»Ja, Wasser.« In José stieg der Ärger auf. »Dieses nasse Zeug, das von oben kommt. Man braucht es zum Überleben. Wir haben ein paar leere Kanister unter Deck. Wenn es regnet, muss man sie füllen. Wer weiß, wann es wieder regnet! Und was macht der Flamingo hier auf der Treppe? Er ist im Weg.«
»Eduardo«, verbesserte Jonathan ihn. »Er heißt Eduardo.«
José drängte sich an Eduardo vorbei und ließ sich auf die Bank gegenüber von Jonathan fallen. Er nahm ihm das Steuer ab und sah auf den Kompass. Der Kurs stimmte nicht mehr ganz. Er korrigierte ihn schweigend.
»José«, sagte Jonathan.
José sah auf. Jonathan griff über Bord, tauchte eine Hand ins Wasser und fuhr sich damit durchs Gesicht.
»Weißt du«, fragte Jonathan, »was ich in der letzten Nacht alles getan habe?«
Erst da merkte José, wie müde Jonathan aussah. Er konnte die Augen kaum offen halten. Zwei breite Schrammen liefen über seine linke Wange, und er steckte in viel zu großen Kleidern, die José noch nie gesehen hatte. Sie machten ihn schmächtiger. Er trug die alte karierte Schiebermütze wieder, die seinem Vater gehört hatte. Und mit einer Hand hielt er einen braunen Stofffetzen umklammert. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest war sein Griff um das Stück Stoff, und seine Hand zitterte. José legte eine Hand auf Jonathans Arm, und plötzlich tat es ihm leid, dass er ärgerlich gewesen war. »Was ist passiert?«
»Alles«, sagte Jonathan. »Du hast sehr, sehr fest geschlafen.«
Während José auf dem Gaskocher Kaffee kochte, hörte er Jonathan zu. Und schließlich bekam er eine Reihenfolge in die Ereignisse. Er blies in seine Blechtasse und betrachtete nachdenklich die Wellen im Kaffee. Die Mariposa fuhr wieder unter Segel, wenngleich mit verringerter Segelfläche. Es war sehr still ohne das Motorengeräusch.
»Am merkwürdigsten ist die Sache mit dem Anlasser«, sagte er. »Dass sich die Mariposa von selbst in den Wind gestellt hat, kann ich mir vorstellen. Aber dass du den Motor angeworfen hast, ohne es zu merken – die Abuelita hätte ihren Spaß gehabt letzte Nacht.«
»Wer?«, fragte Jonathan.
»Meine Urgroßmutter. – Eduardo, das ist Kaffee. Den kann man zwar filtern, aber nicht, wenn man ein Flamingo ist. Nimm deinen Schnabel aus meiner Tasse. – Die Abuelita ist ziemlich alt und erzählt gern Gruselgeschichten. Mit Vorliebe über Geister von Toten.«
José setzte Eduardo auf den Boden, damit er die Krabbensuppe aus der dort befindlichen Schale zum Frühstück filtern konnte. Oskar fischte die Stückchen heraus. Zum Glück hatte Juan Casaflora vor seinem Tod einen ausreichenden Vorrat an Krabbensuppe angelegt. Hatte er damit gerechnet, einen Flamingo auf der Mariposa zu beherbergen? Immerhin war er Forscher gewesen. Angeblich, hatte der Ami auf Baltra gesagt. Aber wenn er kein Forscher gewesen war, was dann?
Der Wind hatte seit der Nacht nachgelassen, doch er schob sie noch immer stetig über das Wasser voran. Das Boot, das am Horizont geklebt hatte, war nicht mehr zu sehen.
»Glaubst du an das, was deine Großmutter erzählt?«, fragte Jonathan. »An die Geister?«
»Natürlich nicht«, sagte José. »Sie erzählt trotzdem. Du wirst jetzt sagen, ich bin verrückt, aber … sie redet manchmal in meinen Gedanken.«
»Du bist verrückt«, sagte Jonathan und grinste.
José seufzte. »Sie weigert sich, mich in Ruhe zu lassen, die störrische Alte. Ihr Vater war der, der vor uns zur Isla Maldita gefahren ist.«
»Vielleicht spricht sie deshalb mit dir. Sie hat Angst, dass du auch verschwindest.«
José schüttelte sich. »Ich verschwinde nicht. Keiner verschwindet. Stattdessen tauchen Dinge auf. Teddybären fallen vom Himmel. Oder wie war das?«
Jonathan nickte. Er hatte den Bären die ganze Zeit über festgehalten und nun streckte José zögernd seine Hand nach ihm aus. Das braune Fell, über das er fuhr, war fadenscheinig und abgegriffen. Doch in den schwarzen Knopfaugen des Bären schien ein Geheimnis zu glänzen. Er wusste mehr, als er verriet.
»Meinst du, die Möwe hat ihn den ganzen Weg von der Isabelita hierhergebracht?«
Jonathan schüttelte den Kopf. »Da war dieses Boot. Wir sehen es jetzt nicht mehr, aber ich könnte wetten, es folgt uns. Die Möwen kamen aus dieser Richtung. Es ist das Boot, von dem Julias Bär stammt. Die Möwe hat ihn dort aufgesammelt und für etwas Essbares gehalten.«
»Hm«, machte José. Konnte es sein, dass Jonathan Dinge sah, die es nicht gab? Bilder, aus Angst und Müdigkeit entstanden? Tote? Schiffe? Aber der Bär war ganz eindeutig da und er war vorher nicht da gewesen. Julias Bär, hatte Jonathan gesagt.
»Du sprichst es komisch aus«, sagte José. »Ich dachte, die Engländer sagen Dschulia.«
»Ja«, sagte Jonathan. »Es liegt daran … dass … unsere Mutter, weißt du, sie ist … sie war … sie stammte aus Holland. Die meisten in England haben natürlich Dschuliagesagt.« José sah zu, wie er dem Bären das rote Band wieder umband. »Manchmal wünschte ich, der dumme Bär wäre mitverbrannt«, sagte Jonathan. »Er erinnert mich an die Nacht, in der sie gestorben sind. Als würde es nicht reichen, dass ich davon träume.«
José zuckte die Schultern. »Wirf ihn über Bord.«
Jonathan stand auf, streckte den Arm aus und ließ den Bären an einem Bein über die Reling hängen. Dann drückte er ihn plötzlich an sich wie ein Kind. »Ich kann es nicht. Er und ich, wir sind die Einzigen der Familie, die jene Nacht überlebt haben.«
José nickte. »Erzähl mir«, sagte er leise. »Erzähl mir, was in der Nacht geschehen ist. Vielleicht wird die Erinnerung dann leichter.«
Jonathan streichelte mit einem Finger Carmen, die neben ihm saß und am letzten Rest eines trockenen Brotkantens nagte. Er schwieg so lange, dass José schon dachte, er würde nichts erzählen.
»Wir hatten jeder einen Koffer«, sagte er dann unvermittelt. »Mit unseren wichtigen Sachen. Er stand neben der Haustür. Man brauchte ihn nur zu greifen, wenn Bombenalarm war. Sogar Julia hatte ihren Koffer. Es gab dauernd Probealarm. Dann mussten wir alle hinüber, zum Nachbarhaus, Nummer 21. Es war wie ein Spiel. Der ganze Krieg war wie ein Spiel. Eine Zeit lang. Und dann …«
»Ja?«
»Dann erfuhren wir, dass Papa vermisst wurde. In Frankreich. Er ist nicht zurückgekommen. Vermutlich … liegt er dort irgendwo in einem Massengrab. Eine Weile hat Mama fast nicht mehr mit uns gesprochen. Mit gar niemandem. Und dann fing sie wieder von den Galapagosinseln an. Wie schön alles wäre, wenn wir dorthin gegangen wären, ehe der Krieg anfing. Sie holte die alten Bücher hervor, die wir uns so oft zusammen angesehen hatten. Sie sprach von ihrem Professor. Professor Blumenhaus.« Er biss sich auf die Zunge. Hatte José gemerkt, dass Blumenhaus ein deutscher Name war? Nein, offenbar nicht. »›Der hat es richtig gemacht‹, hat Mama gesagt«, fuhr er rasch fort. »›Er ist rechtzeitig aus … England … verschwunden. Sicher‹, sagte sie, ›ist er irgendwo auf den Galapagosinseln und sucht nach seinem blauen Schmetterling mit den Goldflecken. Er ist frei.‹ Und immer, wenn sie unsere Koffer ansah, seufzte sie. Wahrscheinlich dachte sie daran, wie gut es gewesen wäre, diese Koffer auf ein Schiff über den Pazifik zu tragen. Aber selbst Julia war klar, dass Mama nur träumte. Dann fielen die ersten Bomben auf die Stadt. ›Jetzt dauert es nicht mehr lange‹, sagte Mama, ›und sie fallen auch auf unsere Straße. Lasst sie nur alles kaputt machen. Soll doch alles brennen!‹ Sie wollte es. Verstehst du? Sie wollte, dass unser Haus brannte. Es war verrückt. Sie sehnte sich nach dem nächsten Fliegeralarm. Sie lachte über die unsinnigsten Dinge. Als wüsste sie, dass sie nicht mehr lange lachen könnte. Und dann kam diese Nacht im Mai. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Koffer oben auf der Treppe stehe. Mama ruft nach mir. Ich renne … dann stehe ich draußen. Der Mond scheint. Er bescheint Julia und ihren Teddybären. Und Mamas Gesicht. Sie lächelt. Sie trägt Papas alte Mütze. Ihr Haar ist so hell, hell wie der Mond. Sie zerzaust mein Haar, als wäre ich noch klein.