»Natьrlich. Du mir auch?«

Michel legte den Arm um sie. Eva lachte und schaute den Vorьbergehenden direkt ins Gesicht. »Schaut her«, hдtte sie am liebsten laut gerufen. »Schaut alle her! Ich habe jemand. Ich, die dicke Eva, habe einen Freund.«

Sie waren aus den Anlagen heraus, gingen am Ufer

entlang, ьber Kies und moosbewachsene Steine. EvЈ ging langsam, vorsichtig. Sie wusste, "was kommer wьrde.

Sie trafen einen Angler, der reglos dastand und der rotweiЯen Schwimmer an seiner Angelschnur beobach­tete, der weit drauЯen in der Strцmung trieb.

Dann war niemand mehr.

Michel ging vor, bahnte den Weg durch das Busch­werk und hielt die Zweige zur Seite. Auf einer kleiner Lichtung setzten sie sich ins Gras. Eva pflьckte einer Grashalm und kaute darauf herum. Er schmeckte bitter.

»WeiЯ deine Mutter, dass du bei mir bist?«, fragte Michel.

»Nein, sie denkt, ich wдre bei einer Freundin.«

Michel lachte. »Ich habe zu Hause auch nichts ge­sagt, wegen Ilona.«

»Meint sie immer noch, dass ich an allem schule bin?«

»Ja. Sie liebt Frank. Ich weiЯ auch nicht, warum.«

»Dich nicht?«

»Doch. Mich auch.«

Sie lagen nebeneinander im Gras, dicht nebenei­nander.

Eva war wehrlos unter Michels Streicheln, seinen Atem an ihrem Hals, seinen Hдnden.

»Nein«, sagte sie. »Nicht.«

»Nicht«, sagte sie. »Noch nicht.«

Sie richtete sich auf. »Ich will nicht. Nicht jetzt.«

»Aber du bist doch mein Mдdchen«, sagte Michel hilflos. »Ich bin dein Freund. Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben.«

Angst? War das Angst?

Sie nahm einen Kдfer, der ьber ihr Bein krabbelte, vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und setzte ihn zurьck ins Gras. Dann streckte sie sich wie­der neben Michel aus.

»Die Sonne blendet.«

»Jetzt nicht mehr.« Michel legte sein Gesicht ьber ihres. Eva hцrte eine Hummel an ihrem Ohr vorbei­brummen. Sie kьssten sich. Michels Augen waren nicht mehr so braun, um die Pupillen herum hatte er grau­grьne Flecken. Wie lang seine Wimpern waren!

»Das mag ich«, sagte Eva. »Das schon: so mit dir zu liegen.«

Michel streichelte sie. Seine Hдnde! Eva lag mit ge­schlossenen Augen. »Du bist ein schцnes Mдdchen«, sagte Michel.

Das Dunkel war kein Dunkel. Vor ihren Augen zersprangen rote Kreise, sprьhten Funken in violette Nebel.

»Nein«, sagte Eva. »Ich will das nicht. Nicht jetzt. Nicht so. Ich weiЯ nicht, warum, aber es macht mir Angst.«

Michel antwortete nicht. Sie stemmte ihre Arme ge­gen ihn. Er rutschte von ihr herunter. Er hatte die

Arme um sie gelegt, drьckte sich an sie, drдngte von der Seite gegen ihr Bein. Wie ein Hund, dachte Eva er­schrocken. Genau wie ein Hund.

Sie sah dieses nackte Gesicht, dieses fremde Gesicht, schutzlos, hilflos, mit geschlossenen Augen, sah die ge­цffneten Lippen, sah die Haut, gespannt ьber den Ba­ckenknochen, die etwas unregelmдЯigen Zдhne, die Eckzдhne standen vor. Seine Nasenflьgel waren sehr dьnn und zitterten. Noch nie hatte Eva ein so nacktes Gesicht gesehen. Michel atmete sehr laut und schnell.

Eva fьhlte plцtzlich die Peinlichkeit dieser Situation, wollte sich entziehen, aber Michel umklammerte sie fest, vergrub sein Gesicht an ihrer Brust und stцhnte.

Dann lieЯ er sie los, drehte sich auf den Bauch und lag, das Gesicht zur Seite gedreht, schweigend da.

Eva setzte sich auf. Sie war ratlos. Sie wusste nicht, ob sie etwas falsch gemacht hatte, sie wusste nicht, was Michel jetzt dachte. Sie war traurig. Sie betrachtete den Strauch neben sich. Was war das fьr einer? Dornen und winzige weiЯe Blьten. Warum hatte sie in Biologie nicht besser aufgepasst? Warum sagte Michel nichts? Sie dachte an Ilona. Wie sanft sie Franks Kopf gehalten hatte.

Eva drehte sich um und berьhrte Michel. »Bist du jetzt sauer?«

Pause.

»Ich kann nicht«, sagte Eva. »Nicht so schnell. Es macht mir Angst, ich weiЯ auch nicht, warum. Es ist

so ...« Sie suchte nach dem Wort fьr ihr Unbehagen, fand es nicht und schwieg.

»Macht doch nichts«, sagte Michel. »Dann halt nicht. Ich habe ja gewusst, dass du nicht so bist wie die anderen Mдdchen.«

»Vielleicht werde ich noch so«, sagte Eva. »Vielleicht lerne ich es noch.«

16

»Ich habe eine Neuigkeit fьr euch«, sagte Herr Hochstein. »Es wird noch eine zusдtzliche neunte Klasse eingerichtet. Fьnf Schьlerinnen sollen aus den bestehenden Klassen in die neue ьberwechseln. Nach Mцglichkeit sollen es welche sein, die sich freiwillig melden.«

»Warum?«, fragte Susanne, die Klassensprecherin. »Warum soll es plцtzlich noch eine Neunte geben?«

»Die Klassen sind zu groЯ, das wisst ihr doch auch. SiebenunddreiЯig! Es wird euch viel besser gehen, wenn ihr weniger seid. Also, ьberlegt es euch und re­det mal darьber. Morgen machen wir eine Diskus­sionsstunde, falls es Schwierigkeiten gibt.«

Eva saЯ ganz still. SiebenunddreiЯig, dachte sie. Na­tьrlich sind SiebenunddreiЯig zu viel. Aber auch nicht viel mehr als zweiunddreiЯig. Und so lange sind wir jetzt zusammen, beinahe fьnf Jahre. Da kцnnen die doch nicht einfach kommen und sagen: Fьnf mьssen raus. Welche fьnf? Wer wьrde gehen?

Sie sah, von ihrem Platz in der letzten Reihe, dem Platz neben Franziska, die Kцpfe, die sich ьber die Hefte beugten, sah Hдnde, die nach dem Lineal grif­fen, nach Bleistift und Zirkel, hцrte das dumpfe

>plopp<, mit dem Zirkel auf Papier stieЯen, das leichte Kratzen der Bleistifte, Rascheln beim Umblдttern.

Christine hustete. Sie hustete schon die ganze Wo­che. Wie konnte sie sich nur so erkдltet haben, jetzt, mitten im Sommer? Heidi und Monika waren krank. Heidi fehlte schon seit ьber drei Wochen. Was hatte sie eigentlich? Warum kьmmerte sich niemand darum? Brachte Inge ihr die Aufgaben? Sie wohnten nebenein­ander. Aber Inge steckte doch eigentlich immer mit Brigitte und Nina zusammen.

»Welcher Winkel ist denn da gemeint bei der Aufga­be b?«, fragte Maxi.

»Alpha 32 Grad natьrlich«, antwortete Irmgard hin­ter ihr. Irmgard hatte eine neue Bluse an, rosa. »Das wird die Modefarbe.« Karola, Fachmann in Fragen der Garderobe, hatte das bestдtigt.

Wer wьrde freiwillig aus der Klasse gehen?

Agnes, in der ersten Reihe, weil sie so kurzsichtig war, die Kleinste aus der Klasse, sah aus wie zwцlf, trug immer nur Bluejeans und T-Shirts, sie sah jeden Tag gleich aus. Ob ihre Eltern kein Geld hatten? Clau­dia und Ruth flьsterten miteinander. Sie wьrden sich nie trennen. Sie waren schon seit der fьnften Klasse miteinander befreundet. Die Einzigen eigentlich, bei denen die Freundschaft gehalten hatte. Maja und Anna waren lange zusammen gewesen, aber jetzt ging Maja mit Ines und Anna mit Susanne.

Was war eigentlich, wenn freiwillig niemand aus der

Klasse ging? Die Turnstunden fielen ihr ein, wenn Mannschaften gebildet wurden. Waren es die, die erst am Schluss gewдhlt wurden, die gehen mussten?

Was dachten die anderen? Wurde von ihr erwartet, dass sie freiwillig gehen sollte?

Warum ich?, dachte Eva. Ich will nicht gehen. Ich kenne alle. Alexandra war eine AuЯenseiterin, sie und Sabine Karl. Keiner mochte Sabine Karl. Warum ei­gentlich nicht? Wьrden sie jetzt wollen, dass Sabine Karl geht?

Eva kдmpfte gegen die aufsteigende Trauer und Re­signation. Es ist nicht nur, dass ich alle kenne, dachte sie. Kennen ist es nicht allein. Es ist noch etwas ande­res. Hier gehцre ich her, hier in diese Klasse.

Karola stцhnte ьber der Aufgabe. Von ihr wьrde niemand erwarten, dass sie ginge. Sie, Lena, Babsi, Tine und Sabine Mьller, die waren eine richtige Clique, die Schцnen, die in den Pausen immer zusammensteckten.

Was passierte wirklich, wenn keine freiwillig gehen wollte? Konnte man das per Beschluss entscheiden? Oder mit geheimer Wahl? Eva fror.

»Eva, hast du heute keine Lust zum Arbeiten oder was?«, fragte Herr Hochstein.