Sie arbeiteten wie die Irrsinnigen, doch jeden Eimer Wasser, den sie herausschöpften, spuckte der Pazifik sofort zurück.
Es hat keinen Zweck, dachte José. Wir werden sinken. Er blickte auf – und da sah er das andere Boot.
Der kleine Segler schoss durch die Wellen direkt auf sie zu. Er war jetzt so nah, dass man beinahe den Namen an der Bordwand lesen konnte, dunkelblaue Lettern auf weißem Grund. Der Name begann mit M, und die Buchstaben, die auf das M folgten, sahen dem Namen der Mariposa erstaunlich ähnlich … Wenn das Schiff weiter Kurs hielt, würde es die Mariposa in voller Fahrt rammen.
José sah, wie sich der Mast unter dem Gewicht des Windes bog. Er konnte sogar den Mann auf der Reling sehen, der sich weit, weit hinauslehnte, so nah war das Schiff schon. Der Sturm spie eine weitere Böe aus, stärker noch als die übrigen; der Mast bog sich noch stärker durch, beinahe konnte man das Ächzen und Stöhnen des Holzes hören – und dann brach er. Brach mittendurch, riss das Segel mit sich herunter und begrub das Schiff unter sich. Eine große Welle schwappte darüber und schien das Boot zu verschlingen. José hielt nach einem Kopf auf dem Wasser Ausschau. Da war keiner. Er merkte, dass er sich bekreuzigte.
Irgendwo durch Regen und Gischt näherte sich die Roosevelt. Und – bildete José sich das ein, oder war da jetzt noch ein drittes Schiff? Hier stehen wir, dachte er, in der sinkenden Mariposa, verfolgt von einer ganzen Flotte aus Schiffen, und es nützt alles nichts, denn wir werden alle zusammen sinken. Immerhin können sämtliche Tiere an Bord schwimmen. Bis auf den verletzten Pinguin.
In diesem Moment sprang der Motor an. Und auf einmal bewegte sich die Mariposa vorwärts. Jetzt wich sie der Gewalt der Wellen aus.
»Schöpfen!«, brüllte Casaflora. »Weiterschöpfen!«
José sah die Person neben sich an. Sie lächelte. Dann begannen sie die Mariposa gemeinsam leer zu schöpfen. Und schließlich saßen sie nebeneinander im Regen, schweigend, während Casaflora steuerte. José hielt seine Mauser auf dem Schoß und auch die Mauser schwieg. Solange Casaflora keine dumme Bewegung machte.
Irgendwann endete der Sturm. Irgendwann endete der Regen. Irgendwann endete die Nacht. Und da musste auch das Schweigen enden.
José seufzte. »Wie heißt du wirklich?«, fragte er.
»Marit«, sagte sie und sah auf ihre Füße.
»Hättest du das nicht gleich sagen können?«, knurrte José. » Maritist viel leichter auszusprechen als Jonathan.«
Da hob sie ihren Blick und Erleichterung lag darin. »Mein Onkel, weißt du, er fand, es wäre sicherer als Junge … Er hat den Pass besorgt. Frag mich nicht, woher er ihn hatte. Vielleicht gab es nie einen Jonathan Smith.«
»Aber du bist in London geboren?«
Sie nickte. »Nur an einem anderen Tag.«
José hörte, wie Casaflora sich räusperte, und er sah Marit zusammenzucken.
»Ich wollte nur etwas richtigstellen«, sagte Casaflora. »Der Kurs, den ich steuere …«
José sah auf den Kompass. »Wir fahren nicht mehr nach Isabela«, sagte er. »Wir haben gedreht.«
Casaflora nickte. »Wir fahren nach Marchena.«
»Und weiter, zur Isla Maldita«, ergänzte José. Er streichelte die Mauser.
»Du kleiner Dummkopf«, sagte Casaflora. »Nicht, weil du ein altes rostiges Gewehr auf dem Schoß hast. Weil wir die anderen abhängen müssen. Ich habe drei gezählt. Drei Schiffe, die uns folgen. Jetzt, nach dem Sturm, sind es nur noch zwei. Zwei zu viel. Wir haben sie verloren, und sie werden glauben, wir würden weiter nach Isabela segeln. Ich begleite euch also zu eurer verfluchten Insel. Es ist nicht schlecht, eine Weile zu verschwinden. Später … später laufen wir Isabela an.«
»Das alte Gewehr ist nicht rostig«, sagte José. »Und ich bin kein kleiner Dummkopf.«
Die Mauser sprang in seine Hände wie von selbst und ein Schuss zerriss den Morgen. Die Kugel blieb in der Reling knapp neben Casaflora stecken. José sah Marit zusammenzucken.
»Wenn Sie noch einmal Hand an Jo… Marit legen, spricht mein Gewehr mit Ihnen«, sagte José, und der Stolz in seinen Worten fühlte sich warm und richtig an. »Es spricht die Sprache der Inseln, eine einfache und klare Sprache. Und es versteht keinen Spaß.«
Die Hand des Alten, die das Steuerruder hielt, zitterte jetzt, kaum merklich.
»Kümmern wir uns darum, das Großfall zu reparieren«, sagte er, »und endlich Segel zu setzen.«
Der Wind trug die Mariposa stetig nach Nordosten, und jetzt, da Casaflora sich um Segel und Steuer kümmerte, kamen sie rascher voran. Er kannte die Mariposa wie sich selbst, sagte er. In der Abendflaute angelten sie, Oskars Flügel heilte, und Kurt der Albatros startete jeden Tag mehrere vergebliche Versuche, von Deck aus loszufliegen. Manchmal sah es aus, als lachten die anderen Tiere über ihn.
Alles hätte heiter und hell und sonnig sein können wie die Farbe der Decksplanken, honiggolden. Aber die Luft an Deck war gespannt wie vor einem weiteren Sturm. Es kam Marit vor, als könnte sie es darin knistern hören. Alles war unendlich kompliziert geworden. José sprach kaum noch mit ihr. Es war, als schämte er sich plötzlich. Und dann waren da die Blicke des Alten. Sie fühlte sie auf der Haut unter ihren Kleidern und die Röte stieg ihr ins Gesicht.
José hatte versprochen, sie nicht allein zu lassen. Er teilte die Wachen so ein, dass er stets wach war, wenn Marit schlief, und sie war ihm dankbar dafür. Aber gleichzeitig hatte sie das Gefühl, eine Bürde zu sein. Eine Last.
Wo war Jonathan, den José so dringend gebraucht hatte? War er in jener stürmischen Nacht gestorben? Marit ertappte sich dabei, wie sie um ihn trauerte, wenn sie allein unter Deck lag und zu schlafen versuchte. Er war gestorben wie alle anderen auch. Wie Papa und Mama und Julia, an die ihre Träume sie ständig erinnerten. Sie schloss die Augen und stand im Hinterhof in Hamburg.
»Im Holzschuppen?«, hörte sie sich fragen. »Sicher?«
»Ja«, sagte Julia und zog ungeduldig an Marits Hand. »Ich war mit dir zusammen Holz holen, weißt du nicht mehr? Und da hab ich ihn liegen lassen.«
»Das war vor zwei Monaten!«, sagte Marit. »Als es noch kalt war! Seitdem waren alle möglichen Leute im Holzschuppen. Meinst du nicht, jemand hätte ihn gefunden?«
Julia zuckte die Schultern. »Jetzt heizt doch keiner mehr seinen Ofen ein«, sagte sie. »Niemand geht in den Holzschuppen. Vielleicht waren wir damals die Letzten. Komm. Mein Bär friert. Es ist zu windig heute.«
Marit seufzte. Dass Julias Teddybär einen Strickpullover brauchte, war ja schon kompliziert genug. Dass dieser Strickpullover im Holzschuppen vergessen worden war und gerade jetzt dringend gesucht werden musste, war etwas zu viel. Aber als reichte das nicht, war auch noch ihr Schlüssel zum Schuppen verschwunden.
Sie klingelten zusammen bei Frau Adam, weil Julia sich angeblich allein nicht traute.
Frau Adam schüttelte den Kopf. »Nee«, sagte sie. »Den Schuppenschlüssel? Den kann ich auch seit ’ner Zeit nicht finden. Meinst du, kleine Julia, dein Teddybär kann vielleicht seinen Pullover gar nicht leiden und hat deshalb alle Schlüssel versteckt?«
Julia hob ihren Bären hoch und musterte ihn misstrauisch.
»Wir fragen den alten Herrn Meier«, entschied sie.
Aber auch der alte Herr Meier vermisste seinen Schuppenschlüssel.
»Ist ein Glück, was«, sagte er, »dass man zurzeit kein Holz zum Heizen braucht. So ein mildes Frühjahr …«
»Vielleicht kann man durchs Schuppenfenster reinklettern«, meinte Julia.
Marit seufzte. Sie wollte Julia gerade zum Fenster hochheben, damit sie nachsehen konnte, ob es sich öffnen ließ, da kam Mama durch den Hinterhof gerannt.
»Was wird das?«, rief sie außer Atem. »Ich gucke oben aus dem Fenster und frage mich, was meine Kinder da tun.«
»Der Pullover!«, rief Julia anklagend. »Von meinem Bären! Der liegt im Schuppen!«
»Unsinn«, sagte Mama. »Er liegt oben in unserer Wohnung schön ordentlich im Schrank.«