Hinter ihnen am Verandatisch waren die letzten komplizierten Erklärungen verebbt wie die Wellen eines pazifischen Sturms. Es hatte den ganzen Nachmittag und einen Gutteil des Abends gedauert. Aber inzwischen war selbst Jeff Lindsey nicht mehr der Überzeugung, das kleine Haus unter der Bougainvillea wäre eine verborgene deutsche Funkstation, die deutsche U-Boote über die Bewegungen amerikanischer Patrouillenschiffe informierte. Mama hatte ihnen allen ein Abendessen aus Maisfladen und Hühnerfleisch vorgesetzt, denn viel mehr gab es noch nicht auf der Farm, doch sie waren alle dankbar dafür gewesen. Jetzt saßen die Männer schweigend am Tisch und rauchten Zigaretten, die die Amerikaner mitgebracht hatten. Marit zog die Nase kraus.
»José«, sagte Josés Vater.
José drehte sich um. Sein Vater hielt ihm eine Zigarette entgegen.
»Du wolltest immer ein Mann sein«, sagte er. »Nach allem, was du in den letzten Wochen offenbar erlebt hast … Ich schätze, du bist tatsächlich kein Kind mehr. Willst du mit uns rauchen?«
Marit sah den belustigten Ausdruck in den Augen der anderen. Jetzt, dachte sie, würde José ihnen zeigen, dass er sich durchaus mit Zigaretten auskannte. Doch José schüttelte den Kopf.
»Danke«, sagte er. »Aber eigentlich habe ich die Dinger nie gemocht. Sie schmecken scheußlich. Ich glaube, ich brauche sie nicht, um ein Mann zu sein.«
Die Amerikaner lachten. José zuckte nur die Schultern … die gesunde Schulter. Dann zog er sich mit dem heilen Arm am Geländer der Veranda hoch und ging in den Abend hinaus, um das Haus herum, dorthin, wo alles ruhig war und niemand über einen lachen konnte. Marit folgte ihm. Sie gingen bis zum Maisfeld, über dem jetzt keine blauen Schmetterlinge mehr flatterten. Die Schmetterlinge waren schlafen gegangen. Bald würde es ganz dunkel sein.
»Ich frage mich, was mit meinem Urgroßvater geschehen ist«, sagte José. »Wir werden es nie herausfinden, nehme ich an. Aber ich glaube … ich glaube, er ist hiergeblieben. Hier, auf der Insel, bei den Schmetterlingen. Er hat die Schatzkarte entziffert und die Süßwasserquelle gefunden und er war glücklich hier. Glücklicher als zu Hause, wo die Abuelita zu viele dunkle Geschichten erzählte von Geistern und Unaussprechlichen.«
»Ja«, sagte Marit. »Ja, er war bestimmt glücklich hier.«
José sah zum Abendhimmel hinauf.
»Sie haben gesagt, sie nehmen mich mit«, sagte José. »Ich werde fliegen. Nur ein kurzes Stück, aber ich werde fliegen.«
»Geh bloß nicht verloren da oben«, sagte Marit.
Eine Weile standen sie schweigend vor dem Mais.
»Weißt du, was ich glaube?«, flüsterte Marit. »Ich glaube, ich werde jetzt nicht mehr von Deutschland träumen.«
»Julia auch nicht mehr«, sagte José. »Sie muss dich ja nicht mehr suchen. Du bist angekommen.«
»Ja«, sagte Marit. Sie streichelte Carmen, die auf ihrer Schulter saß. Etwas raschelte zu ihren Füßen. Uwe. Er sah zu ihnen auf, schlug einmal mit dem zackenbewehrten Schweif und verschwand dann im Wald neben dem Maisfeld.
»Mach’s gut!«, wisperte Marit. »Und danke. Grüß Oskar, wenn du ihn triffst. Der ist schon weg. Und Chispa.«
Etwas kam aus dem Maisfeld gewatschelt, und selbst im Dämmerlicht sah Marit noch, dass es blaue Füße hatte.
»Loco«, sagte sie, »gehst du auch?«
Der Blaufußtölpel neigte den Kopf, breitete die Flügel aus und reckte den Hals schließlich nach hinten. Er trippelte ein paarmal nach links, ein paarmal nach rechts, beendete seinen Tanz mit einer Art Pirouette und flog auf. Marit sah ihm nach, wie er über die Bäume strich. Diesmal nicht, um jemanden zu holen. Diesmal verließ er sie.
»Da fliegt noch etwas«, sagte José. »Ist das ein Flamingo?«
Marit nickte. »Sieht so aus. Ich dachte immer, er wartet, bis er ein paar andere Flamingos findet. Aber jetzt fliegt er doch allein los. Warum ist er die ganze Zeit über bei uns geblieben? Warum macht er sich gerade jetzt auf den Weg?«
José lachte. »Vermutlich war die Suppe aus.«
Er ging ein Stück an dem seltsam geformten Maisfeld entlang. »Von jetzt an könnt ihr ganz gewöhnliche rechteckige Felder bebauen«, sagte er, »die von überall aus zu erkennen sind.«
Marit nickte. »Ich hätte nie gedacht, dass sie uns bleiben lassen. Aber es sieht ganz danach aus. Lindsey hat versprochen, sich für uns einzusetzen.«
Sie waren vor einem Streifen dunkler, frischer Erde stehen geblieben. Eine Handvoll violetter und weißer Bougainvillea-blüten lag darauf. Marit seufzte. Alles hätte so schön sein können, dachte sie. Alles hätte perfekt sein können. Aber hier, unter der Erde, lag Thomas Waterweg.
In seiner Tasche hatte ein alter Teddybär mit roter Schleife gewartet. Julia hatte den Bären gerettet, ehe sie Thomas in sein Grab gelegt hatten.
Marit hatte ihn so gehasst. Dafür, dass er ein Nazi war. Dafür, dass er ein deutscher Spion war. Dafür, dass er sie gezwungen hatte, Deutschland zu verlassen und neu anzufangen. Und vor allem dafür, dass er lebte und ihr eigener Vater tot war. Und nun war alles anders.
Waterweg war nie ein Nazi gewesen. Er hatte nur so getan. Unter dem Deckmantel seiner Uniform hatte er Menschen geholfen zu fliehen. Er war ein Nachtfalter gewesen, genau wie die Menschen, die Mama und Papa und Julia geholfen hatten, und dennoch hatte er nicht gewusst, dass Mama und Papa und Julia Hamburg je verlassen hatten. Der Krieg hatte zu viel Chaos mit sich gebracht, zu viel Verwirrung, und die Nachtfalter hatten den Kontakt zueinander verloren.
Die Deutschen hatten geglaubt, Thomas Waterweg wäre ein deutscher Spion gewesen. Casaflora hatte es geglaubt. Das war der Plan gewesen. Aber dass es am Ende auch Jeff Lindsey geglaubt hatte, hatte nicht zum Plan gehört. Thomas war nie ein deutscher Spion gewesen. Seine Mission hatte darin bestanden, herauszufinden, ob es einen deutschen Spion auf Baltra gab. Sie hatten es lange vermutet. Und es hatte einen gegeben. Casa-flora.
Und nun waren sie beide tot. Casaflora besaß kein Grab. Mama hatte darauf bestanden, ein Holzkreuz für ihn zusammenzunageln und neben das von Thomas Waterweg in die Erde zu stecken.
Marit spürte, dass etwas an ihrem Ärmel hinabkletterte, danach an ihrem Hosenbein … »Carmen«, sagte sie. »Natürlich. Du musst gehen. Wie ihr alle. Ich werde dich vermissen.«
Carmen blickte sich nicht um. Sie verschwand zwischen den Maispflanzen, als wäre sie nie eine zahme Ratte gewesen.
Marit seufzte ein zweites Mal und wandte sich wieder dem frischen Grab zu.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es tut mir leid, dass ich dich so gehasst habe, Tom. Es war nicht fair. Aber warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt? Warum hat nie irgendwer irgendwem die Wahrheit gesagt? José hätte dir sagen können, dass die Karte im Krater des Vulkans liegt. Du hättest ihm sagen können, dass du nicht auf der Seite der Deutschen bist. Ich hätte ihm sagen können, wer ich bin, und Mama hätte mir von Anfang an sagen können, was sie vorhatte, damals, in Hamburg … und all diese Missverständnisse wären nie in die Welt gekommen. Und diese ganze Geschichte wäre nie, niemals geschehen!«
José holte Luft. Sie erwartete, dass er sagen würde: »Aber dann hätten wir uns nie, niemals getroffen.« Doch er sagte etwas anderes.
Er sagte: »Sieh nur. Auf dem Dach. Der Albatros.«
Marit drehte sich um. Tatsächlich – irgendwie hatte Kurt es geschafft, über die Veranda und die Ranken der Bougainvillea aufs Dach zu klettern. Jetzt stand er auf dem schmalen First und seine weißen Federn leuchteten im letzten Licht des Tages. Er sah zu ihnen hinunter, und es schien Marit, als nickte er. Dann breitete er seine riesigen Flügel aus, schlug ein paarmal damit und rannte über die Kletterpflanzen die Dachschräge hinunter. Am Rand des Daches warf er sich vorwärts, in den leeren Raum, ruderte mit den Flügeln wie ein ertrinkender Schwimmer, fiel ein Stück, fing sich – und dann packte ein warmer Aufwind ihn, und er stieg empor, sammelte den Wind unter seinen schmalen, schwertförmigen Schwingen, segelte hinein in den Abendhimmel: nicht länger ungeschickt und plump, sondern elegant. Großartig. Majestätisch.