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»Wo ist sie jetzt?«, fragte Casaflora leise.

»Tot«, antwortete Marit. »Sie sind alle tot. Alle, die ich in Deutschland kannte.« Sie flüsterte jetzt, damit José sie unter Deck nicht hörte. »Sie sind Deutscher. Warum sind Sie nicht tot?« Es war ein eindeutiger Vorwurf. Er lachte nicht darüber.

»Weil ich hier bin«, erwiderte er ernst. »Genau wie du.«

Marit streichelte den Albatros, der seinen großen weißen Kopf auf ihr Knie gebettet hatte. »Hier ist niemand tot. Hier sind alle lebendig. All die Tiere. So wie Kurt.«

»Warum heißt er eigentlich Kurt?«

»Kurt war der Name meines Vaters. Er ist auch geflogen. Sie haben gesagt, man habe seine Maschine bei der Landung abgeschossen. Albatrosse haben manchmal auch Unfälle beim Landen …«

Casaflora schwieg. Er schwieg so lange, dass die Nacht zu schwer für Marits Augenlider wurde.

»Ich kannte einmal ein junges Mädchen, das einen Kurt heiratete«, sagte Casaflora. »Und aufhörte zu studieren. Damals in …«, er lächelte auf einmal, doch es war ein trauriges Lächeln, »… London.« Aber das hörte Marit schon nicht mehr, denn sie war eingeschlafen.

Und erst später, viel, viel später, übersetzte sie seinen Namen ins Deutsche.

José wachte gegen Morgen auf und spürte sofort, dass er allein in der Kajüte lag. Casaflora hätte auf der zweiten Bank liegen sollen. Marit saß draußen am Steuer. Er packte die Mauser und öffnete leise die Tür der Kajüte.

Im grauen, verschlafenen Morgenlicht saß Casaflora am Steuer.

Er hatte ihn noch nicht bemerkt. Er war über eine Gestalt gebeugt, die auf der anderen Bank lag, schlafend. Hilflos. In ihrem Arm lag Kurt der Albatros, der ebenfalls schlief. Casaflora knöpfte seine Jacke auf und zog sie aus. José packte sein Gewehr fester. Da sah er, wie Casaflora die Jacke behutsam über Marit legte: eine Decke gegen die Kälte des zu jungen Morgens. Er blickte auf und nickte José zu. Sein Gesicht sah aus, als wären in Minuten Jahrzehnte daran vorbeigestrichen. Er war nichts als ein müder alter Mann.

»Sie ist tot«, sagte er.

»Was? Wer?«, fragte José alarmiert.

»Ihre Mutter«, sagte Casaflora. »Sie war so jung und sie wollte so viel. Sie wollte ihre Familie ins Paradies führen. Sie wollte einen blauen Schmetterling fangen, mit goldenen Flecken auf den Flügeln. Für jemanden, der ihr Vorbild war und der vielleicht auch nicht mehr am Leben ist. Ist das nicht unbeschreiblich traurig?«

José nickte. »Ja«, sagte er, »das ist unbeschreiblich traurig. Aber wir, wir sind alle hier und wir sind am Leben.«

»Noch«, sagte Casaflora. »Noch, mein Junge, noch. Wart ab, bis uns die wiederfinden, die uns im Sturm verloren haben.«

»Wer sind Sie?«, fragte José. »Wozu wollen Sie meine Karte?«

Casaflora griff in seine Jackentasche und holte ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. »Deine Karte, ja«, sagte er. »Du kannst sie wiederhaben, deine Karte. Ich werde nicht schlau daraus. Vielleicht ist sie wirklich alt. Aber die, die hinter uns her sind – sie wollen deine Karte nicht.«

»Nein?«, fragte José erstaunt.

»Nein, mein Junge. Ich habe auch eine Karte. Sie wollen meine. Besser gesagt: Sie wollen, dass sie nicht in die Hände von bestimmten anderen Leuten gerät.«

José öffnete den Mund.

»Und jetzt hör auf, Fragen zu stellen«, sagte Casaflora sehr bestimmt. »Schieß mir ein Loch in den Kopf, aber ich schweige. Manche Antworten sind zu gefährlich.«

In diesem Moment lief ein Ruck durch die Mariposa, und José hielt sich an der Kajütentür fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Marit rollte von der Bank und Casaflora krallte sich ans Steuer. Die Mariposa bewegte sich nicht mehr. Doch der Wind füllte die Segel noch immer und das Schiff neigte sich bedenklich zur Seite.

»Wir sitzen fest!«, schrie Casaflora und sprang auf. »Wir sitzen auf einem verfluchten Felsen fest! Los! Die Segel runter! Schnell!«

José war bereits am Mast und löste das reparierte Großfall. Direkt vor ihnen lag im Morgendunst Marchena, als flach ansteigender Krater erhob sich die Insel aus dem Pazifik und wartete in majestätischem Schweigen auf die Neuankömmlinge. Aber nein, sie schwieg gar nicht: Jetzt hörte José die Vögel, die schon mit dem ersten Tageslicht erwacht waren. Jetzt hörte er den Wind im Geäst der Büsche. Er schüttelte den Kopf. All das hätten sie vorher hören können. Sie hatten so lange darauf gewartet, Marchena zu erreichen, und nun hatten sie es zu spät bemerkt. Casaflora, der am Steuer gesessen hatte – er musste die Insel doch gesehen haben! Aber er hatte nicht so gewirkt, als würde er irgendetwas sehen, dachte José.

Sein Blick war seltsam weit fort gewesen, als er »Sie ist tot« gesagt hatte.

Der Motor sprang knatternd an und die Mariposa bewegte sich langsam rückwärts. Dann gab es einen erneuten Ruck und er landete unsanft auf dem Deck. Casaflora fluchte.

»Der Motor!«, schrie er. »Die Schraube ist gegen einen Felsen … Verdammtnoch mal! Roll die Fock wieder aus!«

José gehorchte. Der Motor gab ein seltsames Jaulen von sich, und er begriff, dass die Schraube sich nicht mehr richtig drehte. Casaflora steuerte die Mariposa nur unter Vorsegel ein Stück näher an die Insel heran, unaufhörlich fluchend.

»Hier sind überall Felsen unter Wasser«, hörte José ihn sagen. »Ich kann sie jetzt sehen, aber nicht gut genug … Wenn wir gleich wieder aufsitzen …« Dann fluchte er wieder, diesmal nicht auf Spanisch, sondern in einer Sprache, die José nicht verstand. Sie klang hart und kantig, abgehackt und rau. José hatte diese Sprache schon gehört. Und schließlich fiel ihm auch ein, wo. Im amerikanischen Radio auf Baltra. Es war die Sprache des Krieges. Deutsch. Und die Sprache, in der einer flucht, dachte José, ist seine Muttersprache.

Casaflora war trotz seines Namens, trotz seiner sonnenverbrannten Haut und seines perfekten Spanisch kein Ecuadorianer. Er war ein Deutscher.

Marit erwachte davon, dass sie auf den harten Planken des Decks landete. Auf der Mariposa war wieder einmal Chaos ausgebrochen, aber sie verstand nicht, weshalb. Der Himmel über ihr war blau und wolkenlos. Sie kam auf die Füße und blickte sich um.

Und da sah sie die Insel. Marchena. Es war nur ein Umriss im Morgen, ein klobiger Berg aus Steinen im Meer, aber Marit erschien Marchena als das Schönste, was sie je gesehen hatte. Endlich wieder Land, nach so vielen Tagen auf See! Die Insel war aus einem Vulkan entstanden wie alle Galapagosinseln, doch der Vulkan schlief seit Langem.

Sie merkte, dass José mit ihr redete. »… sind aufgelaufen«, erklärte er mit gequältem Gesicht. »Und die Schiffsschraube ist hinüber. Es gibt eine Menge Felsen unter Wasser. Wir ankern hier, und Casaflora baut den Motor aus und … Du hörst überhaupt nicht zu.«

Marit lächelte ihn an. Dann zeigte sie ins Meer.

»Sieh nur, José«, sagte sie, »wer von Marchena gekommen ist, um uns zu begrüßen.«

Das Wasser zwischen dem Strand und der Insel war voll von Köpfen – nassen schwarzen Köpfen mit winzigen Ohren, glänzenden Knopfaugen und langen, zitternden Schnurrhaaren. Sie kamen näher, neugierig wie die Delfine, und Marit sah, wie ein rotes Maul spielerisch nach einem blauen Schmetterling schnappte, der dicht über der Wasseroberfläche dahingaukelte. Hatte der Schmetterling goldene Flecken auf den Flügeln gehabt?

»Seelöwen«, sagte José und lächelte.

»Ein schönes Empfangskomitee für die Mannschaft eines funktionsuntüchtigen Schiffs«, knurrte Casaflora, halb über den Motor gebeugt. »Ich wünschte, ich könnte einen von ihnen überreden, den Motor an den Strand zu schleppen. Ich weiß nicht, ob ich das Werkzeug dazu habe, die Schraube auszubauen …« Er sah auf. »Was ist? Wollt ihr nicht an Land gehen?«

»Damit Sie mit der Mariposa abhauen und uns hier verdursten lassen?«, fragte José.

Casaflora seufzte. »Ich kann nicht mit der Mariposa abhauen, mein Junge. Der Motor ist hinüber. Begreifst du das nicht?«