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Kaufmann hatte inzwischen den Mut zum Extemporieren verloren. „Matrjona, bring das Essen! Matrjona, das Essen!“ jammerte er. Er war in einer dummen Situation. Der ganze Saal fühlte mit ihm, und ein Seufzer der Erleichterung durchfuhr die Zuschauerreihen, als die einäugige Matrjona, mit leerem Geschirr klappernd, endlich auf der Bühne erschien. Die Aufführung ging weiter. Die Jungen spielten gut, und die Zuschauer waren zufrieden. Im zweiten Akt gab es jedoch wieder eine Stockung. Eine Spionin kam in den Stab der Roten. Auf der Bühne herrschte Dämmerlicht, als Sascha Pylnikow, geschmückt mit dem Federhut, geheimnisvoll hereinschlich. Mit satanischer Stimme zischelte sie etwas vom Ende der roten Herrschaft und huschte zur Karte. „Aha, der Angriffsplan!“ murmelte Spionin Sascha heiser. Atemlos beobachteten die Zuschauer die schurkische Spionin der Weißen. Sascha mußte jetzt eine Streichholzschachtel hervorholen, ein Streichholz anzünden und bei seinem Schein den Plan erspähen. Und da, im entscheidenden Augenblick fiel ihm plötzlich ein, daß sich die Streichhölzer unter dem Rock in der Hosentasche befanden. Sascha erstarrte vor Schreck. Aber er hatte keine Zeit zum Überlegen. Er schimpfte sich in Gedanken einen Strohkopf und griff entschlossen in die Hosentasche. Der Saal schrie auf — erschreckt von dem unanständigen Benehmen der Spionin — beruhigte sich aber sogleich, als unter dem Rock die wohlbekannte schwarze Hose hervorkam. Der Zwischenfall hinterließ keine besonderen Folgen. Man hörte nur Japs hinter den Kulissen schimpfen: „Hab' ich euch nicht gesagt, daß Sascha ein Vollidiot ist?“ Der dritte Akt verlief ohne Komplikationen, und damit war das Stück zu Ende.

Der Konzertteil mußte abgesagt werden. Happen hatte vor Lampenfieber alle Saiten seiner Mandoline zerrissen, und sein Auftritt war doch die Hauptattraktion.

Anschließend wurden die Gäste in den Eßraum geführt, wo Tee und belegte Brote und Brötchen auf sie warteten.

Und dabei zeigten die Schkider ihre Standhaftigkeit. Sie waren mords-hungrig, aber sie beherrschten sich tapfer. Es war ein rührender Anblick, wenn so ein Junge, dem das Wasser im Munde zusammenlief, stolz seine Mutter bewirtete: „Iß nur, iß! Wir haben wirklich genug zu futtern.“

„Aber, Liebling, warum eßt ihr denn nicht?“ fragte die Mutter besorgt.

„Wir haben schon gegessen, wir sind satt bis dorthinaus!“ erwiderte der Sohn selbstsicher.

Das Festmahl ging zu Ende. Inzwischen hatten die Schkider Bänke und Stühle aus dem Saal geschleppt, und zu den Klängen des Klaviers begann der Ball.

Die Schkider tanzten leidenschaftlich gern, und besonders gut tanzten sie heute, weil sich unter den Gästen etwa ein Dutzend Mädchen aus dem benachbarten Kinderheim befand. Die Jungen rissen sich um sie — sie flogen von einem Arm in den anderen.

Der Walzer wurde von einem Tango abgelöst, dann kam ein Foxtrott und danach wieder ein Walzer.

Die Jungen glitten dahin, bohnerten den Fußboden mit den Sohlen ihrer Anstaltsstiefel und wirbelten ganze Staubwolken auf. Zwei Uhr nachts war schon vorüber, als Vikniksor schließlich den Klavierdeckel abschloß.

Die Gäste verabschiedeten sich, die Kleinen gingen schlafen, und die Großen brachten die Mädchen aus dem Kinderheim nach Hause, nachdem sie sich von Vikniksor die Erlaubnis geholt hatten. Es war ein vergnügter, lärmender Zug.

Jankel und Ljonka gingen mit. Vikniksor hatte ihnen erlaubt, in Urlaub zu gehen, und sie waren überglücklich. Am Tor verabschiedeten sie sich von den übrigen und schlenderten langsam die Allee hinunter. Unter ihren Füßen knirschte Eis, und ihre Absätze knallten über die rauhen Steinplatten des Bürgersteiges. Stillund leer waren die Straßen um diese nächtliche Stunde. Die Ruhe tat den Blutsbrüdern wohl.

Alles war jetzt bei ihnen in bester Ordnung, und vor allem — sie besaßen zwei Tscherwonzen, mit denen sie zu jeder Stunde nach Odessa oder Baku zum Film fahren konnten.

Die gefrorenen Pfützen krachten unter ihren Füßen. In der Ferne brannten noch die letzten Überreste der Festtagsbeleuchtung: kleine fünfeckige Sterne mit Hammer und Sichel.

Still war es ringsumher…

SCHKID. Die republik der strolche i_051.png

DIE KÜKEN WERDEN FLÜGGE

Aus dem Urlaub zurück * Jankel in Nöten * Wir fahren! * Gespräch in Vikniksors Arbeitszimmer * Letztes Lebewohl * Die Küken fliegen aus.

Ein gebratnes Küken,
ein gekochtes Küken
tat in Petrograd spaziern.
Als es kam gegangen,
wurde es gefangen,
denn man wollt' es füsiliern.

Jankel ging nicht — er tanzte und pfiff sich den Takt dazu. Ihm war besonders leicht und froh zumute. Sogar die heutige Mathematikstunde schreckte ihn nicht, obgleich er seine Aufgaben nicht gelernt hatte. Der Impuls von Lebensfreude, den ihm der Festtag gegeben hatte, war noch nicht verflogen. Schön war der Tag gewesen, auch mit der Aufführung hatte alles geklappt, und der Urlaub hatte großen Spaß gemacht.

Ich bin nicht sowjetisch
und auch nicht kadettisch.
Leicht könnt ihr den Todesstoß mir geben.
Ach, laßt das Schießen
und auch das Spießen,
denn die Küken hängen auch am Leben.

Die Absätze klapperten zu der Melodie über das Pflaster, während Jankel gedankenversunken durch die frostigen, morgendlich verschlafenen Straßen marschierte. Der Feiertag war zu Ende. Über das Pflaster zogen sich schon die frischen Schrammen von den schweren Rädern der Lastwagen, und die Menschen liefen wieder mit nervösen Alltagsgesichtern auf dem Bürgersteig. Jankel versuchte, sich ebenfalls auf den Alltag umzustellen und an den Unterricht zu denken, aber daraus wurde nichts. Seine Lippen summten weiter:

Ein stolzer Hahn,
mit Sporen an,
ging in Petrograd spaziern…

Da war die Schkid. Munter kletterte er die Treppe hinauf und zog die Klingel.

Ach, laßt das Schießen
und auch das Spießen…

„Aha, Jankel! Na, Mann, du sitzt schön in der Tinte!“

…denn die Küken hängen auch am Leben…

Jankels Lied brach ab. Ein bitterer Kloß stieg ihm beim Anblick des erschrockenen Gesichtes, das der Diensthabende machte, in die Kehle. „Was ist los?“

„Toller Skandal!“

„Was denn für ein Skandal?“

Doch als der aufgeregte Jankel weiterfragen wollte, war der Diensthabende schon in der Küche verschwunden.

Jankel lief zu seiner Klasse, riß die Tür auf und prallte zurück, betäubt von dem Krach. Die Klasse tobte vor Zorn und Aufregung. Als die Jungen Jankel erblickten, stürzten sie zu ihm hin. „Skandal!“

„Unerhört!“

„Die Decken sind geklaut“

„Vikniksor ist außer sich.“

„Er erwartet dich.“ „Du sollst das verantworten.“

Noch immer verständnislos, ging Jankel zu seiner Bank und setzte sich. Erst jetzt erfuhr er alles der Reihe nach. Als er in Urlaub ging, war die Bühne noch nicht aufgeräumt, niemand gab der Beschließerin die Decken zurück, und sie blieben so lange hängen, bis Vikniksor am nächsten Abend anordnete, sie abzunehmen und in die Kleiderkammer zu bringen. Es waren nicht mehr zehn, sondern nur noch acht. Zwei waren spurlos verschwunden.

Diese Neuigkeit schmetterte Jankel zu Boden. Seine Fröhlichkeit war wie weggeblasen, seine Lippen sangen nicht mehr das „Küken“. Er sah sich um, und als er Ljonka erblickte, fragte er hilflos: „Was nun?“