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»Da oben!«, rief der Mann. »Auf den Felsen! Jemand ist auf den Felsen!«

»Und wirft Kiesel auf uns?«, fragte der andere. »Was soll das?«

»Er macht sich lustig über uns. Vielleicht ist es nur ein einheimisches Kind. Eines wie das, das wir auf der Lichtung aufgelesen haben.«

»Und wenn nicht?«

Die Frage blieb in der Luft stehen.

»Warte hier«, sagte einer der Männer. Ehe José ganz begriffen hatte, hatten sie ihn stehen lassen und waren auf dem Weg in die Felsen hinauf. Da bewegte sich etwas in Josés Hosentasche. Er machte einen Satz vor Schreck. Das, was sich bewegt hatte, war jetzt aus der Tasche geklettert, und kurz darauf rannte es als brauner Blitz über den Boden. Eine Ratte.

»Carmen«, flüsterte José erstaunt. Wieso war sie hier? Er wusste, dass er sie auf der Mariposa gelassen hatte, zusammen mit Oskar, dem Pinguin, und Jonathan … Carmen führte ihn ein Stück zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dann schlüpfte sie ins Unterholz, dort, wo es am dichtesten war. José folgte ihr. Einen Moment saß er ganz still in dem grünen, modrigen Versteck und auch Carmen saß still. Sie wartete auf jemanden.

Und der Jemand kam.

»Hallo, José«, flüsterte Jonathan und kroch neben ihm ins Gebüsch. José wollte etwas sagen, doch da hörte er die Stimmen der Männer in der Ferne.

»… nicht mehr hier«, sagte einer von ihnen. »… stimmt etwas nicht.«

»Hier stimmt überhaupt nichts«, sagte der andere, näher jetzt. »Lass uns hinübergehen, zur Buccaneer Cove. Ich könnte wetten, der Kleine ist vor uns dort. Ist losgerannt, um jemanden zu warnen. Obwohl ich nicht begreife …«

Die Stimmen entfernten sich.

José atmete ein paarmal tief durch. »Frag mich jetzt bloß nicht, was passiert ist«, sagte er schließlich.

»Was ist passiert?«, fragte Jonathan.

Als sie den Strand erreichten, war es bereits Nachmittag. Auf Josés Stirn standen Schweißperlen, obwohl ein kühler Wind über den Pazifik strich.

»Du bist weiß wie ein Segel«, sagte Jonathan. »Lass mich das Gewehr hinüberbringen.«

José nickte stumm. Er schaffte es kaum, bis zu den Felsen zu schwimmen, zwischen denen die Mariposa gut verborgen vor Anker lag.

Gelegen hatte.

Der Platz zwischen den Felsen war leer.

José schloss einen Moment die Augen. »Jonathan«, sagte er, wassertretend. »Ich kann nicht mehr. Mir ist schlecht. Das ist alles falsch.«

»Ja«, sagte Jonathan. »Ich habe Oskar gesagt, er soll nicht allein wegsegeln, aber er hat sich wohl nicht daran gehalten.«

»Wer ist Oskar?«, fragte José erschöpft.

»Unser Pinguin.«

»Hör mal, das ist ein ziemlich schlechter Zeitpunkt für Witze.«

»Ich weiß«, sagte Jonathan. »Aber manchmal ist alles so … dumm, dass man nur noch Witze machen kann. Ich meine, hier trete ich mitten im Pazifik Wasser und halte ein Gewehr über dem Kopf und habe keine Ahnung, was ich tun soll.«

In diesem Moment pfiff jemand leise. José öffnete die Augen. »Carmen«, sagte Jonathan. »Hey! Musst du … über mein Gesicht …? Au!« Die Ratte hatte bis eben auf Jonathans Kopf gesessen, um nicht nass zu werden. Jetzt kletterte sie über seine Nase hinunter Richtung Wasser und sprang freiwillig hinein. Und dann schwamm sie los. Sie schwamm sehr zielstrebig. Nicht in Richtung Land, sondern um den äußersten der Felsen herum, in Richtung des offenen Meers. Jonathan und José folgten ihr verwundert. Und als sie die Ecke des Felsens erreichten, sahen sie etwas, das er bisher verborgen hatte: Da schaukelte ein Schiff auf den Wellen, ein honigfarbenes Schiff mit einer kleinen Kajüte.

Carmen erreichte die Mariposa als Erste.

Kurz darauf kletterte Jonathan die kleine metallene Leiter am Heck hoch und zog José ins Boot. »Sieh nach«, wisperte José und ließ sich auf eine der Bänke fallen, »ob jemand in der Kajüte ist. Ich wüsste nicht, wer … aber sieh nach!«

Die Tür zur Kajüte klemmte. »Ich kriege sie nicht auf«, sagte Jonathan voller Unbehagen. »Hilf mir mal.« Als José sich von der Bank erhob, packte ihn wieder der Schwindel.

Sie zogen gemeinsam am Griff der kleinen Tür, und José hatte das ungute Gefühl, dass sie sich nicht öffnen würde. Jemand hatte sie zugeschlossen. Von innen. Jemand … In diesem Moment gab die Tür plötzlich nach. Jonathan und José fielen rückwärts auf die Decksplanken. Jonathan setzte sich als Erster auf.

»Oh«, sagte er, »ich muss die Kajütentür offen gelassen haben. Das Abwaschwasser wollte ich eigentlich auch noch auskippen …«

Er half José hoch, und da sah auch er das merkwürdige Bild, das sich ihnen in der Kajüte bot. Unter dem Tisch stand ein Eimer Wasser mit einem badenden Pinguin darin. Den Geschirrlappen hatte der Pinguin aus dem Eimer hinausbefördert, und er war auf der Schwelle der Kajütentür gelandet, wo er sich verklemmt hatte, als die Tür vom Wind zugeschlagen worden war.

Auf dem Tisch stand der Topf mit den Resten der Krabbensuppe. Und daneben stand ein Flamingo. Er hatte den schlanken Hals gebeugt und steckte mit dem krummen Schnabel in der Suppe. Offenbar war er dabei, sie zu filtern. Und er sah aus, als schmeckte ihm, was er fand. Als er die beiden Jungen sah, hüpfte er vom Tisch und stakste umständlich die vier Stufen von der Kajüte hoch an Deck.

»Besser, du fliegst weg«, sagte Jonathan. »Deine Leute sind auch nicht mehr da. Aber du weißt sicher, wo sie hingeflogen sind.«

Der Flamingo flog aufs Kajütendach und sah sich um. José hatte in seinem Leben eine Menge Flamingos gesehen. Sie brüteten in der Nähe des Hafens von Villamil, auf Isabela. Aber nie hatte er einen gesehen, der so ratlos wirkte.

»Ich glaube, er hat keinen blassen Schimmer«, meinte Jonathan. »Wo sie hingeflogen sind, meine ich.«

»Dann … soll er irgendwohin fliegen!«, rief José. »Ksch! Weg! Hau ab!«

Aber die große blaue Weite des Himmels über dem Pazifik, an dem nirgendwo ein Schwarm seiner Artgenossen zu sehen war, schien dem Flamingo mehr Angst einzujagen als dieser nasse Mensch, der mit den Armen fuchtelte. Er schüttelte sich und kehrte zurück unter Deck, um weiter Suppe zu filtern.

José seufzte. »Wir sind doch nicht die Arche Noah!«

Jonathan lachte. »Die Mariposa hat inzwischen eine stattliche Besatzung, was? Ein Flamingo, der nicht fliegen will, ein Pinguin, der nicht mehr schwimmen kann, und eine Ratte, die nicht an Land gehen möchte. Und der Einzige, der das Boot segeln kann, hat eine Gehirnerschütterung.«

»Nein.« José schüttelte langsam den Kopf.

»Nein?«

»Ich bin nicht der Einzige, der die Mariposa segeln kann. Du wirst sie segeln. Du musstes tun. Ich schaffe es nicht.«

Sie teilten sich eine Dose mit kaltem Rindfleisch und öffneten eine mit Fisch für Oskar, und dann erklärte José Jonathan, was er mit Tauen und Segeln zu tun hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, aber schließlich fing sich der Wind in den Segeln der Mariposa, und sie glitt sacht über die Wellen, fort von Santiagos Küste. José hatte Jonathan auch den Kompass erklärt, der über der Kajütentür in einer großen Glaskugel eingelassen war und mit dem Boot schwankte, aber er wusste nicht, ob Jonathan verstanden hatte, wie man danach steuerte. Es war ihm egal. Als die ersten größeren Wellen nach der Mariposa griffen, erbrach er sich über die Reling, und danach legte er sich auf die schmale Backbordbank und versuchte, nicht daran zu denken, wie verquer alles war.

»Der Wind, weißt du?«, sagte Jonathan. »Er hat gedreht. Wenn die Mariposa in ihrem Versteck geblieben wäre, hätte er sie gegen einen der Felsen gedrückt. Ist es nicht merkwürdig, dass sie sich selbst gerettet hat?«

»Hmm«, machte José.

Sich selbst gerettet, was?,höhnte die Abuelita in seinem Kopf. Unsinn! Das Schiff eines Toten rettet sich nicht selbst. Hast du die Unaussprechlichen schon vergessen, die in der Tiefe wohnen? Er hat sie gerufen. Er ist noch an Bord, der tote Segler. Er liebt sein Schiff genau wie zu seinen Lebzeiten, er lässt es nicht im Stich. Behandelt es nur gut, das Honigboot! Wer sein Schiff so liebt, dass er es noch nach seinem Tod bewacht, mit dem ist nicht zu spaßen …