Im Bett dachte sie noch einmal: Zwei Jahre, drei Monate und fьnf Tage. Sie sagte das Wort: »Freiheit«, und lieЯ es mit einem Stьck Schokolade auf ihrer Zun­ge zergehen.

Freiheit. Freiheit!

12

Eva hatte einen braunbeige gestreiften Stoff gewдhlt. »Etwas Auffallendes kannst du nicht tragen«, hatte die Mutter gesagt, »aber etwas Frischeres, Krдftigeres sollte es schon sein. Schau mal der Rote da, ein ganz modernes Muster,«

»Nein«, hatte Eva beharrt. »Dieser da.«

»Na ja, wie du willst. Er Ist aber ziemlich teuer.« Aber sie hatte ihn gekauft. »Vielleicht hast du Recht. Streifen strecken.«

Bei der Schmidhuber saЯen sie dann um den groЯen Wohnzimmertisch herum und blдtterten in Modehef­ten. Es gab selbst gemachte Kekse und Limo. Die Mut­ter und die Schmidhuber benahmen sich so aufgeregt, als gingen sie selber zum Tanzen.

»Mein Gott, Renate, weiЯt du noch, wie wir frьher rumgelaufen sind, in was fьr Fдhnchen!«

»Es gab noch nicht so viel«, sagte die Schmidhuber. »Das Geld hat nicht gereicht fьr viele Kleider.«

»Aber schцn war's doch!«

»Hier«, sagte Eva und deutete auf ein einfaches Sommerkleid mit kurzen Дrmeln und rundem Aus­schnitt. »So ein Kleid hдtte ich gern. Kannst du das machen?«

Aber natьrlich, Evachen. Wenn du das willst! Sol­len wir nicht noch weiter suchen?«

»Nein. So eines hдtte ich gern.«

Eva half der Schmidhuber beim Tischabrдumen. Die Schmidhuber legte den Schnittmusterbogen mit dem Gewirr von Linien auf den Tisch und ein durchsichti­ges Papier darьber. »Dass du dich da zurechtfindest!«, sagte Eva.

Die Schmidhuber lachte. »Gelernt ist gelernt«, sagte sie.

Bevor sie den Schnitt auf den Stoff ьbertrug, verglich sie Evas MaЯe mit den angegebenen und zeichnete an der Hьfte noch ein paar Zentimeter dazu. Eva war ihr dankbar, dass sie nicht wie sonst gesagt hatte: Du bist ja wieder dicker geworden.

»Wenn ich noch mal so jung wдre«, sagte die Mutter, »wьrde ich alles anders machen.«

»Wie denn?«, fragte Eva.

»Ich weiЯ nicht«, antwortete die Mutter. »Anders. Ich wьrde nicht mehr so frьh heiraten.«

»Aber du hast es doch ganz gut getroffen«, warf die Schmidhuber ein und fing an, den Stoff zu zerschnei­den. »Dein Mann ist fleiЯig und hдuslich und schaut nicht nach anderen Frauen. Und zwei gute Kinder hast du.«

Eva biss die Zдhne zusammen.

»Ja. Ja. Man muss dankbar sein dafьr«, sagte die Mutter. »Da hast du Recht. Aber trotzdem...! Die

Tage gehen vorbei, und ehe du dich versiehst, ist wie­der ein Jahr um.« Sie wischte sich mit der Hand ьber die Augen.

Freiheit, dachte Eva. Freiheit, Freiheit, Freiheit! Und sie steckte sich noch einen selbst gebackenen Keks in den Mund. Er schmeckte sehr gut.

»Evachen, wenn du auf mich hцrst, dann lernst du so einen Beruf, dass du nie auf einen Mann angewiesen bist. Auf sein Geld, mein ich«, sagte die Schmidhuber.

Eva lachte. »Das mach ich, Tante Renate«, sagte sie. Die Mutter warf ihr einen erstaunten Blick zu. Eva grinste. Die Mutter lдchelte ein bisschen traurig. »Tante Renate hat ganz Recht, Eva.«

Als das Vorderteil und der Rьcken zusammengehef­tet waren, musste Eva anprobieren. Schnell schlьpfte sie aus Rock und Bluse und schnell zog sie das neue Kleid ьber. Sie hatte den beiden Frauen den Rьcken zugedreht.

Dann steckte und heftete die Schmidhuber an ihr herum, mit Stecknadeln zwischen den Zдhnen und der Nдhnadel mit dem Reihfaden an ihrer Bluse festge­steckt.

»Arme hoch, Evachen.«

»Ja, so ist's recht.«

»Dreh dich mal um.«

»Schau, Marianne, ich mach da am Rьcken noch zwei Abnдher rein. Da sieht sie von der Seite schlanker aus.«

Dann legte sie die Stecknadeln zurьck in die Schach­tel. »So!«, sagte sie. »Jetzt kannst du in den Spiegel gucken.«

Im Flur war ein groЯer Spiegel mit Goldrahmen. Zu beiden Seiten des Spiegels hingen zwei Engel, nackt, nur mit einem kleinen Tuch um den Bauch und mit kleinen, goldenen Flьgeln. Sie stammten noch von der Oma der Schmidhuber. Der Linke hieЯ Eva. »So hast du ausgesehen, als du noch ein Baby warst«, sagte die Schmidhuber immer wieder. »Genau so.«

Eva betrachtete den Engel jedes Mal, wenn sie her­kam, versuchte, in dem pausbдckigen, lachenden Ge­sicht die Spuren ihres frьheren Aussehens zu finden. Der dicke Bauch und die runden Beine stimmten si­cher, dachte sie, obwohl sie auf ihren Kinderfotos gar nicht besonders dick aussah. Natьrlich auch nicht dьnn, das nicht, aber fett war sie damals nicht gewe­sen. Trotzdem, der Engel sah hьbsch aus und Eva freute sich ьber ihn.

So war ich, dachte sie. Und wann habe ich aufge­hцrt, so zu sein?

Sie drehte sich langsam vor dem Spiegel hin und her. Das Kleid gefiel ihr und sie sah wirklich nicht gar zu fett darin aus. Besser jedenfalls als in Rock und Bluse. Sie цffnete den Pferdeschwanz und schьttelte den Kopf, bis die Haare locker ьber ihre Schultern fielen. Die Schmidhuber war hinter sie getreten und legte ihre runden Arme um sie.

»Gut siehst du aus, Eva. So solltest du die Haare im­mer tragen.«

»Zu Hause trau ich mich nicht. Du kennst Papa ja.« Die Schmidhuber lachte. »Eine richtige Lцwen­mдhne hast du, Eva.« Sie fasste hinein in die Haare und zauste sie spielerisch. »Lass dir nicht alles gefallen. Lass dir ja nicht alles gefallen!«

»Also, was ist mit morgen Abend?«, fragte der Vater am Freitag beim Essen. Eva senkte den Kopf ьber den Teller mit dem Linseneintopf und fischte mit dem Lцf­fel ein Speckstьckchen heraus. »Du kannst mich abho­len«, sagte sie.

»Gut.« Der Vater war zufrieden. »Wann soll ich kommen?«

»Um zehn ist es aus. Aber Michel hat gesagt, dass es meistens ein bisschen lдnger dauert. Wenn du vielleicht um halb elf kommst?«

»Ich werde pьnktlich sein.« Er war wirklich beson­ders freundlich.

Kunststьck, dachte Eva, wo er doch seinen Willen durchgesetzt hat.

Michel hatte es nicht schlimm gefunden, dass ihr Vater sie abholen wollte. »Ich verstehe dich nicht«, hatte er gesagt, »ich an deiner Stelle wдre froh, wenn ich abends nicht mehr mit der StraЯenbahn fahren mьsste.«

»Und wo ist das eigentlich?«, fragte der Vater.

»StaufenerstraЯe«, antwortete Eva. »Staufenerstra-Яe 34.«

Der Vater schaute hoch. Eva hatte das erwartet. Sie suchte mit unbewegtem Gesicht weiter nach Speck­stьckchen. Es waren keine mehr da. »Kann ich ein bisschen Essig haben?«

Berthold gab ihr den Essig. »Wo gehst du denn hin?«, fragte er.

»Bis du mal etwas mitkriegst, kann die Welt unterge­hen. Ich gehe morgen Abend tanzen, m ein Freizeit­heim.«

»Ach so.« Berthold war nicht weiter daran interes­siert, er fuhr fort, seine Suppe zu essen.

Es klirrte laut, als der Vater seinen Lцffel auf den Teller legte. »Hast du gewusst, dass es da ist, Ma­rianne?«

Er dehnte das »a« in »da« sehr lang, sehr von oben herab, fand Eva. So wie er das sagte, klang es so, als wдre es mindestens die Vorhцlle. Eva hatte gewusst, dass es so sein wьrde. Die Mutter warf ihr einen Blick zu, einen von diesen Schulmдdchen-Verschwцrungs­blicken, einen von diesen Kumpelblicken, die Eva nicht leiden konnte. Sie wurde nervцs davon.

»Ja«, sagte die Mutter. »Natьrlich habe ich das ge­wusst.«

Eva дrgerte sich. »Sie hat es nicht gewusst«, sagte sie.

»Warum sollte es nicht dort drauЯen sein?«, fragte

die Mutter schnell und sammelte die leeren Teller ein. »Gleich bringe ich den Nachtisch.«

Der Vater schwieg. Er ist bцse, dachte Eva. Er wьrde mir am liebsten verbieten hinzugehen, aber jetzt traut er sich nicht mehr.

Der Schokoladenpudding war dunkelbraun, die Pfir­sichhдlften aus der Dose sehr gelb, fast orange, und oben drauf prangten Schlagsahnehдufchen, mit Scho­kostreuseln verziert. »Das Auge isst immer mit.«

Eva schob einen Lцffel Schlagsahne in den Mund und lieЯ ihn auf der Zunge zergehen. Das neue Kleid war auch fertig geworden, die Schmidhuber hatte es heute gebracht. »Viel SpaЯ, Eva«, hatte sie gesagt. »Und vergiss nicht: Nichts gefallen lassen!«