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»Sie machen sich Sorgen«, stellte José erstaunt fest.

Casaflora nickte. »Natürlich mache ich mir Sorgen.«

»Dann kommen Sie mit, sie suchen.«

»Sie ist deine Schwester«, sagte Casaflora, »nicht meine. Die Rollen sind festgelegt. Ich bin der böse alte Mann, schon vergessen?«

José ging kopfschüttelnd weiter. Er dachte an die Nacht zurück und an die Karte in seiner Tasche. Er dachte an das Gewehr über seiner Schulter und daran, dass er es nie benutzen würde, um einen Menschen zu erschießen, weil er es nicht konnte. Er musste mit Marit über all das reden. Nie hatte er so dringend mit jemandem reden wollen.

»Komm schon!«, sagte er laut. »Wo bist du?«

Und dann begann er zu rufen. Er ging kreuz und quer durch den Busch, rief und rief, rief sich heiser – und bekam keine Antwort. Nur ein paar rot-schwarze Leguane kreuzten seinen Weg und verfolgten ihn stumm mit ihren beweglichen Augen. Der Durst in seiner Kehle wuchs und er hob einen kleinen Stein auf und schob ihn im Mund hin und her. Die Abuelita hatte einmal gesagt, das würde gegen Durst helfen. Aber offenbar war es nur eine ihrer Geschichten, denn es half nicht. Irgendwann fand José sich oben auf der Caldera des Vulkans wieder, umgeben von Schwefeldämpfen. Dicke gelbliche Wolken stiegen aus dem Krater und an einigen Stellen ragten die toten Finger verdorrter schwarzer Büsche zwischen den Felsen auf. Es war sehr still hier oben.

Kein Vogel sang, keine Zikade zirpte, selbst der Wind schlief. Nur ein blauer Schmetterling torkelte vorbei, wie betrunken von den Dämpfen aus dem Erdinneren.

Du warst natürlich noch zu klein,flüsterte die Abuelita in seinem Kopf, als damals der Vulkan auf Isabela ausbrach. Zwei oder drei warst du, erinnerst dich nicht, was? An das Feuer. Und wie rot der Himmel war. Mit Vulkanen ist nicht zu spaßen. Die Unaussprechlichen kriechen aus der Tiefe des Pazifiks herauf durch den Krater und schwimmen mit der Lava nach oben …

José seufzte. »Du machst mich noch mal wahnsinnig mit deinen Unaussprechlichen«, sagte er laut. »Dieser Vulkan schläft. Er atmet beim Schlafen, das ist alles.« Er ging ein Stück auf der Caldera entlang und rief weiter nach Marit, aber der Schwefel stieg in seine Lungen und schien sich dort festzusetzen wie ein Vorgeschmack der Hölle.

Dann fiel ihm etwas ins Auge, das auf einem Felsen lag, ganz vorn am Kraterrand. Etwas braun Kariertes. Eine Mütze. Die Mütze, die Marits Mutter in ihrer letzten Nacht getragen hatte. War Marit hier gewesen? Oder hatte ein Vogel die Mütze in seinen Krallen hierhergetragen, so wie die Möwe damals den alten Teddybären?

José spürte ein Grollen unter sich im Berg, setzte die Mütze auf und beeilte sich, hinunterzukommen. Er würde bei der Feuerstelle am Strand auf Marit warten. Vermutlich war sie längst wieder da. Vielleicht hatte sie sogar irgendwo Wasser gefunden.

Weiter unten am Berg sangen die Vögel wieder, bunte Flecken aus Federn leuchteten zwischen dem Graubraungrün der Dornen und José atmete auf. Hinter ihm blieb die Caldera des Vulkans einsam und tot zurück, inmitten von Schwefeldämpfen.

Als er beinahe unten war, sah er Casaflora über den Strand laufen, die Schiffsschraube noch in der Hand, und ins Gebüsch tauchen. Er blieb stehen. Und dann sah er, was Casaflora gesehen hatte. Ein Boot kam in die Bucht, in der auch die Mariposa lag, ein kleines helles Boot mit einem dunklen Schriftzug an der Seite. Der Mast schien in der Mitte dicker zu sein, als hätte man dort ein zweites Stück Holz als Verstärkung drangeschraubt. War dieser Mast in der Mitte geflickt? War er in einem Sturm vor nicht allzu langer Zeit gebrochen?

Das Segel wurde eingeholt, das Boot ankerte ein Stück entfernt von dem honigfarbenen Flecken, der ohne Schiffsschraube auf den Wellen schaukelte, näher am Strand. Es hatte weniger Tiefgang als die Mariposa. Und jetzt sprang jemand heraus, um an Land zu waten. Jemand, dem Casaflora entgegensah.

José duckte sich zwischen die Büsche und lief los, gebückt, unsichtbar.

Kurz darauf lag José auf dem Bauch zwischen den niedrigen Büschen, nahe der Stelle, an der Casaflora saß. Vor seinen Augen wanderte eine handgroße feuerrote Krabbe mit langen Stielaugen vorbei, in einer komplizierten vielbeinigen Seitwärtsbewegung. Es sah aus, als würden ihre Beine jeden Moment vollkommen durcheinandergeraten. Irgendwo über ihm schrie ein Bussard. Er hob den Kopf und sah ihn kreisen. Die Bussarde auf den Inseln ernährten sich von Aas. Hatte der Bussard irgendwo einen toten Körper entdeckt?

»Hallo?« Der fremde Segler stand jetzt am Strand und rief: »Hola?«

Als würde ihm jemand antworten, wenn er auf Spanisch rief!

José hörte, wie Casaflora sich hinter seinem Busch bewegte, unruhig. Er wusste nicht, dass José hier war, ganz nah … Der Fremde war bei ihrer alten Feuerstelle angekommen, kniete nieder und untersuchte die kalte Asche. Oskar, der ein Bad genommen hatte, kam aus dem Wasser gewatschelt und beobachtete den Mann misstrauisch, als wollte er sagen: Das ist unsere Feuerstelle. Was wollen Sie hier? Auch Kurt der Albatros näherte sich vorsichtig, und Eduardo stakste auf seinen langen rosafarbenen Beinen heran. Sie waren alle in der Nähe geblieben. Nur Carmen fehlte.

Der Fremde streckte eine Hand nach Oskar aus und Oskar wich zurück. Kurt schlug mit seinen riesigen schmalen Flügeln, wie um den Pinguin zu schützen, und der Fremde wich kopfschüttelnd zurück. Dann hob er etwas aus dem Sand auf. Den Teddybären. Marit hatte ihn mit an Land genommen und im Sand liegen lassen. Wie seltsam musste das alles für den Fremden aussehen! Er ging an einer unbewohnten Insel an Land und fand einen halben Zoo und einen Teddybären.

Der Fremde presste den Bären kurz an sein Gesicht, wie um seinen Geruch einzuatmen, und steckte ihn in die Tasche.

Und da wusste José, wer er war. Waterweg. Marits Onkel. Er musste es sein, sie hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung. Aber wie war es ihm gelungen, mitten auf dem Pazifik, mitten in einem Sturm einen Mast zu reparieren?

Er kam jetzt über den Strand herauf, zögernd, suchend. José sah sein Gesicht durch die Dornenäste der Pflanzen hindurch. Er besaß die gleichen hellen Augenbrauen wie Marit, das gleiche helle Haar. Und als wollte er die letzten Zweifel fortwischen, legte er die Hände an den Mund und rief laut seinen Namen. »Ich bin es, Waterweg!« Erst auf Spanisch, danach auf Englisch, und schließlich in einer Sprache, die Deutsch sein musste. Er rief noch mehr auf Deutsch – Worte, die José nicht verstand. Worte, die dazu führten, dass Casaflora aufstand.

»Ich bin hier«, sagte er.

Waterweg bahnte sich einen Weg durch die Dornen. »Was ist das für ein Versteckspiel?«, fragte er und streckte seine Hand aus. Casaflora nahm sie nicht. Und als Waterweg noch etwas auf Deutsch hinzufügte, antwortete er auf Spanisch.

»Sie wollen die Karte haben. Verzeihen Sie meine Sprache. Ich habe mich zu sehr daran gewöhnt. Das Deutsche kommt mir nicht mehr über die Zunge. Bin schon zu lange hier auf den Inseln.«

Waterweg lachte. »Und ein Glück, sonst hätte die deutsche Regierung niemanden gehabt, dem sie einen so delikaten Auftrag hätte geben können. Sie … haben die Karte?«

Casaflora nickte. »Ich habe sie gezeichnet. Es sind alle Informationen darauf vermerkt, die man von mir haben wollte. Aber … ich besitze sie nicht mehr.«

José schluckte. Er hatte es also bemerkt.

»Sie … besitzen sie nicht mehr?« Waterwegs Stimme wurde kalt. In seiner Hand glänzte plötzlich etwas Schwarzes. Eine Pistole vom gleichen Fabrikat wie die von Casaflora. Die jetzt in Marits Tasche steckte. Aber wo steckte Marit?

Waterweg richtete die Pistole nicht auf Casaflora. Er behielt sie lediglich in der Hand, damit der andere sah, dass es sie gab.

»Es war vereinbart«, sagte er, »dass wir uns auf Isabela treffen, damit Sie mir die Karte aushändigen können. Sie sind nicht erschienen. Dann fahre ich nach Baltra – was eigentlich ein untragbares Risiko ist –, und man sagt mir, Sie wären nicht mehr am Leben. Als Nächstes höre ich, Ihr Schiff wäre allein davongesegelt, in Richtung Bartolomé, und ich hole Sie sogar ein. Sie segeln nach Isabela. Gut, denke ich, besser jetzt als nie … Aber dann, mitten im Sturm, ändern Sie Ihren Kurs, was ich erst zu spät merke. Und jetzt sagen Sie mir, Sie hätten die Karte nicht mehr. Was ist hier los? Gewisse Leute in Deutschland warten auf diese Karte und das wissen Sie!«