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Er stand auf einer Treppe, den Griff eines Koffers in der Hand. Draußen jaulten Sirenen, ihr Ton schwoll an und wieder ab, an und wieder ab, wie das Schmerzgeheul eines riesigen verletzten Tieres.

Das riesige Tier war die Stadt Hamburg und das Heulen der Sirenen bedeutete Fliegeralarm. Irgendwo dort draußen glitten die Flugzeuge durch die Nacht. Sie sahen die Lichter der Stadt nicht. Die Stadt lag im Dunkeln. Aber die Flieger wussten, wo sie zu suchen hatten …

Unten auf der Treppe drängten sich Schemen von Menschen aneinander vorbei. Er konnte ihre Angst riechen. Hektische Stimmen füllten den Hausflur. Er umklammerte den Koffer fester. Er wollte nicht mit ihnen rennen, wollte nicht Teil ihrer Hektik werden.

Mama wartete unten. »Wo bleibst du?«, rief sie. »Komm! Beeil dich!«

Und dann rannte er doch. Er hetzte die dunklen Stufen hinunter, stolperte und fing sich wieder und schließlich stand er draußen auf der Straße. Hinter ihm lag der Eingang zum Haus Nummer 19. Die Straße war nicht so dunkel, wie er gedacht hatte. Der Mond schien. Der Mond wusste nichts von Verdunkelungen. Dummer, einfältiger Mond.

Er beschien den alten Herrn Meier aus dem zweiten Stock mit seiner zu schweren Stofftasche. Er beschien die junge Frau Edler aus dem Erdgeschoss, die zwei kleine Kinder mit sich zog. Er beschien Frau Adam, die eine Stehlampe trug. Wozu eine Stehlampe?

Der Mond wusste es nicht. Er beschien auch Jonathans Schwester Julia, die ihren Teddybären an sich drückte, den mit der roten Schleife am Hals. Und er beschien Mamas Gesicht. Im Mondschein sah Jonathan sie lächeln. Sie war stehen geblieben, als wäre plötzlich nichts mehr eilig. Er würde nie vergessen, wie sie da im Mondschein auf der Straße stand, lächelnd. Sie trug die alte karierte Schiebermütze seines Vaters auf ihrem hellen Haar, eines der wenigen Dinge, die er hinterlassen hatte. Die Mütze ließ sie wie ein Straßenjunge wirken, unpassend frech und fröhlich für die Nacht.

Sie streckte eine Hand aus und zerzauste Jonathans Haar. Irgendwo hinter ihr in der Nacht blühte das Geißblatt am Haus, schwer und süß.

»Komm!«, sagte Mama noch einmal. »Es wird Zeit.« Dann nahm sie die kleine Julia an der Hand. »Halt deinen Bären gut fest«, sagte sie, »denn jetzt laufen wir.«

In diesem Moment hörte Jonathan die Flugzeuge. Er hob den Kopf. Sie waren ganz nah, so nah, wie er sie noch nie gesehen hatte – und die Nacht zerbarst mit einem lauten Krachen. Er sah ihre Scherben nach allen Seiten davonspritzen, tödlich rot. Sie hatten ein Haus in der Nähe getroffen. Er rannte jetzt wieder. Rannte vorwärts, den anderen nach. Das Haus Nummer 19 besaß keinen eigenen Luftschutzkeller, sie waren dem Keller von Nummer 21 zugeteilt worden. Nur ein paar Schritte, – das Heulen der Sirenen vermischte sich mit einem weiteren Krachen, irgendwo prasselten Flammen, mehr und mehr Flammen. Es – es war, als bewegten sich seine Beine in Zeitlupe. Er stolperte Stufen hinunter … und hämmerte gegen eine Tür. Jemand öffnete sie, zerrte ihn in den Keller und warf die Tür wieder zu. Das Heulen der Sirenen blieb hinter ihm zurück. Das schwache Licht einer Kerze machte die kauernden Menschen zu unwirklichen, klobigen Schatten, sie verschmolzen mit ihren Klappstühlen und ihren Koffern zu großen, hässlichen Klumpen aus Angst. Jonathan merkte, dass jemand ihn am Kragen gepackt hielt: Richard. Richard hatte ihn auch eingelassen. Er war schon siebzehn, fünf Jahre älter als Jonathan. Irgendwie hatte er es trotz der Eile geschafft, seine Uniform anzuziehen. Seit Richard Blockwart von Nummer 21 war und eine Uniform besaß, war er zehn Zentimeter größer. Vielleicht schlief er auch in der Uniform. Jetzt holte Richard mit der freien Hand aus und schlug Jonathan ins Gesicht.

»Was hast du dir gedacht, so lange da draußen herumzutrödeln?«, keuchte er. »Ich habe die Verantwortung für den Keller. Eigentlich hätte ich dich gar nicht mehr hereinlassen dürfen.«

Er legte den Riegel vor die Tür und stellte sich davor, breitbeinig, uniformiert.

Jonathan sah sich um. Er spürte den Schmerz in seinem Gesicht nicht. Er hatte keine Zeit für den Schmerz. Er hatte keine Zeit für Richards Uniform.

Wo waren Mama und Julia?

Richards Worte klangen in Jonathans Ohren nach: »… dich nicht mehr hereinlassen dürfen.« Dich, nicht euch. Sie waren noch draußen, da draußen im Chaos. Sie und Julia und der Teddybär mit der roten Halsschleife.

Jonathan machte einen Satz nach vorn, um Richard beiseitezuschieben und die Tür noch einmal zu entriegeln. Da lief ein Zittern durch den Betonboden. Irgendwo war ein weiteres Haus getroffen worden, ganz nah. Feiner Staub rieselte von der Decke wie Schnee. Einen Moment später bebte der Boden so stark, dass Jonathan das Gleichgewicht verlor. Als er aufstehen wollte, spürte er eine Hand im Nacken, die ihn zu Boden drückte.

»Bleib, wo du bist!«, befahl Richard. Seine Stimme war scharf und schneidend wie zerbrochenes Glas. Wie eine zerbrochene Nacht. »Lass die Finger von der Tür! Hörst du denn nicht, was da draußen los ist? Willst du uns alle umbringen?«

»Aber … meine Mutter!«, keuchte Jonathan. »Und … Julia ist …«

»Wenn sie jetzt noch da draußen sind, kann man ihnen nicht mehr helfen«, sagte Richard kalt.

Jonathan versuchte sich loszureißen, doch Richard war stärker als er. Sie rangen eine Weile auf dem Boden miteinander, stumm, schwer atmend, und endlich schaffte Jonathan es, aus Richards Griff zu schlüpfen. Er rappelte sich auf und streckte den Arm nach dem Türgriff – da sah er aus dem Augenwinkel, dass Frau Adam aufgestanden war. Sie hatte sich oft im Treppenhaus mit Mama unterhalten. Sie würde ihm helfen. Sie hielt etwas in den Händen … und dann traf ihn der Fuß einer Stehlampe hart am Kopf.

Nein, es war nicht der Fuß einer Stehlampe. Es war Wasser. Kaltes, salziges Wasser, das in seinen Mund drang. Er erwachte mit einem Ruck aus seinem Traum, kämpfte sich an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Um ihn lag die schwarze Nacht des Pazifiks. Dann rollte die Wolkendecke am Himmel zurück und entblößte eine Kuppel, voll von Millionen glitzernder Juwelen: Sternbilder auf ihrem Weg über den Himmel. Und Jonathan begriff: Er war im Traum über die Reling geklettert, ohne es zu merken.

Die Reling der Isabelita.

Der dunkle Umriss des Schiffs begann bereits, sich zu entfernen.

»Schwimmen. Du musst schwimmen.«

Wer hatte da geflüstert? Das Flüstern war ganz nah gewesen. Es flüsterte jetzt einen Namen. Einen falschen Namen. Einen Namen, den er in Deutschland zurückgelassen hatte. Und plötzlich wusste er, wem die Stimme gehörte. Es war seine eigene. Er gehorchte. Er schwamm.

Er schwamm der Isabelita nach, hinein in die pazifische Nacht, über sich nur die funkelnden Sternbilder, unerreichbar weit weg. So unerreichbar wie Deutschland.

»Deutschland«, sagte er, nur um noch einmal seine eigene Stimme zu hören. Sie war ihm fremd geworden. Er hatte sie lange nicht gebraucht. Seit jener Nacht, in der ihn Frau Adam mit einer Stehlampe bewusstlos geschlagen hatte, um ihn zu retten.

Damals war etwas geschehen, etwas Seltsames: Er war verschwunden. Nur eine leere, tote Hülle war zurückgeblieben, eine Hülle, die sich gehorsam bewegt hatte wie eine Puppe. Und jetzt, hier, im kalten Wasser, war diese Hülle zerbrochen.

Die Zeit war an ihm vorbeigeglitten. Welcher Monat war dies? Welche Jahreszeit? Sie waren eine Ewigkeit unterwegs gewesen, er und Thomas Waterweg. Er erinnerte sich fast nicht an die Reise. Nur daran, dass er Spanisch gelernt hatte auf dem Schiff. Allein durch das Zuhören. Das war nicht auf der Isabelita gewesen, sondern auf dem größeren Schiff, vorher – dem, das sie in einer wochenlangen Reise über den Atlantik gebracht hatte.

Er begann zu frieren. Irgendwo, viele Meilen unter ihm, lag der Meeresgrund. Er hatte keine Chance. Plötzlich musste er lachen. »Wie sehr sich Waterweg wundern wird!«, flüsterte er.