kinn klebten.

„Ich frage, was hier vorgeht?“ wiederholte Vikniksor noch lauter. Wortlos standen die Jungen auf ihren Plätzen. Vikniksors Blick fiel auf Pantelejew, der sich erhoben hatte, ihm den Rücken kehrte, seine Jacke glattzog und sich Tränen und Krümel vom Mund leckte. Vikniksor musterte ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Er schien etwas zu begreifen, denn er lächelte verächtlich. „Na, komm mal mit!“ befahl er dem Neuen.

Pantelejew hörte das nicht, wandte aber den Kopf und sah den Direktor an.

„Du! Du sollst mitkommen, sage ich.“

„Wohin?“

Vikniksor wies mit dem Kopf auf die Tür und ging hinaus. Pantelejew folgte. Er zog sich dabei noch einmal die Jacke zurecht, sah aber die Jungen nicht an. Sie warteten einen Augenblick, warfen sich einen Blick zu und stürzten in wortlosem Einverständnis hinterher. Durch die halboffene Tür des Weißen Saales sahen sie, daß Vikniksor die Tür zu seiner Wohnung öffnete, den Neuen eintreten ließ und die hohe weiße Tür wieder zuschlug. Die Jungen blickten sich noch einmal an. „Jetzt petzt er — Tatsache!“ seufzte Spatz.

„Klar!“ pflichtete ihm Brotkanten finster bei. Er litt sowieso unter dem Verlust seines letzten Plätzchens.

„Na, wenn schon. Er ist sogar im Recht, wenn er petzt“, meinte Jankel. Er war der einzige, der nicht mitgemacht hatte, als der Neue den Heiligen Geist bekam.

Aber unabhängig davon, wie jeder die moralische Standfestigkeit des Neuen einschätzte, war allen trübe und schauderhaft zumute. Plötzlich passierte etwas vollkommen Unbegreifliches. Die hohe weiße Tür flog krachend auf, und den Augen der verdatterten Schkider bot sich ein Schauspiel, das sie niemals erwartet hätten: Vikniksor zerrte den blassen, blutbeschmierten Pantelejew am Schlafittchen heraus, schleifte ihn durch den ganzen großen Saal und brüllte, daß es durch die Schule schallte: „He! Aufseher, Diensthabender! Holt den diensthabenden Erzieher her!“

Aus dem Lehrerzimmer lief bereits der verschlafene, verschreckte Reibeisen herbei.

„Was ist, Viktor Nikolajewitsch?“

„In den Karzer!“ krächzte Vikniksor keuchend und wies auf Pantelejew. „Sofort! Für drei Tage!“

Aufgeregt rannte Reibeisen davon, um die Schlüssel zu holen, und fünf Minuten später saß der Neue bereits in dem engen Karzer — dem einzigen Raum der Schule, der ein mit dicken Eisenstäben vergittertes Fenster hatte.

Die Schkider waren starr und stumm vor Staunen. Doch noch verblüffender fanden sie Vikniksors Rede, die er ihnen nach dem Abendessen hielt. „Jungen!“ begann er beim Eintreten und machte einige lange, abgehackte Schritte quer durch den Raum — das pflegte bekanntlich die innere Erregung des Schkider Präsidenten zu verraten —, „Jungen, heute wurde in unserer Schule eine empörende Gemeinheit verübt. Ich sage euch ganz offen, daß ich diese Angelegenheit mit Schweigen übergehen wollte, weil sie mich persönlich und einen mir nahestehenden Menschen betrifft. Doch danach passierte etwas anderes, nicht weniger Abscheuliches. Ihr wißt, wovon und von wem ich rede. Einer von euch — seinen Namen nenne ich nicht, er ist euch allen bekannt — hat ein widerwärtiges Verbrechen begangen. Er kränkte einen alten, hilflosen Menschen. Ich wiederhole, daß ich eigentlich nicht mehr näher darauf eingehen wollte. Doch danach wurde ich Zeuge einer noch verabscheuungswürdigeren Tat. Ich sah, daß ihr euren Kameraden verprügeltet. Ich begreife euch, Jungens, ich teile sogar in gewissem Maße eure Empörung, aber- man muß doch maßhalten können. Wie schändlich Pantelejew auch gehandelt haben mag, es ist eurer unwürdig, euer Mißfallen mit so wilden barbarischen Mitteln auszudrücken, ein Lynchgericht zu veranstalten, sich also genauso zu benehmen wie die Nachfahren der amerikanischen Sklavenhalter. Denn ihr seid Sowjetmenschen und außerdem schon beinahe erwachsen…“ Vikniksor frönte noch lange seiner Lieblingsbetätigung — dem Reden. Er verbreitete sich darüber, daß man gerecht sein müsse. Pantelejew habe eine dunkle Vergangenheit hinter sich. Er sei von der Straße verdorben, habe in Gefängnissen und Resserungsanstalten gesessen und sich in schlechter Gesellschaft — unter Dieben und Banditen — befunden. Das alles müsse man berücksichtigen, bevor man sozusagen das Urteil fälle. Außerdem sei er vielleicht hungrig gewesen, als er die niedrige, unwürdige Tat beging. Kurz, man müsse ihn nachsichtig behandeln und nicht den ersten Stein auf ihn werfen, ohne die Motive seines Verbrechens genau zu kennen. Und die Jungen sollten sich zu gegenseitigem Verständnis und zu Standhaftigkeit erziehen… Lange redete Vikniksor, aber die Schkider hörten nicht mehr zu. Unmittelbar nach dem Abendessen versammelten sich die Großen in der vierten Abteilung. Sie waren aufgeregt, ja kopflos.

„Trotzdem ist er eine Nonne in Hosen!“ rief Zigeuner, kaum daß er die Schwelle überschritten hatte. „Hm ja“, brummte Jankel vielsagend.

„Was ist denn nun, Leute?“ forschte Kaufmann. „Er hat uns also nicht verpfiffen?“

„Nee, hat er nicht — Tatsache!“ bestätigte Spatz.

„Setzen wir einmal voraus, daß es keine Tatsache, sondern eine Hypothese ist“, erklärte Japs gewichtig. „In diesem Fall möchte ich wissen, wieso Vikniksor ihn in dieser Situation noch verteidigt!“

„Halt lieber die Klappe, Japs“, sagte Jankel ernsthaft. „Du hast auf keinen Fall das Recht, deinen Senf dazuzugeben.“ Japs errötete, brummte etwas Giftiges vor sich hin, hielt aber trotzdem den Mund.

Vor dem Einschlafen schlichen mehrere Mann zum Karzer. Das gelbliche Licht einer fünfkerzigen Glühbirne fiel aus dem Schlüsselloch. „Pantelei, schläfst du schon?“ fragte Jankel halblaut. Drinnen knarrte die Eisenpritsche, aber es erfolgte keine Antwort. „Pantelej, Ljonka!“ flüsterte Zigeuner durch das Schlüsselloch. „Sei nicht mehr böse darüber, ja? Weißt du, entschuldige uns. Wir haben einen Fehler gemacht, weißt du.“ „Gut… geht zum Teufel“, sagte drinnen Ljonka mit dumpfer Stimme. „Laßt mich schlafen.“

„Pantelei, hast du vielleicht Hunger?“ fragte Brotkanten. „Nein“, klang es energisch zurück. Zögernd verzogen sich die Jungen.

Später sammelten sie trotzdem unter sich und brachten dem stolzen Gefangenen mehrere Kanten Brot und ein Stück Zucker. Weil diesmal undurchdringliches Schweigen im Karzer herrschte, schoben sie die bescheidene Gabe unter der Tür hindurch. Auch danach knarrte die Eisenpritsche nicht.

Vikniksor hatte die Wahrheit gesprochen: Der Neue übernachtete nicht zum erstenmal in einem vergitterten Raum. Dieser äußerlich stille, schüchterne, wortkarge Bursche war, wie man so sagt, durch Feuer und Wasser gegangen.

Ljonka hatte in einer Familie, die man nicht als arm bezeichnen kann, das Licht der Welt erblickt. In dem Geburtsschein, den der neugebak-kene Schkider zusammen mit der Einweisung Vikniksor vorgelegt hatte, stand, daß sein Vater „Reserveleutnant mit persönlich verliehenem Adel“ und seine Mutler „die Tochter eines Kaufmanns der ersten Innung“ seien. Übrigens war der Vater schon seit vielen Jahren tot, und seine Gesichtszüge wären wahrscheinlich längst aus Ljonkas Gedächtnis entschwunden, hätte eine alte Zeitschrift nicht sein Foto enthalten. Diese vergilbte Zeitschrift wurde mit einigen anderen Dingen, die von der alten Zeit übriggeblieben waren, in der Familie sorgsam aufbewahrt. Das Foto zeigte einen jungen Kosakenoffizier; er trug eine schneeweiße Uniformjacke mit Schulterstücken und sah stolz und fröhlich in die Welt. Darunter stand eine Notiz, deren Überschrift lautete: „Heldentat eines Leutnants aus dem Fünften Sibirischen Kosakenregiment.“ In der Notiz wurde berichtet, daß der Leutnant I. A. Pantelejew in einen japanischen Hinterhalt geriet, als er mit einer Geheimmeldung zum russischen Kommandostab unterwegs war. Bei dem folgenden Schußwechsel wurde der Leutnant durch einen Streifschuß verwundet. Er wehrte jedoch den Feind ab und brachte die Meldung trotz seiner Verwundung zum Kommandostab. Für diese Heldentat wurde Ljonkas Vater geadelt und bekam einen Orden. Ljonka konnte sich nur noch undeutlich an den Vater erinnern, aber aus den Erzählungen seiner Angehörigen wußte er, daß es ein ehrenhafter, aufrechter, unbestechlicher Mann gewesen war. Nach dem Russisch-Japanischen Kriege hatte ihm eine glänzende Karriere — Orden, Rangerhöhungen, Reichtum — bevorgestanden. Doch der Vater hatte allem entsagt und war ins Zivilleben zurückgekehrt. Er mußte den gleichen Beruf ergreifen, den sein Vater und sein Großvater ausgeübt hatten: er handelte mit Bau- und Brennholz. Diese Beschäftigung paßte ihm gar nicht, aber er sah keinen Ausweg. Deshalb begann er zu trinken. Und er trank so lange und soviel, bis er ein Trunkenbold wurde und seine Familie verließ. Später starb er in der Fremde, fern von Frau und Kindern.