Waterweg ließ Marits Arm nicht los, auch nicht, als sie durchs Wasser wateten. Die runden Köpfe der Seelöwen tauchten in einiger Entfernung auf, doch diesmal kamen sie nicht heran, um zu spielen. Sie spürten die Spannung zwischen den beiden schweigenden Menschen. Als sie vor dem Schiff im Wasser standen, konnte Marit zum ersten Mal die Lettern an der Bordwand lesen: MARI NOCTURNA stand dort, dunkelblau auf weißem Grund. Die Nächtliche Maria. Ein seltsamer Name.
Waterweg zog sie die Leiter hinauf.
Auf dem Schiff reichte er Marit eine Wasserflasche. Sie dachte an José, während sie trank. An die Schnur, die in seine Handgelenke einschnitt. Mit Waterwegs Wasser trank sie ihr schlechtes Gewissen, es schmeckte bitter und giftig, und sie wusste, dass es nicht am Wasser lag. Aber sie konnte nicht anders. Sie musste trinken.
Er wartete, bis sie auch noch den letzten Tropfen aus der Flasche geschüttelt hatte. Dann zog er sie an sich und umarmte sie lange. Sie sträubte sich und schließlich ließ er sie los.
»Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?«, fragte er. »Ich dachte, ich hätte dich verloren. Seit wann sprichst du wieder? Und seit wann sprichst du spanisch?«
»Ich spreche nur noch spanisch«, antwortete Marit. »Nur meine Träume träume ich noch auf Deutsch.«
»Von mir aus«, sagte Waterweg. »Von mir aus sprich chinesisch mit mir, wenn du nur sprichst! Ich bin so froh. So froh, dass ich dich gefunden habe.«
Er verschwand in der winzigsten Kajüte, die man sich vorstellen konnte, und tauchte mit Armen voller Essen wieder auf: Dauerbrot und Butter, Wurst, Bananen und frische Guaven.
»Erzähl mir, was geschehen ist«, sagte er. »Erzähl mir alles. Damals im Sturm, als ich die Mariposa fast eingeholt hatte … da ahnte ich ja nicht, dass du an Bord warst. Ich begann es zu ahnen, als ich den Bären am Strand gefunden habe.«
Marit fragte sich wieder, wie er es im Sturm überhaupt geschafft hatte, den Mast zu reparieren, draußen, allein auf See.
»Wir dachten, du wärst tot«, sagte sie. »Nach dem Sturm.«
Er nickte. »Aber ich habe eine Aufgabe, bei der ich es mir nicht leisten kann zu sterben. Vorerst nicht.«
Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn. Er sah ihrer Mutter so ähnlich. Sie hasste ihn für diese Ähnlichkeit.
»Du hast mich nicht ihretwegen hierhergebracht«, sagte sie. »Wegen meiner Mutter. Wegen ihres alten Traums. Es war alles eine Lüge.«
»Ja«, sagte er. »Ja und nein. Es gab etwas zu erledigen hier und ich habe mich freiwillig gemeldet. Weil ich an den Traum deiner Mutter dachte.«
»Zu erledigen … Es hat mit der Karte zu tun.«
Er nickte. »Die Karte. Aber ich glaube nicht, dass du verstehst.«
»Nein. Ich verstehe nichts. José hat gesagt, er hätte sie von seinem Vater bekommen. Was geschieht auf der Isla Maldita? Es hat nichts mit irgendwelchen toten Piraten zu tun, nicht wahr? Womit dann?«
Waterweg schüttelte langsam den Kopf. »Von seinem Vater … la Isla Maldita … Jetzt verstehe ichnichts mehr. Er hat die Karte Casaflora gestohlen. Dachte ich. Moment.« Seine stechenden blauen Augen suchten ihre. »Kann es sein, dass es nocheine Karte gibt?«
Marit biss sich auf die Lippen. Vielleicht hätte sie nicht sagen sollen, was sie gesagt hatte. Es war alles so verwirrend! Zwei Karten?
»Du arbeitest für die Deutschen«, sagte sie. »Ist es nicht so?«
»Ich bin deutsch«, antwortete Waterweg. »Du auch, übrigens.«
Nein, wollte Marit sagen. Ich war es einmal. Ich hatte einmal eine Heimat. Doch jetzt habe ich keine mehr. Sie ist verbrannt. »Warum ist es so wichtig«, fragte sie stattdessen, »eine verdammte Karte zu finden?«
»Das ist … nicht wichtig«, erwiderte er zu ihrem Erstaunen. »Es ist wichtig, dass sie nicht in die falschen Hände gerät. Hier. Iss.« Er reichte ihr ein Brot mit einer Scheibe Wurst.
Marit schüttelte den Kopf. »Ich esse kein Brot von einem, der Leute an Bäume fesselt.«
Er seufzte. »Aber mein Wasser, das hast du getrunken. Marit, eines Tages wirst du verstehen, warum ich tun musste, was ich getan habe. Mit diesem Jungen. Morgen früh wird er erschöpft genug sein, um mir zu sagen, wo die Karte ist.«
»Da war Blut in seinem Haar. Du hast ihn geschlagen.«
»Ich dachte, er hätte dir etwas getan.« Er beugte sich vor, legte seine Hände auf ihre Schultern und schüttelte sie. »Begreifst du noch immer nicht? Ich habe meine Schwester verloren, und du bist alles, was von ihr geblieben ist. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustoßen würde.«
»Dann kannst du mich ja verstehen«, sagte Marit. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn meinem Bruder etwas zustoßen würde.«
»Du hast keinen Bruder.«
»Oh doch«, sagte Marit. »Und er sitzt auf Marchena fest, ohne Wasser und ohne Nahrung, mit Blut in seinem Haar.«
Lied der roten Strandkrabbe
Bin nur ein Farbklecks auf dem Stein,
rot, orange und blau.
Bin nur ein Farbklecks auf dem Stein
und würd so gern was andres sein,
bedeutend, groß und schlau.
Ich recke meine Fühler
und bestieläuge die Welt.
Ich recke meine Fühler
und fühle, wann das Wasser kühler
wird und Regen fällt.
Mehr hat man mir nicht beigebracht,
nicht einmal, geradeaus zu gehn.
Mehr hat man mir nicht beigebracht,
ich laufe seitwärts, Tag und Nacht,
auf zu viel Beinen ohne Zeh’n.
Du, Mensch, nennst nur zwei Beine dein,
bist kaum ein Klecks in dieser Welt.
Du, Mensch, nennst nur zwei Beine dein
und würdest gern bedeutend sein
und wärst so gern ein Held.
Cautivos del fuego
Gefangene des Feuers
In dieser Nacht schlief Marit in der winzigsten aller Kajüten auf einer Matratze aus Segeltuch. Nein. Sie schlief nicht. Sie blieb wach.
Durch das Steuerbordfenster konnte sie die helle Linie des Strands sehen und darauf die plumpen, dunklen Körper der schlafenden Seelöwen. Kleine Schatten huschten vorbei – Strandkrabben. Sie wusste, dass ihre Scheren und Panzer rot waren wie das Feuer der erloschenen Vulkane. Das Fenster war breit und flach, das Glas eingepasst in den schwarzen Rahmen einer schützenden Gummilasche, die dem Bild des Strands etwas wie einen Trauerrand verlieh. Der Rahmen rückte den Strand dort draußen weit weg, als wäre das Fenster gar kein Fenster, sondern nur ein Bild … ein Bild, dessen Teil Marit nie wieder werden konnte.
Von draußen hörte sie Waterwegs ruhige Atemzüge, nur durch das dünne Holz einer kleinen Tür von ihr getrennt. Er hatte sich dort auf den Boden gelegt, ohne Matratze, ohne Schutz vor dem kühlen Wind, der jetzt übers Wasser strich. Er hatte eine Flasche Wasser und einen Teller mit zwei belegten Broten auf das winzige Regalbrett unter dem Steuerbordfenster gestellt. Er hatte ihr eine Wolldecke gegeben. Er hatte alles getan, damit sie es bequem hatte.
Marit saß aufrecht in der Nacht, die Arme um die Knie geschlungen, und hasste all diese Bequemlichkeit, denn an Land gab es jemanden, der es nicht bequem hatte. Jemanden, der Angst vor dem Morgen hatte.
»Was wird geschehen?«, hatte Marit gefragt, »wenn der Morgen kommt?«
»Dann wird mir der kleine Held an Land sagen, wo er die Karte versteckt hat«, hatte Waterweg geantwortet, mit einem seltsam traurigen Lächeln. »Dann wird er durstig genug sein. Und wir werden zurücksegeln, nach Isabela. Wenn Casaflora den Motor nicht mehr hinbekommt, nehmen wir ihn mit.«
»Und José?«
»Was denkst du denn? Denkst du, ich lasse ihn hier verdursten?«
»Ja«, hatte Marit geantwortet, »das denke ich.«
»Unsinn. Ich nehme ihn auch mit. Hast du nicht gesagt, er lebt auf Isabela? Wir bringen ihn dorthin zurück, wo er hingehört. Und dann wirst du ihn vergessen. Ich wünsche mir – wirklich –, dass du hier ein neues Leben beginnst, irgendwie. Aber dieser José – er lebt in einer Welt, zu der du keinen Zugang hast, zwischen Maniokstauden und Fischernetzen. Deine Familie hat zwischen Büchern und Bildern gelebt. Er ist nicht dein Bruder, und du bist nicht seine Schwester, und es kann niemals so sein.«