José wartete lange, doch der fremde Junge tauchte nicht wieder auf. Eine Weile hatte er ihn dort unten herumtappen hören, aber nun war es still. Die Nacht und die Mariposa gehörten ihm allein. Er hatte eine Menge Zeit, über den fremden Jungen nachzudenken, aber seine Gedanken wurden immer zäher und verworrener. Die beiden Amerikaner lehnten darin am Mast und tranken Bier. Seine Brüder saßen auf dem Dach der Kajüte und sortierten Saatgut, während Mama Carmelita mit einer großen Schere das Großsegel zerschnitt, um Kleider für Josés kleine Schwestern daraus zu nähen. »Lasst das bleiben!«, wollte er rufen, und da merkte er, dass er träumte.
Er riss sich zusammen und korrigierte den Kurs, aber Minuten später war er wieder weggenickt. So kämpfte er bis zum Morgengrauen einen Kampf gegen sich selbst und seine Müdigkeit. Und als das Meer im Osten eine rote Blase ausstieß, die über den Horizont hinaufstieg und sich schließlich vom Wasser löste, da begriff er erst nach einer Weile, dass dies kein Traum war, sondern die Sonne. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er den Jungen brauchte, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Egal, wer er war. Er brauchte jemanden, der das Steuer übernahm, wenn er müde wurde. In dieser Nacht war der Wind lau – bei jedem anderen Wetter würde es nichts nützen, das Steuer einfach festzustellen.
Er wusste nicht, wie lange er zur Isla Maldita brauchen würde, aber plötzlich erschrak er über sich selbst, über die Idee, es allein zu versuchen. Du bist verrückt,sagte die Abuelita, loco. Aber Dios, Gott, hat dich gesehen, da unten auf dem riesigen Ozean, auf deinem Honigboot, deiner Totenbarke, und er hat dir jemanden vor den Bug geworfen, der …
»Unsinn«, sagte José laut. »Abuelita, Gott wirft nicht mit fremden Jungen, nicht einmal über dem Pazifik, und wieso bist du überhaupt schon wach um diese Zeit?«
Er schüttelte die alte Frau aus seinem Kopf, befestigte das Steuer abermals und stieg die vier Stufen zur winzigen Tür der Kajüte hinunter. Er öffnete die Tür vorsichtig. Das erste rote Morgenlicht strömte in den kleinen Raum, als hätte es sich seit Stunden danach gesehnt, ihn zu erhellen. Wie Wasser stieg es an den Wänden hoch, und als es die Kabine ganz ausgefüllt hatte, fand José darin den fremden Jungen. Er lag auf der Steuerbordbank, in Josés Kleidern, halb in eine Decke gewickelt. Die Decke musste er irgendwo in der Kajüte gefunden haben. Vielleicht, dachte José, war der alte Casaflora unter dieser Decke gestorben. Vielleicht auf dieser Bank. Aber die Brust des Jungen hob und senkte sich regelmäßig und sehr lebendig.
Auf dem kleinen Tisch in der Mitte der Kajüte lagen seine Kleider. José hielt die nasse Jacke ans Gesicht und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach weiter Ferne, nach einer zu langen Reise und nach Angstschweiß. Er beobachtete, wie das rötliche Morgenlicht mit vorsichtigen Fingern das Gesicht des Jungen betastete. Das blonde Haar war ihm aus der Stirn gefallen und gab eine schlecht verheilte Narbe frei. Was hatte dieser Junge erlebt und wie war er hierhergekommen?
José kam sich vor wie ein Dieb, als er seine Jackentaschen durchsuchte. Er fand eine zusammengeknüllte alte Mütze, ein rotes Seidenband … und einen Pass. Tatsächlich, einen Pass. »Jonathan Smith«, las José. »Geboren am 12.2.1929 in London.« Aber wer war Jonathan Smith?
Hätte José gewusst, dass der wahre Jonathan Smith tot war, hätte ihn das vermutlich nicht beruhigt.
Jonathan schlug die Augen auf und spürte, dass es Morgen war. Aber Morgen wo? Und wann?
Als er sich aufsetzte, stieß er sich den Kopf an einem Regal und erinnerte sich, dass er in der engen Kajüte eines Schiffs war. Er sah an sich hinab und erschrak. Er trug fremde Kleider. Er hörte wieder Waterwegs Worte, die er auf der ganzen Reise so oft gehört hatte: Niemand darf je erfahren, wer du wirklich bist. Er sah sich um. Wo waren seine Kleider? Hatte jemand anders sie ihm abgenommen? Nein, er hatte sie selbst ausgezogen und auf den kleinen Tisch gelegt.
Langsam füllten sich die Lücken der Erinnerung. Er war ins Wasser gefallen und hatte sterben wollen. Und jemand hatte ihn davon abgehalten. Aber seine Kleider waren nicht mehr da. Stattdessen lag auf dem Tisch ein kleiner schwarzer Gegenstand: eine Pistole. Er wog sie in der Hand und war erstaunt über ihr Gewicht.
Das kalte Metall an seiner Schläfe fühlte sich an, als gehörte es dorthin. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf seinen Finger am Abzug. Er brauchte ihn nur zu krümmen … Jemand riss ihm die Waffe aus der Hand. Er sah auf und blickte in das Gesicht des Jungen, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte. José.
»Bist du wahnsinnig?«, rief er. »Was tust du da? Woher hast du das Ding?«
»Es lag hier auf dem Tisch«, sagte Jonathan. »Hast du es nicht dorthin gelegt?«
»Nein«, sagte José.
Eine Weile sahen sie sich schweigend an. Die Luft zwischen ihnen zitterte vor Anspannung.
»Ich weiß deinen Namen noch immer nicht«, sagte José schließlich und steckte die Pistole in seine Jackentasche.
»Jonathan«, sagte Jonathan.
»Gut«, sagte José, als wäre damit alles geklärt. »Komm jetzt mit. Es ist Zeit, etwas zu essen.«
Jonathan folgte ihm die vier Stufen hinauf an Deck. Das Meer lag so gleißend blau unter der Sonne, dass er einen Moment lang die Augen zukneifen musste. In der Ferne erhoben sich Inseln aus dem Blau. Etwas sprang aus dem Wasser und verschwand wieder darin, tauchte abermals auf … Delfine. Ein Schwarm übermütiger Vögel war über den Himmel unterwegs. Die Rücken der silbernen Fische glänzten dicht unter der Wasseroberfläche.
»Hier ist so viel Leben«, sagte Jonathan. »Da, wo ich herkomme, ist nur Tod.«
José nickte. »London«, sagte er.
Jonathan musste sich zusammenreißen, um nicht instinktiv den Kopf zu schütteln. »Ja«, sagte er. »Aus London.« Er war noch nie in London gewesen. Wie war es wohl in London? Wie sah es dort aus?
»Wie ist es in London?«, fragte José. »Wie sieht es dort aus?«
Jonathan zuckte die Schultern. »Es sieht so aus … wie … wie es eben aussieht. Soll ich das Brot schneiden?«
Er setzte sich auf eine der schmalen Bänke an der Reling und nahm das Messer, das neben dem Kanten Brot lag.
»Ja, schneide nur das Brot«, sagte José, »aber komm nicht darauf, dir mit dem Messer die Pulsadern aufzutrennen.«
Jonathan gab José eine Scheibe Brot und betrachtete das Messer. »Ist es scharf genug?«
»Dieses Brot«, sagte José, »ist jedenfalls hart genug, um jemanden damit zu erschlagen. Da hast du gleich noch eine Methode, dich ins Jenseits zu befördern.« Er sah zu den weißen Segeln der Mariposa auf, die sich im Wind blähten. Jonathan folgte seinem Blick. José hatte seine Kleider in der Takelage aufgehängt und da flatterten sie jetzt im Wind wie merkwürdige Wimpel. Das Holz des Schiffs leuchtete honiggelb in der Sonne und der Duft nach Kühle und Geheimnissen wehte vom Meer her. Wie schön und froh alles war! Wie sehr es der kleinen Julia gefallen hätte, auf einem solchen Schiff zu segeln! Und Mama! Sie hätte sich mit einem Fernglas an die Reling gestellt und nach dem blauen Schmetterling mit den goldenen Tupfen Ausschau gehalten – jenem, den ihr alter Professor beschrieben hatte, als Mama noch an der Universität studiert hatte. Der Professor war auf den Inseln gewesen. Durch ihn hatte Mama von ihnen erfahren, und durch Mama hatte Waterweg davon erfahren, der Jonathan hierhergeschleppt hatte. Letztendlich war der alte Professor an allem schuld …
»Jonathan?«, sagte José. »Ich habe dich etwas gefragt.«
»Hm?«
»Wer bist du?«
»Du hast meinen Pass in der Hand gehabt. Du weißt, wer ich bin.«
»Nein.« José schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß gar nichts. Ich weiß, dass ich dich aus dem Wasser gezogen habe, aber ich weiß nicht, wie du hineingekommen bist. Ich weiß, dass ich eine Kajüte verlassen habe, in der es keine Pistole gab, und dass da eine war, als ich zurückkam. Ich weiß, dass du Spanisch kannst, aber ich weiß nicht, woher. Ich weiß, dass du nicht gern redest, aber ich weiß nicht, worüber du nicht redest.«