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»So«, sagte José. »Wenn du wirklich mit mir fährst, wird es Zeit zu erzählen. Tausend Geschichten zu erzählen. Du kannst darüber nachdenken, welche du zuerst erzählst, während ich noch eben die Positionslichter …«

»Warte«, unterbrach Jonathan ihn. »Tausend Geschichten können warten. Nur die tausendunderste ist jetzt wichtig. Es ist die Geschichte von einem amerikanischen Schiff, das irgendwo da draußen in der Nacht liegt und lauert. Und dieses Schiff hat keine Lichter gesetzt, da möchte ich wetten. Es wartet auf uns.«

»Das Schiff, das vorhin neben der Mariposa lag und sofort wieder abgefahren ist? Ich habe es gesehen. Und ich glaube, ich kenne es. Das ist die Roosevelt. Ein etwas zu groß geratener Name für so ein kleines Schiff. Sie kommt von Baltra. Meine Brüder haben erzählt, bis vor Kurzem sei sie ein privater Segler gewesen. Die Amis haben sie zu einem Militärschiff gemacht. Sie haben dem Besitzer eine Menge Geld gezahlt. Die Roosevelt ist nicht das einzige Schiff, das seine Farbe gewechselt hat, um in den Krieg zu ziehen.«

Jonathan lächelte über seine Worte. Es war nicht wirklich so, dass dieses Schiff heroisch beflaggt in den Krieg zog. Die Roosevelt war also eines der vielen Kontrollschiffe, die die Inseln patrouillierten. Aber jetzt war sie auf der Suche.

»Sie suchen«, sagte Jonathan langsam. »Sie suchen … dich.«

Keiner der Männer hatte Josés Namen erwähnt – doch nach wem sollten sie sonst suchen?

»Ich habe sie reden hören«, fuhr Jonathan fort. »Sie sind hinter einer Karte her. Das ist eine der tausend Geschichten, die erzählt werden müssen, nehme ich an.«

José nickte. »Keine Positionslichter also«, sagte er.

So verließ die Mariposa Bartolomé genauso unsichtbar, wie sie Baltra verlassen hatte. Ein Geisterschiff.

Jonathan tastete sich unter Deck und fand nach langem Suchen auf einem der Regale eine Kerze und Streichhölzer. »Die eine Kerze unter Deck wird niemand sehen«, flüsterte er zu José hinauf. »Es ist wegen Oskar. Ich muss mich endlich um seine Wunde kümmern. José? Rauchst du?«

»Manchmal. Warum?«

»Es ist nur … es riecht hier so nach Tabak«, sagte Jonathan. »Vorhin roch es noch nicht nach Tabak.« Dann fiel ihm ein, dass José an Land gewesen war, genau wie er selbst. Carmen kletterte von seiner Schulter und setzte sich auf den Kajütentisch, um sich im Licht der Kerze zu putzen. Ihre Augen glitzerten schlau. Sie wusste mehr als er.

»Wenn du es bist, die raucht«, sagte Jonathan streng, »tu das bloß nicht dort hinten bei den Benzinkanistern. Die Dinger explodieren, verstehst du?«

Er würde später über die Sache mit dem Tabak nachdenken. Zunächst brauchte er etwas, um Oskars Wunde zu desinfizieren. Er fand eine Flasche Rum zwischen den Dosen mit dem eingemachten Fleisch und ein paar alte Kleider neben den Kanistern. Der Stoff war brüchig, es war leicht, einen Streifen davon abzureißen. Oskar beobachtete ihn ängstlich, als er sein Gefieder mit dem rumdurchtränkten Hemdstoff säuberte. Aber er hielt brav still und ließ sich verbinden. Jonathan arbeitete sorgfältig und konzentriert – und dann wurde ihm klar, dass es nicht Oskar war, den er verband. Im Geiste verband er andere Leute: seine Schwester Julia. Seine Mutter. Seinen Vater.

Er verbarg sein Gesicht in Oskars weichem Gefieder und atmete den tranigen, salzigen Fischgeruch. So saß er lange auf der schmalen, harten Bank, den Pinguin im Arm, bis er merkte, dass der Vogel eingeschlafen war. Er legte die Wolldecke auf den Boden und bettete den Vogel darauf. Dann nahm er eine Dose mit eingemachten Erbsen vom Regal und stieg zurück an Deck. »Zwei Fragen«, sagte er. »Erstens: Hast du etwas, um diese Dose zu öffnen? Zweitens: Willst du mir nicht endlich erzählen, wohin wir fahren und weshalb?«

So erzählte José die Mariposa durch die Nacht und durch die Angst, von dem anderen Schiff entdeckt zu werden. Er erzählte von Baltra und von der Farm zu Hause auf Isabela und von seinen erwachsenen Brüdern. Vom Fliegen erzählte er und von seinem Traum, ein Held zu sein. Und zum Schluss davon, was der junge Amerikaner am Hafen gesagt hatte.

»Wir werden herausfinden, wer auf der Isla Maldita lebt«, sagte er. »Falls jemand dort lebt. Und dann werden wir fliegen. Wir beide. Wie die Fregattvögel.«

Jonathan schwieg lange.

»Und die Karte?«, fragte er schließlich. »Sie haben gesagt, sie suchen eine Karte.«

»Ja, das … das ist seltsam«, sagte José. »Ich habe eine Karte. Die Kopie einer Karte. Angeblich liegt ein alter Piratenschatz auf der Isla Maldita. Aber wer glaubt schon an Piratenschätze? Der Letzte, der daran glaubte, war mein Urgroßvater. Und der ist nicht zurückgekommen von der Insel.«

»Vielleicht finden wir ihn dort«, sagte Jonathan. »Er sitzt mit dem Schatz ganz allein auf der Insel und ärgert die Amerikaner, wenn sie vorbeifahren.«

»Hm«, sagte José und überlegte. »Hundertundzwei. Er wäre jetzt hundertundzwei. Irgendwie unwahrscheinlich. Aber eine hübsche Vorstellung: wie der zahnlose Alte dasitzt und einen Berg Diamanten lutscht wie Bonbons …«

In diesem Moment rissen die Wolken auf, genau wie in der Nacht zuvor, und das Mondlicht fing sich gleißend hell in den Segeln der Mariposa.

Jonathan sah sich um. »José«, flüsterte er. »Sieh nur.«

Hinter ihnen fing sich das Mondlicht in den Segeln eines zweiten Schiffs. Eines größeren, stolzeren Schiffs. Die Roosevelt. Sie hatte wirklich keine Lichter gesetzt. José fluchte. Das andere Schiff war ein gutes Stück entfernt – weit genug, um zu hoffen, dass die Männer darauf die Mariposa noch nicht entdeckt hatten. Links von ihnen erstreckte sich die Küste von Santiago. An manchen Stellen lagen große, zerklüftete Felsen vor der Küste.

»Kopf runter!«, zischte José. Jonathan gehorchte, und der Mastbaum schwang zur anderen Seite, als José die Mariposa abrupt wendete. Dann drückte José Jonathan das Steuer in die Hand.

»Zwischen die Felsen!«, sagte er. »Steure sie zwischen die Felsen!«

Jonathans Hand zitterte, als er das Steuer übernahm. Es war wahrscheinlicher, dass er das Schiff gegen die Felsen steuerte. Doch José war schon nach vorn geklettert, um die Taue der Segel zu lösen. Als sie am ersten der Felsen vorüber waren, ließ er das Großsegel herunter und rief etwas, das Jonathan nicht verstand, aber er riss das Ruder herum. So glitt die Mariposa mitten zwischen die Felsen. Sie streifte einen von ihnen, ein hässliches Schaben ertönte, einen Moment später hatte José das Vorsegel eingerollt und den Anker geworfen. Die Mariposa ruckte einmal an der Ankertrosse und stand, zitternd wie ein Pferd nach einem Wettlauf.

José kletterte zurück nach hinten und eine Weile saßen er und Jonathan ganz still nebeneinander. Sie sahen die Roosevelt nicht mehr, zwei der hohen Felsen lagen jetzt zwischen ihnen und dem offenen Wasser.

Es wird nichts nützen, dachte Jonathan. Es ist ein schlechtes Versteck. Es gibt keine guten Verstecke für eine ganze Jacht, nicht einmal für eine so kleine Jacht wie die Mariposa …

»Jonathan!«, flüsterte José und zeigte auf eine Lücke zwischen den Felsen. »Sie … sie fahren vorüber! Sie fahren einfach weiter!«

Josés Augen glänzten in der Dunkelheit. Es schien ihm direkt Spaß zu machen, verfolgt zu werden. In der Ferne wurde die Roosevelt kleiner und kleiner und schließlich verschluckte die Nacht sie ganz.

In dieser Nacht träumte Jonathan wieder von Hamburg. Die Träume ließen ihn nicht los, sie brachten die Vergangenheit zurück, sobald er schlief.

Im Traum blickte er in Frau Adams Gesicht. Sie hatte sich über ihn gebeugt und er hörte sie Worte flüstern. »Armes, armes Kleines«, flüsterte sie. »Mein armes Kleines!«

Ihr Haar war bedeckt mit weißem Staub. Er fuhr mit der Hand durch sein Gesicht und auch in seinem Gesicht war Staub. Staub und Blut. Da war eine Wunde an seiner Stirn. Sie brannte und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinen Schläfen.

»Mein armes Kleines!«, wiederholte Frau Adam. »Gut, dass du wieder zu dir kommst. Das mit der Lampe tut mir leid. Ich musste dich … außer Gefecht setzen. Du warst drauf und dran, die Tür zu öffnen und uns alle in den Tod zu reißen. Drauf und dran …«