Eva nahm die Karte, legte sie auf ihren Schreibtisch

und stellte die Beatles-Platten nebeneinander in den Stдnder.

»Na ja, dann nicht«, sagte die Mutter und ging zu­rьck in die Kьche.

Eva nahm die Karte und drehte sie um. In sauberer, kindlicher Schrift stand da: »Meine liebe Eva! Ham­burg ist wunderschцn. Ich bin gerade erst angekom­men. Schade, dass du nicht da bist. Ich schreibe dir bald. Dein Michel.«

Eva lachte. Viel war das nicht, aber sie freute sich, dass er sofort an sie gedacht hatte.

Laut singend machte sie ihr Zimmer fertig.

»Mama, ich hole mir einen BlumenstrauЯ. Soll ich dir etwas mitbringen?«

»Zwei Liter Milch und ein Pfund Salz. Und sechs Дpfel. Ich will Milchreis machen.«

Eva wдhlte einen StrauЯ Wiesenblumen fьr eine Mark achtzig. Ich fahre nдchste Woche mal mit der S-Bahn in irgendein Dorf und dort werde ich spazieren gehen, nahm sie sich vor. Sie sah die Wiese, eine Hang­wiese wьrde es sein, in der Sonne, voller Blumen. Richtig bunt wьrde die Wiese sein. Sie wьrde sich mit­ten hineinlegen und in den blauen Himmel schauen. Bienen wьrden ьber sie hinwegfliegen und im nahen Wald wьrde ein Kuckuck rufen. Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch? Eins, zwei, drei, vier ...

Eier und Schmalz, Butter und Salz, Milch und Mehl,

Safran macht den Kuchen gel, sang sie, als sie die Trep­pe hinaufstieg.

Die Mutter fuhr mit Berthold zum Kaufhof. Er brauchte noch Unterhosen und neue Gummistiefel, wenn er morgen zu Tante Irmgard fuhr.

Eva setzte Teewasser auf und goss die Blumen im Wohnzimmer. Da klingelte es. Eva drьckte auf den Tьrцffner und hцrte, wie unten die Haustьr mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.

»Ich bin's«, sagte Franziska. »Mir war langweilig zu Hause.«

»Komm rein.«

Und dann saЯ Franziska, brдunlich in der hellen Ho­se und dem hellblauen Hemd, in Evas Zimmer. Sie saЯ auf dem Bett und lehnte sich mit dem Rьcken an die Wand, die Beine hatte sie weit von sich gestreckt. Wie eine Katze liegt sie da, so entspannt, dachte Eva. Rich­tig schцn.

»Hast du Lust, Mathe zu machen?«, fragte sie.

Franziska schьttelte den Kopf. »Heute nicht, mor­gen.«

Was fьr ein Tag. Wann hatte sie einmal Besuch ge­habt in ihrem Zimmer? Nie? Wirklich nie?

»Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

Franziska lachte und streckte sich. »Mach doch mal Musik an!«

Eva legte eine Kassette ein.

»Bei dir ist es richtig gemьtlich. Aufgerдumt.«

Eva dachte an Franziskas Zimmer, an den groЯen Raum in der Altbauwohnung, mit hoher Stuckdecke und schцnen, alten Mцbeln. Die ganze Wohnung war so, schцn, aber unordentlich war sie auch.

»Eure Wohnung gefдllt mir viel besser.«

»Mir nicht. So ein Zimmer, wie du es hast, klein, ge­mьtlich, das ist viel schцner. Hast du schon mal in ei­nem Altbau geschlafen? Nein? Dann musst du bald mal bei mir ьbernachten. Ьberall knistert und knarzt es in der Nacht. Das ist richtig unheimlich. Ich habe immer Angst davor, nachts aufzuwachen.«

Du musst bald mal bei mir ьbernachten, hatte sie gesagt. Eva hatte noch nie bei einer Freundin ьber­nachtet.

»Ich hatte frьher, als Kind, oft Angst nachts«, er­zдhlte sie. »Ich stellte mir vor, was alles passieren kцnnte. Einbrecher kцnnten kommen, Mцrder, oder das Haus kцnnte in Brand geraten. Dabei ist in Wirk­lichkeit nie etwas passiert.«

»Das kenn ich«, sagte Franziska. »Ich bin dann im­mer zu meiner Mutter ins Bett gestiegen. Leider bin ich jetzt schon zu groЯ dafьr. Ich habe gern bei meiner Mutter geschlafen.«

»Ich habe nie bei meiner Mutter geschlafen«, sagte Eva. »Aber wenn ich geweint habe, ist sie immer ge­kommen und hat mich getrцstet.«

HeiЯe Milch mit Honig und ein Butterbrot. Oder ein paar Kekse. Und wenn es gar zu schlimm war, gab es eine Tafel Schokolade. Verdammt, immer war es Es­sen gewesen. Essen ist gut, Essen vertreibt jeden Kum­mer!

Eva stand auf und ging zum Kassettenrecorder. Sie zog den Bauch ein beim Gehen.

»Die andere Seite?«, fragte sie.

»Ja, bitte.«

Eva drehte die Kassette um. Ich muss mir die Haare waschen, dachte sie. Unbedingt muss ich mir heute Abend die Haare waschen.

»Ich fand das toll, wie du das mit dem Brief an das Direktorat gemacht hast«, sagte Franziska. »Ich habe dich das erste Mal richtig reden hцren, morgens in der Schule und dann nachmittags bei uns zu Hause. Sonst sagst du ja kaum was. Man muss dir die Wцrter fast einzeln aus der Nase ziehen.«

Eva, verlegen, zog ihren Rock ьber die Knie. »Ich bin halt kein groЯer Redner.«

»Aber du kannst das«, sagte Franziska. »Wieso bist du nicht Klassensprecherin geworden?«

Eva, getroffen von dieser plцtzlichen Aufwertung, wandte sich ab. Antwortlos, sprachlos holte sie den Tee aus der Kьche.

Eva stand vor ihrem Bьcherregal. Hinter den anderen Bьchern steckte, in Querlage und gut getarnt, das Diдtbuch. Es war nicht leicht gewesen, ein sicheres Versteck zu finden.

Eva dachte an die Situation in der Buchhandlung, an ihren heimlichen Diдtversuch, an all die Verzweiflung, die niemand merken durfte, und zцgerte. Doch dann nahm sie das Buch heraus und ging schnell in die Kь­che. Ihre Mutter saЯ am Tisch und las die Zeitung.

»Mama«, sagte Eva und legte das Buch auf den Tisch. »Kannst du nicht fьr mich mal anders kochen? Ich wьrde gern ein bisschen abnehmen, wenn es geht.«

Die Mutter schaute erstaunt auf. »Wieso? Hat dein Freund etwas gesagt?«

Eva schьttelte den Kopf. »Nein, nicht deswegen. Aber ich finde mich zu dick.«

»Aber du siehst doch gut aus«, sagte die Mutter. »Und dass du so schwer bist, das hast du vom Papa.«

»Und vom Essen.« Eva wollte das Buch schon wie­der nehmen, es wдre einfacher gewesen und es ging ihr nicht mehr wirklich um die Diдt, doch sie dachte an die Heimlichkeiten, an die verborgene Scham, und re­dete weiter: »Ich glaube ja auch nicht, dass ich dьnn werde. Aber ausprobieren mцchte ich es gern und ich will es nicht heimlich tun. Ich will nicht mehr heimlich essen und nicht mehr heimlich hungern. Nein, hungern will ich ьberhaupt nicht mehr. Aber wir kцnnten doch mal probieren, ein bisschen anders zu essen.«

Die Mutter nahm neugierig das Buch und blдtterte darin herum. »Natьrlich«, sagte sie. »Natьrlich kann ich dir so etwas kochen. WeiЯt du was? Ich mache auch mit. Schaden kann es mir nicht. Und dem Papa

erst recht nicht. Und jetzt in den Ferien kцnnen wir das wirklich machen.« Die Mutter war ganz begeistert. »Schau mal, da das Mittagessen: Fischfilet Neptun mit Grilltomaten. Das hцrt sich doch prima an. Soll ich das heute machen? Und zum Nachtisch Eis?«

»Ja«, sagte Eva. »Soll ich fьr dich einkaufen?«

»Wir kцnnten zusammen gehen. Magst du, dass wir zusammen gehen?«

Eva nickte. »Gern. Wir gehen zusammen einkaufen und dann kochen wir zusammen.«

»Und wenn es dem Papa nicht schmeckt, dann schicken wir ihn ins Restaurant.«

Eva lachte. »Traust du dich das?«

Die Mutter zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nicht. Aber ich werde fьr dich das kochen, was du willst. Bestimmt.«

Eva legte ihrer Mutter die Arme um den Hals und kьsste sie.

»Eva«, sagte die Mutter, »ach, Eva. Du sollst es bes­ser machen als ich. Du sollst gescheiter sein.«

19

Eva und Franziska hatten gelernt und dann gingen sie in die Stadt. »Soll ich mit dir gehen?«, hatte Franziska gefragt, als sie von dem Hundertmarkschein gehцrt hatte. »Komm, lass mich mitgehen. Ich gehe gern ein­kaufen.«

»Ich weiЯ aber noch gar nicht, was ich will«, hatte Eva zцgernd geantwortet. Wie wьrde das sein, anpro­bieren, wenn Franziska dabei war? Einkaufen mit der Mutter, das war etwas anderes. Die Mutter kannte Eva, schaute nicht auf den dicken Busen, wusste um die GrцЯe ihres Hinterns. Franziska, hatte sie vielleicht noch gar nicht gemerkt, wie dick Eva war? Wьrde es ihr auffallen, wenn Eva Hosen probierte?