„Die Lebensform der Beschützer ist von der Geburt bis zum Tod ständigen Angriffen ausgesetzt“, fuhr die lautlose Stimme in ihren Gehirnen fort. „Diese fortwährende Körperverletzung spielt eine wichtige Rolle, um das physiologische System in einem optimalen Zustand zu erhalten. Entzieht man diese heftige Stimulation, dann hat das ähnliche Auswirkungen wie das Ersticken, wenn ich die Gedanken des Wesens Conway richtig interpretiert habe. Außerdem kommen noch stark reduzierter Blutdruck, eingeschränkte Sinneswahrnehmungen und ein vollkommener Verlust der willkürlichen Muskeltätigkeit hinzu. Das Wesen Murchison vermutet ebenfalls ganz richtig, daß der betreffende Embryo auf gleiche Weise in Mitleidenschaft gezogen wird.

Als das Wesen Fletcher die Mechanismen im Käfiggang versehentlich wieder eingeschaltet hatte, begann bei meinem Beschützer und mir selbst die Wiedererlangung des Bewußtseins, die durch das erneute Abschalten erst aufgehalten und dann auf Drängen des Wesens, das Sie Prilicla nennen, wiederum in Gang gesetzt wurde. Mit dem Gehirn des Wesens Prilicla kann ich nicht in Verbindung treten, da es für meine Gefühle empfänglicher als für meine Gedanken ist. Und meine Gefühle waren eine Mischung aus großer Eile und Frustration, weil ich Ihnen vor meinem Tod unbedingt die Situation erklären mußte.

Solange noch Zeit ist, möchte ich Ihnen mit meiner ganzen verbliebenen Gedankenkraft für die Kontaktaufnahme danken und dafür, daß Sie mir durch Ihre Gedanken all die Wunder gezeigt haben, die es nicht nur auf meinem Heimatplaneten und dem der blinden Aliens gibt, sondern auch überall in Ihrer Föderation. Und ich möchte mich für die bei der Herstellung dieses Kontakts verursachten Schmerzen und die Verletzung der Gliedmaße des Wesens Fletcher entschuldigen. Wie Ihnen ja nun bekannt ist, hab ich über das Handeln meines Beschützers keinerlei Kontrolle…“

„Moment mal“, unterbrach Conway plötzlich. „Für Ihren Tod gibt es überhaupt keinen Grund. Das Lebenserhaltungssystem und die Mechanismen und Futterspender im Korridor sind und bleiben funktionstüchtig, bis wir Ihr Schiff zum Orbit Hospital bringen können. Wir sind auch in der Lage, Sie zu versorgen. Uns stehen viel mehr Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung als den blinden Aliens…“

Conway verstummte. Trotz des überzeugten Unterstützungsangebots fühlte er sich hilflos. Die Tentakel des schwerelos umhertreibenden und offensichtlich mitten im Gang sterbenden Beschützers schlugen nur noch schwach und planlos um sich, und jedesmal, wenn einer der Tentakel gegen die Wand oder Decke prallte, drehte sich der Körper langsam. Murchison, Fletcher und Conway konnten daher den gesamten Geburtsvorgang gut beobachten. Zuerst tauchte der Kopf, und dann die vier Tentakel des Jungen auf. Bis jetzt waren die Gliedmaßen des Ungeborenen noch schlaff und reglos, weil die Sekrete noch nicht wirkten, die die vor der Geburt bestehende Lähmung aufhoben und gleichzeitig sämtliche, nicht dem Überleben dienende Gehirntätigkeiten unterbanden. Dann zuckten die Tentakel plötzlich, schlugen um sich und zogen den vor kurzem noch Ungeborenen aus dem Geburtskanal des Elternteils heraus.

Noch einmal sprach die lautlose Stimme in ihren Gehirnen, doch diesmal war sie nicht mehr klar und deutlich. Schmerz, Verwirrung und tiefe Besorgnis trübten den verständlichen Mitteilungsfluß. Doch glücklicherweise handelte es sich um eine einfache Botschaft.

„Geboren zu werden bedeutet sterben, meine Freunde. Meine Gedanken und meine telepathische Fähigkeit werden nun zerstört. Ich werde jetzt selbst zum Beschützer eines eigenen Ungeborenen, das wachsen, denken und mit Ihnen in Kontakt treten wird. Bitte kümmern Sie sich um ihn…“

Mit Fletchers gebrochenem Schienbein hatte es einige Probleme gegeben, so daß Conway ihm für eine angenehmere Gestaltung des Rückflugs zum Ambulanzschiff ein starkes Schmerzmittel verabreichen mußte. Fletcher war bei vollem Bewußtsein und sprach wegen der hemmungslösenden Nebenwirkung des Medikaments unaufhörlich und voller Sorge von dem ungeborenen Telepathen und den blinden Aliens.

„Um den Telepathen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Captain“, beruhigte Murchison ihn. Sie hatten Fletcher aufs Unfalldeck gebracht, und Murchison half Naydrad, den Captain vom Raumanzug zu befreien. Conway und Prilicla stellten inzwischen die für eine kleinere chirurgische Behandlung nötigen Instrumente zusammen. „Keine Angst“, fuhr Murchison fort, „das Hospital wird ihn liebevoll und zärtlich umsorgen, obwohl ich mir O'Maras Gesicht sehr gut vorstellten kann, wenn er erfährt, daß der FSOJ in einer Art Folterkammer untergebracht werden muß. Und ganz ohne Zweifel werden auch Ihre Erstkontaktleute da sein, weil sie bestimmt hoffen, ein Wesen, dessen telepathische Kräfte noch über große Entfernungen wirken, zur Zusammenarbeit überreden zu können …“

„Aber die blinden Aliens brauchen die Beschützer am dringendsten“, gab Fletcher mit Besorgnis zu bedenken. „Stellen Sie sich das bloß mal vor, nach Millionen von Jahren in vollkommener Dunkelheit haben sie endlich eine Möglichkeit gefunden zu sehen, auch wenn sich ihre Augen gegen sie selbst wenden und sie buchstäblich umbringen können.“

„Mit der Zeit wird das Hospital auch dafür eine Lösung finden“, entgegnete Murchison beruhigend. „Thornnastor ist ganz versessen darauf, solche Nüsse zu knacken. Zum Beispiel die Sache mit der fortdauernden Empfängnis, dem Embryo im Embryo. Wenn wir die Wirkungen des Sekrets, das den intelligenten Teil des Gehirns kurz nach der Geburt zerstört, herausbekommen und aufheben könnten, dann hätten nicht nur die Ungeborenen telepathische Fähigkeiten, sondern auch die Beschützer. Und wenn man die von ihnen durch die Umweltbedingungen das ganze Leben lang bezogenen Prügel nach und nach abschwächen und schließlich ganz abschaffen würde, gewöhnen sie sich vielleicht sogar den Versuch ab, alles, was sie sehen, zu töten und zu fressen. Die blinden Aliens hätten dann die telepathischen Augen, die sie benötigen, ohne sich einer ständigen Gefahr auszusetzen, und könnten, wenn sie wollten, die gesamte Galaxis durchstreifen.“

Sie hielt inne, um Naydrad beim Abschneiden des Hosenbeins der Uniform des Captains zu helfen, und sagte dann an Conway gewandt: „Er ist jetzt bereit, Doktor.“

Murchison und Naydrad standen bereit. Prilicla schwebte über ihnen und strahlte beruhigende Emotionen aus.

„Entspannen Sie sich, Captain“, sagte Conway. „Denken Sie nicht mehr an die blinden Aliens und die Beschützer, mit denen wird schon alles in Ordnung gehen. Und mit Ihnen auch. Schließlich bin ich Chefarzt im fortschrittlichsten Hospital der Föderation mit vielfältigen Umweltbedingungen. Aber wenn Sie sich schon unbedingt über etwas Sorgen machen müssen, brauchen Sie nur an mein gegenwärtiges Problem zu denken.“ Er lächelte plötzlich und fügte hinzu: „Es muß mindestens zehn Jahre her sein, seit ich das letzte mal einen Schienbeinbruch bei einem DBDG gerichtet hab.“