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»Casaflora bewacht die Mariposa noch nach seinem Tod?«, murmelte José. »Abuelita, du hast sie nicht mehr alle. Und jetzt verschwinde aus meinen Gedanken und lass mich schlafen, ja?«

»José?«, fragte Jonathan. »Schläfst du? Du kannst jetzt nicht schlafen! Ich weiß nicht, wie … José?« José rührte sich nicht. Sicher, er brauchte Ruhe. Aber Jonathan brauchte ihn. Er betrachtete die schlafende Gestalt eine Weile, betrachtete das schwarze Haar, das seitlich von Blut verklebt war. Es war nur eine Platzwunde und darunter begann sich eine ansehnliche Beule zu bilden. Würde ein Streifschuss eine solche Wunde verursachen? Eigentlich nicht, dachte Jonathan. Jemand hatte José einen schweren, stumpfen Gegenstand über den Kopf gezogen. Etwas wie den Fuß einer Stehlampe.

Aber er hatte jetzt über Wichtigeres nachzudenken. Wie sollte er allein ein Schiff durch die Unendlichkeit des Pazifiks steuern?

Natürlich war er nicht allein. Neben ihm auf der seitlichen Bank saßen Oskar und der Flamingo, und Carmen war damit beschäftigt, ein Tau anzunagen. Jonathan hoffte, dass es kein wichtiges Tau war.

»Hör mal, Flamingo«, sagte Jonathan, »ich werde dich Eduardo nennen. Ist dir das recht?«

Der Flamingo antwortete nicht. Auch unter dem Namen Eduardo war er keine große Hilfe beim Steuern eines Schiffs. Wenn nur der Wind nicht zunahm! Solange alles so blieb, wie es war, genügte es, das Steuer festzuhalten und darauf zu achten, dass der verwirrend bewegliche Kompass in der gleichen Stellung blieb. Bei der kleinsten Bewegung der Mariposa schwappte er in seinem Glasgehäuse umher wie ein eigenes Meer und Jonathan wurde ganz übel vom Hinsehen. Und er fror. Plötzlich merkte er, wiesehr er fror.

Der Tag sank schon auf den Horizont zu. Sie hatten beide gehofft, dass die Sonne ihre nassen Kleider bis zum Abend trocknen würde, doch sie hatte es nicht ganz geschafft. Und jetzt kam die Nacht, die lange, kalte, windige Nacht, in der es keine Positionslichter geben würde, schon deshalb nicht, weil Jonathan nicht wusste, wie man sie anzündete.

Und auch José schlief in seinen feuchten Sachen.

Er besaß eine zweite Garnitur Kleidung im Rucksack. Und da waren die alten Kleider unter Deck, von denen er Oskars Verband abgerissen hatte. Jonathan hakte das Steuerruder fest. »Tu es nur, wenn es nicht anders geht«, hatte José gesagt. »Nur, wenn der Wind es erlaubt. Und nur ganz kurz, hörst du?«

Er beeilte sich, in die Kajüte hinabzukommen, und öffnete Josés Rucksack. Diesmal spürten seine Hände auf dem Boden des Rucksacks Papier. Die Karte. Nein, er hatte jetzt keine Zeit, sie sich anzusehen. Die Kleider, die er in den Händen hielt, waren steif vom Salzwasser. In diesen Sachen war er über Bord gesprungen. Wie lange das her zu sein schien!

Er fragte sich, ob er es noch einmal tun würde. Er würde José bis zur Isla Maldita begleiten, so viel war klar … aber was war dann? Würde er dann ins Meer zurückkehren, in den Tod, zurück zu seiner Familie? Er war sich nicht mehr sicher.

Er kletterte wieder an Deck, kontrollierte den Kurs und kam sich beinahe schon vor, als könnte er tatsächlich segeln. Oskar, Eduardo und Carmen beobachteten ihn, während er José mühsam seinen nassen Kleidern entwand.

Einen Moment lang betrachtete er den Körper vor sich. Von Nordwesten zogen Wolken herauf wie in den Nächten zuvor, doch noch schien der Mond. Auf Josés Oberkörper prangten mehrere dunkle Blutergüsse. Was war auf Santiago geschehen? Wer hatte ihn – und womit – verprügelt? Wie still er dalag! Jonathan legte eine Hand auf seine Brust, spürte Josés Herzschlag und atmete auf. Eine Weile ließ er die Hand dort liegen. Es tat gut, das Leben zu fühlen, das warme Leben eines anderen Menschen in der weiten, stillen Nacht. Beinahe fror Jonathan nicht mehr. Aber auf Josés Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet und er zitterte im Schlaf. Jonathan beeilte sich, ihm die trockenen Kleider überzuziehen. Dann schleifte er ihn die Stufen hinunter, bettete ihn auf eine der Bänke und breitete die Wolldecke über ihn. Es war ein Wunder, dass er von all dem Geziehe und Gezerre nicht aufwachte.

Jonathan hängte Josés nasse Kleider über den Tisch und beschwerte sie zur Sicherheit mit dem schläfrigen Oskar. Der Flamingo Eduardo leistete ihm bereitwillig Gesellschaft und Carmen kringelte sich zum Schlafen in Josés Armbeuge zusammen. Jonathan kehrte allein zurück an Deck, unter dem Arm das Bündel alter Kleider. Sie rochen nach Fäulnis und Tabak.

»Die Kleider eines Toten«, flüsterte er.

Aber es waren trockene Kleider. Der Saum des Hemds fehlte, er hatte sich in Oskars Verband verwandelt. Jonathan schlug die Ärmel und die Hosenbeine mehrfach um und fand einen Strick, den er als Gürtel benutzte.

Als er das Steuer wieder losmachte und sich umsah, sah er hinter der Mariposa plötzlich ein anderes Schiff. Es war weit weg, zu weit, um Genaues erkennen zu können. Aber es kam Jonathan vor, als wäre dies ein kleineres Schiff, kleiner als die Roosevelt. Das Mondlicht wich, der Himmel verdunkelte sich und er fand das Schiff nicht wieder. Hatte er sich getäuscht? War es am Ende gar kein Schiff gewesen, sondern nur die weiße Gischt auf den Wellen? Die weiße Gischt, dachte Jonathan. Überall war jetzt weiße Gischt.

Der Wind hatte zugenommen. Die Wolken bedeckten den Himmel als dichte Wand. Sekunden später fielen erste Regentropfen. Die Mariposa legte sich schräg und Jonathan vergaß jeden Gedanken an das andere Schiff.

»José!«, rief er. »José, wach auf! Was soll ich tun? Was…?«

Das Prasseln des Regens verschluckte seine Worte beinahe. Und natürlich hörte José ihn nicht, von dort, wo er unter Deck schlief. Niemand hörte ihn. Niemand. Er war vollkommen allein.

Die Wellen, die die Mariposa durchkämmte, spuckten salzige Fontänen, und die Leereling an der windabgewandten Seite tauchte ins Wasser ein – es schwappte an Bord und leckte an Jonathans Füßen. Er kletterte auf die Luvreling. Die Segel der Mariposa waren straff und windgefüllt wie nie zuvor. Sie schoss nur so dahin – aber schoss sie noch in die richtige Richtung? Jonathan konnte den Kompass nicht mehr sehen. Das Regenwasser lief ihm in die Augen. Er klammerte sich am Steuer fest. Was tat man, wenn der Wind zu stark wurde? Hatte José etwas darüber gesagt? Er musste etwas tun. Er konnte nicht segeln. Er konnte ein Steuer halten, aber er konnte verdammt noch mal nicht segeln! Panik stieg in ihm auf, machte seine Kehle eng und ließ in seinem Kopf einen hohen Ton entstehen wie das Heulen einer sich nähernden Rakete.

Und dann wusste er es.

Er konnte nicht segeln. Er würde nicht segeln.

Die Mariposa hatte einen Motor. Er hatte ihn gesehen, er wusste, wo der Anlasser war … Es wäre ganz einfach. Aber zuerst musste er die Segel herunterbekommen, und das war nicht einfach. Er stellte das Steuer fest, obwohl er wusste, dass es der Wind diesmal nicht zuließ. Welches war das Großfall, das er lösen musste, damit das Großsegel herunterkam? Er probierte verschiedene Taue durch – und schließlich fand er das richtige. Die Spitze des Segels löste sich und rutschte ein Stück den Mast hinunter. Doch das Segel lief in einer Nut im Mast, und darin klemmte es fest, es würde nicht von selbst herunterkommen. So kletterte er auf der windzugewandten, erhobenen Luvseite die Reling entlang, über die Kajüte nach vorn, mitten im peitschenden Regen. Das Schiff lag so schräg, dass er sich mit den Füßen auf der seitlichen Kajütenwand abstützen konnte. Dann war er beim Mast, griff mit beiden Händen ins Segel und zog. Es ließ sich kaum bewegen. Der Wind straffte es noch immer, die Mariposa schoss noch immer durch die Wellen dahin … Jonathan kämpfte mit seinem Gleichgewicht – er würde es nicht schaffen. Er konntees nicht schaffen. Tränen der Wut und der Angst vermischten sich auf seinem Gesicht mit dem Regen.

Und dann rutschten seine bloßen Füße auf dem glatten Deck ab. Er verlor den Halt, schlug der Länge nach hin, schlitterte zur Leeseite hinunter und hing mit beiden Händen am Mast, die Arme gestreckt, die Füße bereits unten im Wasser, während die Mariposa ihre wilde, wahnsinnige Fahrt fortsetzte, herrenlos – ein Totenschiff, ein Todesschiff.