Eva sah sie von der Seite an. Sie lachte wirklich, so, als wдre sie wie die anderen. Und dabei war sie wirklich dick. Nicht so dick, nicht ganz so dick wie Eva, aber immerhin! Und auЯerdem trug sie noch eine Brille.

Michel zog Eva an der Hand hinter sich her zu ei­nem Tisch in der Ecke. Eva stellte ihre Tasche hin und wollte sich setzen. »Nein«, sagte Michel. »Jetzt sind wir schon mal da, jetzt tanzen wir auch.«

Er musste sehr laut reden, damit sie ihn ьberhaupt verstand. Die Tanzflдche war voll, aber Michel drдngte sich einfach dazu und fing an, sich zu bewegen, erst langsam, dann schneller.

Er kann tanzen, dachte Eva, und ihre Knie wurden weich. Ihr wurde schwindelig. Was hatte der Vater ge­sagt? »Nicht so, Eva. Du darfst nicht an deine Beine denken. Hцr auf den Takt und lass dich fьhren.« Aber hier gab es niemand, der sie fьhrte.

Sie machte es wie Michel. Erst langsam, in den Hьf­ten bewegen, wie war bloЯ der Takt, dann trat sie von einem FuЯ auf den anderen. Wie ein kleines Mдdchen, das dringend mal muss, dachte sie und lдchelte. Michel lдchelte auch. Michel, dachte sie, Michel.

Er nahm ihre Hand und schwang sie unauffдllig im Takt hin und her. Und dann war es plцtzlich wieder da, dieses Gefьhl wie an Neujahr, nur noch viel schц­ner. Eva lachte und schьttelte ihre Haare, die langen, offenen Haare, und sie vergaЯ ihren Elefantenkцrper und tanzte.

Irgendwann zog Michel sie von der Tanzflдche und fьhrte sie zu ihrem Stuhl. »Gib mir Geld«, sagte er. »Ich hole eine Cola.«

»Ich mцchte lieber ein Selterswasser.«

Michel nickte. Er kam zurьck und stellte ein Glas Ьberkinger vor sie auf den Tisch. Dann setzte er sich ganz dicht neben sie und legte den Arm um ihre Hьfte. Ich bin verschwitzt, dachte Eva. Ganz nass ge­schwitzt bin ich. Hoffentlich stinke ich nicht. Sie schob ihn weg.

»Mensch, Eva«, sagte Michel hingerissen. »Du tanzt wirklich ganz toll. Hдtte ich nicht gedacht. Kommst du am Samstag mit mir ins Freizeitheim? Wir haben ein Sommerfest.«

Eva nickte. Papa, dachte sie. Ach, Papa.

Die Bluse klebte an ihrem Kцrper. Und weil es schon ganz egal war, stand sie auf und zog Michel zur Tanzflдche.

»Ich will noch«, sagte sie. Er nickte. Es war schon acht, als sie auf die Uhr sah.

Sie schloss leise die Tьr auf. Aus dem Wohnzimmer drang das Gerдusch des Fernsehers. Halb zehn vorbei. Da ging die Wohnzimmertьr auf. Der Vater betrachte­te sie von oben bis unten, machte zwei Schritte auf sie zu und holte aus. Eva starrte ihn an. Die Ohrfeige brannte auf ihrer Haut.

»Aber Fritz«, sagte die Mutter hilflos, bцse. »Warum

soll sie nicht mal lдnger wegbleiben? Sie ist doch schon fьnfzehn.«

»Ich will nicht, dass meine Tochter sich mmtreibt.«

»Aber das heiЯt doch nicht rumtreiben, wenn sie mal bis halb zehn wegbleibt. Wann soll sie denn ihre Jugend genieЯen, wenn nicht jetzt?« Eva hцrte die Ver-bitterung in der Stimme der Mutter.

»So fдngt es an«, schrie der Vater. »Schau sie dir doch an, wie sie aussieht! Schicken wir sie deshalb auf die Schule, dass sie mit einem Bankert daherkommt?«

Eva ging wortlos in ihr Zimmer und schloss mit ei-nem lauten Knall die Tьr hinter sich. Sie lieЯ sich auf das Bett fallen, auf das weiche, sichere Bett, das Ver-sprechen von Wдrme und Zuflucht, und weinte. »Du Schwein«, sagte sie laut. »Du gemeines Schwein. Nichts weiЯt du. Nur an so etwas kannst du denken.«

Die Mutter kam herein und setzte sich zu ihr auf den Bettrand. Hilflos streichelte sie Evas Rьcken.

»Kind, er meint das nicht so, wirklich nicht. Er hat sich solche Sorgen gemacht um dich. Sogar bei der Po-lizei hat er schon angerufen, ob irgendwo ein Unfall gemeldet worden ist.«

Eva schluchzte. Sie weinte laut, hemmungslos, V wollte nichts mehr verbergen, der Vater sollte es ruhig hцren, dieses Schwein!

Bankert: abwertende Bezeichnung fьr »uneheliches Kind»

»Kind«, sagte die Mutter, »Kind, Kind.« Was ande­res fiel ihr auch nicht ein! Eva weinte noch lauter.

»Du musst versuchen, ihn zu verstehen«, sagte die Mutter. »Er ist halt so.«

»Immer soll ich ihn verstehen! Immer ich! Geh doch zu deinem geliebten Fritz! Geh nur. Du verstehst ihn ja so gut.«

Die Mutter sagte nichts mehr. Dann verlieЯ sie das Zimmer. Eva hцrte die Tьr klappen. Ihr lautes Weinen ging in ein rhythmisches Schluchzen ьber, langsamer, beruhigender. Sie vergrub sich in das Kopfkissen. Ihr Gesicht brannte und fьhlte sich verquollen an. Weinen, weinen, nur noch weinen. Michel. Nichts verstand der Vater, gar nichts. Nie hatte er irgendetwas verstanden.

»ScheiЯe! ScheiЯe!«

Eva starrte aus dem Klassenfenster. Ihre Augen brann­ten. Sie fьhlte die Trдnen hinter ihren Augen, in den Hцhlen fьhlte sie den Druck der Trдnen. Sie erhob sich und ging zum Lehrertisch. »Kann ich bitte an die frische Luft gehen, mir ist schlecht.«

Frau Wittrock nickte. »Natьrlich, Eva.«

Eva ging wie auf Watte, aus dem Klassenzimmer hinaus, die Treppe hinunter zum Klo. Sie beugte sich tief ьber die Kloschьssel, stьtzte sich mit den Hдnden auf der Brille ab und erbrach den Kдse und die Sardi­nen in DillsoЯe, den Rest GrieЯauflauf und die beiden Frьchte Joghurts, die sie in der Nacht gegessen hatte, als sie verschwitzt und dreckig aufgewacht war, noch in Rock und Bluse, die ihr am feuchten Kцrper kleb­ten. Sie erbrach, bis nur noch gelbliche, bittere Flьs­sigkeit kam. Sie lehnte sich an die Wand und wischte sich die SchweiЯtropfen aus dem Gesicht und die Trд­nen.

Franzlska fьhrte sie zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. »Frau Wittrock hat gesagt, dass ich mit dir gehen kцnnte.«

Eva hielt ihr Gesicht unter das kalte Wasser, lieЯ es ьber die heiЯen Augen laufen und spьlte sich den

Mund aus. Es ging ihr viel besser. »Ich muss etwas Fal­sches gegessen haben«, sagte sie. »letzt ist es vorbei.«

Franziska nahm ein Papierhandtuch, machte es nass und bьckte sich. »Du hast ein paar Flecken am Rock.«

Dann saЯen sie unter einem Baum und tranken Tee aus Pappbechern, den Franziska aus dem Automaten geholt hatte.

»Wie lange darfst du abends wegbleiben?«, fragte Eva.

»Kommt drauf an. Eigentlich solange ich will.«

»Mein Vater hat mir gestern eine Ohrfeige gegeben, weil ich um halb zehn nach Hause gekommen bin.«

»Halb zehn ist doch nicht so spдt.«

»Ich hatte nicht gesagt, dass ich spдter komme.«

»Na ja«, sagte Franziska, »wenn ich spдter komme, muss ich auch anrufen.« Und dann fragte sie: »Schlдgt dich dein Vater oft?«

»Nein«, antwortete Eva. »Das letzte Mal hat er mir eine runtergehauen, als ich gesagt habe, die Oma sei eine alte Hexe.«

»Ist sie das?«

Eva schьttelte den Kopf. »Das nicht. Aber dumm ist sie.«

»Meine Eltern haben mich noch nie geschlagen«, sagte Franziska. »Auch nicht, als ich klein war.«

»Frьher, als Kind, habe ich цfter eine Ohrfeige be­kommen. Aber nur von meinem Vater. Und mein Bru­der kriegt auch heute noch oft etwas ab.«

»Und deine Mutter? Was sagt die dazu?«

Eva lachte.

»Sie leidet mit uns. Fьr jede Ohrfeige gibt es mindes­tens eine heimliche Tafel Schokolade.«

»Gehst du oft weg abends?«

»Nein, ich war gestern das erste Mal tanzen. Und du?«

»Ich auch nicht. Ich kenne immer noch kaum Leute hier.«

Eva verzog das Gesicht. »Ich bin hier geboren und kenne trotzdem kaum jemanden.« Dann stand sie auf und klopfte sich den Staub aus dem Rock. »Sehe ich wieder ordentlich aus?«

»Ja«, antwortete Franziska. »Deine Haare sind viel schцner, wenn sie offen sind. Du hast wirklich tolle Haare.«

Eva schaute schnell zur Seite. »Komm, gehen wir wieder rauf.«

Eva lernte gerade: affligere, affligo, afflixi, afflictum, als Berthold ihre Tьr цffnete. »Der Papa ist am Tele­fon«, sagte er. »Fьr dich.«

Eva ging ins Wohnzimmer und nahm den Hцrer.

»Eva?«, fragte der Vater.

»Ja.«