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Mamas Hand schnellte so rasch vor, dass Marit es kaum sah. Sie hörte nur das Klatschen, als die Hand auf Richards Wange landete.

»Halt jetzt den Mund, Richard«, sagte Mama scharf. »Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest. Du verdirbst uns noch das ganze Osterfest.«

Richard fing einen flehenden Blick von seiner eigenen Mutter auf und verstummte, aber Marit sah, dass er rot angelaufen war vor Wut und Scham. Eine Weile wanderten sie schweigend weiter durch die grüne Vorfrühlingslandschaft. Ihr Grün hatte jetzt etwas Kaltes.

Und als sie auf einer Wiese den Picknickkorb abstellten, beugte sich Richard beim Auspacken ganz dicht zu Marit, wie zufällig. »Warte nur«, flüsterte er. »Das wird sie bereuen, deine feine Mutter. Irgendwann habe ich was zu sagen. Irgendwann zahle ich es ihr heim. Und dann werdet ihr an mich denken.«

Marit fuhr hoch und sah sich um, schwer atmend. Sie befand sich nicht auf einer Wiese vor Hamburg und da war kein Picknickkorb. Zum Glück auch kein Richard. Der Himmel über ihr wurde langsam hell und entblößte eine karge Landschaft, bewachsen mit dichtem, niedrigem Dornengestrüpp. Vor ihr fiel der Boden allmählich ab, in der Ferne lag das Meer, blau und unendlich. Sie rieb sich die Augen. Natürlich. Galapagos. Marchena. Sie war noch immer hier.

Aber wo warsie? War sie nicht am Strand eingeschlafen, neben einer verglimmenden Feuerstelle? Neben José? Jetzt befand sie sich auf einem Berg. Sie musste den ganzen Osterspaziergang im Schlaf gemacht haben, jeden einzelnen Schritt. Hatte José ihr nicht versprochen, über ihren Schlaf zu wachen, solange Casaflora in der Nähe war?

Vor ihr stieg der Berg noch ein wenig an, sie befand sich kurz unterhalb seines Gipfels. Doch der Gipfel war kein Gipfel, es sah aus, als hätte jemand ihn abgeschnitten. Und Marit erinnerte sich daran, was Mama über die Vulkane vorgelesen hatte: Vor Urzeiten hatte der Meeresboden sich aufgewölbt und die Inseln mit einem Strom heißer Lava aus dem Meer emporgeschleudert.

Marit stand auf und wanderte langsam weiter aufwärts über den trockenen Boden. Sie hatte noch nie einen Vulkan von Nahem gesehen. Der obere Rand, das war die Caldera, sie erinnerte sich an das Wort. Und dann stand sie dort, auf der Caldera, und alles war ganz anders, als sie gedacht hatte.

Sie hatte geglaubt, ein kreisrundes Loch vor sich zu haben und in finstere Tiefe zu blicken wie in einen riesigen Brunnen. Doch der Krater war angefüllt mit lange erkalteter Lava, Moose und Flechten überwucherten die Felsen und einige niedrige Büsche krallten sich dazwischen fest. Das Kraterinnere lag vor ihr wie ein Tal mit sanft abfallenden Hängen, deren Gestein in seltsamen Farben angemalt war: Feuerrote und gelbe Ablagerungen leuchteten zwischen dem Schwarz der Lava. Zwischen den Steinen stieg an unzähligen Stellen Dampf empor, und Marit roch jetzt den Schwefel, den durchdringenden Geruch fauliger Eier. Etwas regte sich dort unten, Marit spürte es. Der Vulkan grollte in seinem Innern, wie jemand, der im Schlaf unverständliche Worte murmelte. Schlief er wirklich? Wie fest schlief er, wie lange schon … und wie lange noch?

In der Mitte des Tals sah sie jetzt eine dünne Lavafontäne aufspritzen, und sie zuckte zusammen, obwohl die Fontäne sich gut zweihundert Meter weit weg befand. Es war ein abstruser Gedanke, aber … konnte es sein, dass sie den Vulkan geweckt hatte?

Sie ging auf der Caldera am Krater entlang, ohne den Blick von seinem Innern zu nehmen, sah es hier und da zwischen Steinen blubbern und Blasen werfen, heiß und tödlich.

»Mach besser, dass du hier wegkommst«, sagte sie zu sich selbst. Doch sie gehorchte sich nicht. Der Vulkan war zu faszinierend.

Da huschte etwas über ihren Fuß und sie sah hinunter. »Carmen?«, fragte sie. Eine Schnauze reckte sich aus Marits Ärmel, die Ratte schnupperte, schien den Schwefel zu riechen und verkroch sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck wieder. Sie war es nicht gewesen, die über Marits Fuß gehuscht war. Sie sah sich um. Es war kein anderes Tier da. Nur die rot-schwarzen Zacken der Felsen starrten in den warmen, regenlosen Himmel.

Dann regte sich einer der Felsen. Marit erschrak. Es war, als bewegte sich der Felsen in mehrere Richtungen gleichzeitig, als würde er atmen und sich winden … Nein. Es war nicht der Felsen, der sich bewegte. Es waren die Tiere darauf, jetzt erkannte sie sie: große rot-schwarze Echsen mit zackenbewehrten Rücken und langen, schuppigen Schwänzen wie kleine Drachen.

Leguane. Dieselbe Sorte, die sie schon am Strand gesehen hatte. Aber hier, auf dem Gestein, waren sie beinahe unsichtbar. Ihre Köpfe waren kürzer, höckeriger und stacheliger als die der gelben Leguane auf Santiago, und es war, als hätten sie keine Hälse.

»Oje«, sagte Marit und verkniff sich ein Lachen. »Ihr seid aber hässlich.«

Sie bückte sich, streckte die Hand nach einem der Tiere aus … und es zögerte einen Moment. Dann peitschte es in einer plötzlichen hektischen Bewegung mit seinem Schweif den Staub auf und huschte den Berg hinunter. Die anderen Leguane folgten. Nach einer Weile drehte das Tier, nach dem sie die Hand ausgestreckt hatte, sich nach Marit um. Seine kleinen Augen fixierten sie mit großer Entschlossenheit.

»Komm!«, schien es zu sagen. »Komm, komm! Hier ist kein guter Ort zum Bleiben!«

»Du hast recht«, sagte Marit und folgte dem Leguan den Berg hinunter. »José fragt sich sicher schon, wo ich bin.« Sie merkte jetzt, wie trocken ihr Mund und wie groß ihr Durst war. In Josés Kanister gab es noch einen Rest Wasser.

Sie beeilte sich, dem Leguan zu folgen. Die Dornbüsche schienen nach ihr zu greifen und sie festhalten zu wollen, sie rissen an ihrer Hose und ihrem Hemd, und stellenweise waren sie hoch genug, um ihre Wangen zu zerkratzen.

Als Marit endlich in der Ferne den Strand sah, atmete sie auf. Die Leguane hatten sie verlassen – bis auf einen, der immer noch neben ihr herrannte.

»Hey, du«, sagte sie. »Hast du dich etwa auch entschieden, bei mir zu bleiben? Wenn José dich sieht, bekommt er einen Anfall. Schleppst du schon wieder ein neues Tier an?, wird er sagen. Aber mach dir keine Sorgen. Er tut immer so hart, aber eigentlich ist er …«

Sie verstummte, und der Leguan erfuhr nie, was José eigentlich war. Sie hatten den Strand erreicht. Doch da war kein José. Keine alte Feuerstelle. Keine Mariposa, die draußen vor Anker lag. Kein Casaflora, der mit einer Schiffsschraube kämpfte. Da war gar nichts.

Es gab nicht einmal Spuren im weißen Sand. Es war, als wäre nie jemand hier gewesen.

Der Leguan war ins flache Wasser gelaufen, tauchte jetzt wieder auf und sprühte eine winzige Wasserfontäne aus seinen Nasenlöchern. Natürlich, diese Sorte von Leguan gehörte ins Wasser. Marit erinnerte sich, dass sie das Salz aus dem Wasser filterten. Leguane hatten niemals Durst. Sie trat neben ihm ans Wasser, bückte sich und fuhr dem seltsamen Tier über den rauen Rücken.

»Verstehst du, wo alles hingekommen ist?«, flüsterte sie. »Verstehst du, was hier los ist?«

José wartete lange auf Marit. Irgendwann wurde der Morgen zu hell, um ihn zu ignorieren, und Casaflora wachte auf und knurrte einen Morgengruß herüber. Er sah nicht in seinem Rucksack nach, ob die Karte noch da war. José ging zu ihm, das Gewehr über dem Arm, und sie teilten schweigend ein wenig hartes Brot aus einer weiteren Dose. Wasser gab es nur schluckweise.

»Noch ein Kanister ist auf der Mariposa«, murmelte Casaflora. »Nur noch einer.«

»Ich werde Wasser suchen«, sagte José. »Irgendwo muss sich das Regenwasser gesammelt haben. Aber zuerst muss ich Marit suchen.«

»Wo ist sie?«

»Wenn ich das wüsste«, meinte José, »brauchte ich sie ja nicht zu suchen.«

Casaflora begleitete ihn ein Stück in den Busch und sah sich nach Steinen um, mit denen er die Schraube zurechtklopfen konnte.

»Sieh zu, dass du sie findest«, sagte er, ehe sie sich trennten.