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Jonathan grinste unwillkürlich. José, dachte er, redete dafür umso lieber.

»Das sind zu viele Fragen«, sagte er. »Wichtig ist nur eines: Ich wollte nicht gerettet werden. Auch heute Morgen nicht. Bitte, bitte, hör auf, mich dauernd zu retten.«

»Gut«, sagte José. »Spring zurück ins Wasser und ertrink. Ich werde dich nicht daran hindern.«

»Nein?« Jonathan stand auf und legte die Scheibe Brot, die er nicht angebissen hatte, zurück auf die Bank.

Das Meer war noch immer so blau und die Sonne so warm und alles so friedlich, dass er sich beinahe dumm vorkam. Aber er musste es tun. Jetzt, ehe er den Mut dazu nicht mehr aufbrachte. Er kletterte auf die Bank, stieg auf die Reling und sprang. Das Wasser war kühl, aber nicht kalt. Er kam hoch und hörte José fluchen. Er sah die Mariposa davonsegeln. Er legte sich im Wasser auf den Rücken und sah in den Himmel, über den einzelne Wolken unterwegs waren. Er würde hier so liegen bleiben und in den Himmel sehen, bis … Im Augenwinkel sah er, wie die Mariposa wendete. Kurz darauf war sie wieder neben ihm, und er spürte, wie sich Josés Hand um seinen Arm schloss. Er versuchte wegzuschwimmen, er war ein guter Schwimmer. Aber José war stark. Sekunden später saß Jonathan wieder an Deck wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Er blickte in Josés wütendes Gesicht und dann gab José ihm eine Ohrfeige. Irgendwoher kannte er diese Szene – war ihm nicht das Gleiche in einem Luftschutzkeller passiert, damals, in jener Nacht?

»Bei uns sagt man, Ohrfeigen sind für kleine Kinder und verrückte Frauen«, knurrte José. »Such dir aus, was du bist.«

»Du … du hast gesagt, du würdest mich nicht hindern …«

»Dann habe ich eben gelogen«, sagte José. »Was bildest du dir eigentlich ein, so mit deinem Leben umzugehen? Das Leben kommt von Gott. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«

»Nein«, murmelte Jonathan. »Da, wo ich herkomme, gibt es keinen Gott. Er ist verloren gegangen.«

»Aber hier, hier gibt es einen«, sagte José ärgerlich. »Und deshalb lässt du es jetzt schön bleiben, dich umzubringen, kapiert? Ich werde dich so oft aus dem verdammten Wasser ziehen, wie du hineinspringst. Notfalls schlage ich dich bewusstlos, aber solange du auf meinem Schiff bist, stirbst du nicht. Klar?«

»Es ist noch nicht mal dein Schiff«, sagte Jonathan. »Sonst wüsstest du besser Bescheid über gewisse Pistolen, die unter Deck herumliegen. Wo hast du es her? Hast du es geklaut?«

José schüttelte den Kopf. »Es ist das Schiff eines Toten.«

»Das Schiff eines Toten! Siehst du!«, rief Jonathan. »Alle sind tot. Die ganze Welt ist tot! Es ist nur logisch, auch sterben zu wollen!«

»Wenn du dich hören könntest«, sagte José. »Vielleicht hat der Krieg in Europa dir den Verstand geraubt. Die Narbe an deiner Stirn – ist sie … von … einem Granatsplitter? Einem Streifschuss? Von einer nahen Explosion? Einer …«

»Stehlampe«, sagte Jonathan nüchtern.

»Steh… Stehlampe? Die Deutschen kämpfen mit seltsamen Waffen.«

Plötzlich beugte José sich vor, packte Jonathans Arm und zog ihn vom Boden hoch. Sein Gesicht war Jonathans ganz nah. »Ich brauche dich«, sagte er. »Ich habe es gestern Nacht gemerkt.«

Es klang wie ein Satz aus einem mittelmäßigen Schnulzenfilm. Jonathan dachte an Richard, den Blockwart vom Häuserblock 21, der auch versucht hatte, ihm nah zu sein. Zu nah. Sein Magen drehte sich um. »Wie bitte?«

»Ich brauche dich, um dorthin zu kommen, wo ich hinwill. Ich brauche einen zweiten Mann am Steuer, der nachts auf den Kurs achtet.«

Die Erleichterung brachte Jonathan beinahe zum Lachen. »Vergiss es«, sagte er. »Ich verstehe nichts von Schiffen. Lass mich zurück ins Wasser.«

»Dios!« José ließ Jonathans Arm so plötzlich los, dass er unsanft auf die Decksplanken zurückfiel. »Gut. Ich mache sowieso halt auf Santiago, da setze ich dich ab und versuche es allein. Von mir aus kannst du dann vom nächstbesten Felsen springen und dir das Genick brechen. Aber solange du auf meinem Schiff bist, trage ich die Verantwortung. Also iss jetzt das verdammte Brot.«

José verbrachte den ganzen Nachmittag damit, sich zu ärgern. Er ärgerte sich über den Jungen, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Er ärgerte sich über die Abuelita, die ab und zu in seinen Gedanken kicherte. Ein schöner Held bist du,kicherte sie, rettest einen, der gar nicht gerettet werden will …Er ärgerte sich darüber, dass der Wind drehte und sie nicht mehr so gut vorankamen, und über die ganze gottverdammte Welt. Als Santiago nahe genug war, dass er einzelne Buchten erkennen konnte, hörte er auf, sich zu ärgern, und begann sich ein paar Dinge zu fragen.

Er fragte sich zum Beispiel, woher die Pistole gekommen war. Wenn Jonathan die Wahrheit sagte, war es nicht seine. José musste sie bei seinem ersten Besuch in der Kajüte übersehen haben. Aber hatten die Amerikaner sich das Schiff nicht angesehen, das in den Hafen von Baltra geschleppt worden war? Hätten sie die Waffe nicht mitgenommen, wenn sie schon damals auf dem Tisch gelegen hätte?

Jonathan hatte die ganze Zeit über still dagesessen und aufs Meer hinausgesehen. Er trug wieder seine eigenen Kleider, obwohl auch die ihm zu groß zu sein schienen. Er hatte darauf bestanden, sich in der Kajüte umzuziehen. Aber wenigstens hatte er keinen Versuch mehr gemacht, ins Wasser zu springen.

»Übernimm du das Steuer«, sagte José jetzt. »Ich bin gleich wieder da.«

»Ich kann nicht …«

José seufzte. »Jeder kann ein Steuer festhalten.«

Er kletterte unter Deck und sah sich noch einmal genauer um. Er schüttelte die Kleider bei den Kanistern aus. Es war nur ein Haufen alter Kleider. Die Kleider eines Toten. Nichts in den Taschen. Er untersuchte die beiden Bänke. Sie ließen sich hochklappen, und für einen Moment dachte José, er würde dort ein Geheimnis finden, doch er fand nur Werkzeuge und Farbtöpfe. Über den Bänken gab es zu jeder Seite ein Regal, vorn gesichert durch ein zusätzliches Brett, damit die Dosen mit den Nahrungsmitteln nicht herunterfielen. Rechts, an der Steuerbordseite, konnte man die Wand über dem Regal aufklappen, und dahinter standen noch mehr Dosen mit Nahrungsmitteln. Immerhin würde er nicht verhungern. Trotzdem gab es noch immer keine Erklärung für das Auftauchen der Pistole.

Durch die angelehnte Kajütentür sah José, wie Jonathan das Steuerruder mit beiden Händen festhielt. Er lächelte. Da war etwas in Jonathans Augen, das ihn hoffen ließ. »Hilf mir, Mariposa«, wisperte José. »Zeig ihm, wie gut es sich anfühlt, dich zu steuern. Lass ihn diese alte Rechnung vergessen, die er mit dem Tod offen hat. Lass …«

In diesem Augenblick legte jemand eine Hand auf seine Schulter. Er schrie auf und fuhr herum. Hinter ihm stand – niemand. Aber die Berührung auf seiner Schulter war noch da. Etwas saß dort. Etwas Kleines, Braunes. Ein winziges Tier.

Es musste aus einer dunklen Ecke auf seine Schulter gesprungen sein. José stieg die Stufen hinauf an Deck und versuchte gleichzeitig, das Tier von seiner Schulter zu entfernen. Es ließ sich nicht entfernen. Es hielt sich mit seinen kleinen Krallen sehr entschlossen fest.

José verrenkte sich den Kopf, um das Tier zu sehen, und da hörte er Jonathan zum ersten Mal lachen. »Galapagos-Reisratte«, sagte Jonathan. »Endemisch.«

»Bitte was?«, fragte José verärgert. »Und was ist überhaupt so lustig?«

»Dein Gesicht«, sagte Jonathan. »Das auf deiner Schulter – es ist eine Ratte. Eine Sorte, die es nur hier auf den Inseln gibt. Das ist es, was endemisch bedeutet. Dass es sie nur hier gibt.«

»Woher weißt du das?«

Jonathan streckte die Hand aus und löste die Pfoten der Ratte vorsichtig von Josés Hemd. »Das ist eine lange Geschichte.« Er betrachtete die Ratte. Sie war kein bisschen scheu. »Du solltest ihr einen Namen geben«, meinte Jonathan.

»Einer Ratte, Jonathan? Bist du noch ganz dicht? Es gibt diese Sorte vielleicht nur auf unseren Inseln, aber dafür zu Tausenden. Sie geht über Bord, und zwar jetzt. Sie frisst die Vorräte. Gib sie her.«