Plötzlich zerfall der Sowjetunion, der Professor wurde zum Held und als Held emigrierte er nach Amerika. Man erteilte Tomek eine Erlaubnis wieder zu unterrichten. Aber jetzt reichte ihr Lohn nicht mehr, um zu überleben. Wieder war der Sold nicht reichlich genug, um zu Leben, aber auch ausreichend genug, um nicht aus den Pantinen zu kippen.
Tomek begann in anderen Hochschulen von Rostow zu unterrichten. Zuerst war es nur eine, dann zwei, drei und am Ende sieben. Tomek rannte den ganzen Tag durch die Stadt, von einer Hochschule zur andere. In einigen Monaten passierte ihr es öfter und öfter, dass sie total vergaß, was für ein Fach sie an jener oder dieser Hochschule unterrichten sollte. Sie fragte danach die Studenten, was eigentlich nicht ausgesprochen elegant aussah. Tomek fühlte, dass sie sich langsam in Wahnsinn trieb.
Samt und sonders basierte ihre Entscheidung, nicht mehr zu unterrichten, eher auf ökonomischen Gründen. Wohl oder übel musste sie eine anständigere, profitablere und solide Arbeit aussuchen. Buchhaltung schien ihr die richtige Wahl zu sein – sie arbeitete doch im Gebiet der Wirtschaftswissenschaft und war sehr gut in Statistik. Sie hatte Recht – die Buchhaltung an sich konnte sie gut, aber die Arbeit als Buchhalterin war viel mehr als bloße Buchführung. Wie es sich in Kürze herstellte, hatte sie die Rechnung, so fachsprachlich zu sagen, ohne den Wirt gemacht. Tomek war ein kluges Mädchen und konnte verschiedene Wege im Rahmen des Gesetzes finden, um den Profit zu maximieren. Man verlangte aber von ihr, diese Rahmen zu brechen. Das wollte sich nicht. Das Gehalt war gut, die Perspektive vor Kerker war bange.
Zufällig begegnete sie ihrer alten Bekannten, die in einem Verlag arbeitete. Die erzählte ihr, dass der Besitzer des Verlags nach einem Redakteur suchte. Hier muss man erwähnen (im Sinne behalten), dass ein Redakteur in Russland ganz andere Aufgaben hat, als ein Redakteur in sonstigen anderen Ländern der Welt. Ein Redakteur in Russland korrigiert die Texte der Autoren, den Stil der Autoren, macht diese armseligen gibberischen Texte klar und lesbar, selber aber schreibt er nicht. Tomek hatte nichts zu verlieren, und so begegnete sie dem Besitzer und Direktor des Verlags „Gamaün“ — Monja Feldmann.
Monja stammte aus einer wohlhabenden Familie, von der alle Mitglieder im Handel tätig waren. Die Mutter arbeitete in einem Lebensmittelladen in Süßwarenabteilung und verdiente ihr Geld mit dem Zucker. Man verkaufte Zucker in der UdSSR gewöhnlicherweise nach Gewicht. Schlaue Verkäufer platzierte Eimer mit Wasser neben den Säcken mit Zucker und während der Nacht aufsaugte Zucker alle Wasserdämpfe. Solch ein Arbeitsplatz war praktisch wie eine Goldgrube.
Monjas Vater bekleidete den Platz eines Direktors eines Gemüselagers. Man denkt wahrscheinlich, dass man mit Gemüse kein richtig großes Geld verdienen kann, da irrt man sich. Gemüselager war nicht bloß eine Goldgrube, sondern eine Diamantengrube. Man bekam Geld, indem man immer wieder Gemüse umsortiert. Aus zweiter Sorte wurde erste Sorte, aus dritter Sorte – zweiter. Die Diskrepanz zwischen den Preisen konnte man ruhig kassieren. Diese Umsortierung brachte eine Unmenge von Geld. Natürlich brauchte man viele Leute, um solche Arbeit zu erledigen. Hier aber kamen sowjetische Behörden zur Hand. Immer gern. Es gab damals so einen Witz: Für die Lösung welche wissenschaftliche Aufgabe brauchte man ein wissenschaftliches Kollektiv, das aus einem Programmierer, einem Philosophen, einem Physiker, einem Chemiker, einem Ökonomen und einem Philologen besteht? Die richtige Antwort war: Solch ein Kollektiv ist gut bestückt für die Gemüseumsortierung. Diese Arbeit, genauso wie Dienstreisen nach Kolchos, um den Kolchosniken bei der Ernte zu helfen, war die offiziell unterstützte öffentliche Erniedrigung der Intelligenzia, die ihren Platz erkennen sollte, wenn beliebt. Genosse Lenin sagte mal, dass Intelligenzia die Scheiße der Nation sei, und kommunistische Partei machte alles, damit Intelligenzia ebenso sich fühlte.
Nichtsdestoweniger wollten Monjas Eltern nicht, dass ihr Kind sich mit dem Handel beschäftigte. Vielleicht lag es daran, dass Monjas Vater schon drei Mal im Knast war und Monjas Mutter einmal verhaftet wurde. Monja sollte ein Ingenieurdiplom vom Institut für Landwirtschaftsbauwerk bekommen, was er auch tat.
Nach dem Institut arbeitete er als Ingenieure für Arbeitsschutztechnik und langweilte sich bis zur Tode. Monja kam morgens in sein Arbeitszimmer, schloss die Tür und schlief bis zur Mittagspause. Dann aß er zu Mittag, ging etwas spazieren und kam wieder in sein Arbeitszimmer. Er las etwas und schlief danach bis zum Ende des Arbeitstages.
Zum Leben erwachte Monja nur am Wochenende. Er stand sehr früh auf, packte seine Sachen und eilte zum Markt. Das war ein besonderer Markt, ein fast illegaler Markt, ein Markt, wo man Bücher verkaufte und als Underground bezeichnete. Man nannte diesen Markt Shodka, was so etwa Ähnliches wie „geheime bolschewistische Meeting“ bedeutete. Offiziell durfte man dort die Bücher nur umtauschen, inoffiziell konnte man alle begehrten Bücher kaufen, die man in freiem Handel nie sah. Von Zeit zu Zeit führte die Miliz Razzien, verhaftete Spekulanten, die die Bücher verkauften und schickte Briefe an ihren Arbeitgeber, wo schwarz (was sonst?) auf weiß geschrieben stand, dass ihre Mitarbeiter unterm verderblichen Einfluss des Kapitalismus stünden. Die Spekulanten wurden danach in Partkom (Komitee der kommunistischen Partei) und Profkom (Komitee der Gewerkschaft) eingeladen, wo man ihnen verständlich erklärte, wie schlecht, gefährlich und widerlich dieses Kapitalismus war. Danach organisierte man die Versammlung des gesamten Kollektivs, wo die Spekulanten öffentlich ihre Taten bereuten und versprachen so was nie mehr zu tun. Alle waren zufrieden und die Geschichte konnte sich nun wiederholen. Und Monja ergab sich wieder dem Wagnis. Demgemäß kannte Miliz Monja sehr gut. Er sollte schon seit langem gefeuert werden, oder gar im Knast, aber seine Eltern halfen ihm immer, indem sie die Miliz und seine Vorgesetzten schmierten.
Während der Zeit, die er im Arbeitsschutztechnikzimmer totschlug, las Monja vielbändiges Lehrbuch für russische Geschichte von Klütschewskij. Man muss gestehen, dass das Lesen alle diese Bände nicht gerade leicht und mehr oder weniger langweilig ist. Gelinde gesagt, es ist eine Heldentat, wenn sie verstehen, was man meint. Als Monja die letzte Seite las, fühlte er, dass er ab sofort an zur Intelligenzia gehörte, zur auserlesenen Schicht der Eggheaded (Eierköpfe) – fachlich gesagt.
Diese Heldentat vergaß Monja nie, er erzählte allen immer wieder davon. Als Folge dieser Tat entschied Monja, dass es keinen Sinn mehr gäbe, andere Bücher zu lesen. Er war schon genug belesen, und zwar über alle Maßen. Er wusste, welche Bücherserien besonders populär waren, um die auf Shodka zu kaufen und zu verkaufen. Das war genug, um Profit zu erwirtschaften. Und außer Profit bekam Monja noch vom Shodka volle Anerkennung. Er konnte alle Bücher beschaffen und allenfalls war er dazu ein Mann von Intelligenzia.
Seine Eltern unterstützten Monjas Bücherhobby öffentlich nicht, innerlich waren aber stolz darauf, dass ihr Sohn so ein Gefühl für Handel erbte. In der Tat, dieses Gefühl wurde Monja in die Wiege gelegt. Als er acht Jahre alt war, gelang es Genossen Chruschtschöw eine Lebensmittelkrise in der UdSSR zu provozieren. In Lebensmittelläden gab es überhaupt nichts zu sehen, weißes Brot bekamen nur Kranken bei Vorhandensein eines Attests vom Arzt, alle andere begnügten sich mit scheußlichem grauem Brot, das man aus schlechtem Weizen und Erbsen produzierte. Die Menge des Brotes, die man einkaufen durfte, war sehr begrenzt und Vorräte reichten nicht für alle. Deshalb stand man schon frühmorgens Schlange, um am Abend etwas Brot zu bekommen. In dieser düsteren Zeit zeigte sich Monjas Handelstalent in seiner vollen Pracht. Er, achtjähriger Knabe, stand um drei Uhr nachts auf, lief zum Bäckerei und stellte sich in der Schlange nicht bloß einmal an, sondern mehrmals. Später, als die Schlange schon groß genug war, verkaufte Monja fürs Kleingeld seine Plätze in der Schlange an Leute, die es eilig hatten. Monja kannte Genossen Chruschtschöw nicht persönlich, war aber sehr gestört, als man diesen Genossen durch Genossen Breschnew ersetzte. Monjas Business brach zusammen. Monja wurde bewusst, und zwar nicht aus zweiter Hand, dass man in der Sowjetunion private Unternehmer nicht zu schätzen pflegt, deswegen mochte er Genossen Breschnew nicht so sehr.