Der Kellner kam mit der Flasche. ›Jetzt sind wir in der Schweiz.‹
Ich bezahlte die Flasche und gab ihm ein gutes Trinkgeld. ›Behalten Sie den Wein‹, sagte ich. ›Ich brauche ihn nicht mehr. Ich wollte etwas feiern, aber jetzt merke ich, daß schon die erste Flasche zuviel für mich war.‹
›Sie haben fast auf leeren Magen getrunken, mein Herr‹, erklärte er mir.
›Das war es.‹ Ich stand auf.
›Haben der Herr vielleicht Geburtstag?‹ fragte der Kellner.
›Jubiläum‹, sagte ich. ›Goldenes Jubiläum!‹
Der kleine Mann in meinem Abteil saß schweigend für einige Minuten da; er schwitzte jetzt nicht mehr, aber man konnte sehen, daß sein Anzug und seine Wäsche feucht waren. Dann fragte er: ›Sind wir in der Schweiz?‹
›Ja‹, erwiderte ich.
Er schwieg wieder und sah aus dem Fenster. Eine Station mit Schweizer Namen kam vorbei. Ein Schweizer Bahnhofsvorsteher winkte, und zwei Schweizer Polizisten standen neben dem Gepäck, das verladen wurde, und plauderten. Man konnte Schweizer Schokolade und Schweizer Würste an einem Kiosk erstehen. Der Mann lehnte hinaus und kaufte eine Schweizer Zeitung. ›Ist dies hier die Schweiz?‹ fragte er den Jungen.
›Ja. Was sonst? Zehn Rappen.‹
›Was?‹
›Zehn Rappen! Zehn Centimes! Für die Zeitung!‹
Der Mann zahlte, als hätte er das große Los gewonnen. Das veränderte Geld mußte ihn endlich überzeugt haben. Mir hatte er nicht geglaubt. Er entfaltete die Zeitung, blickte hinein und legte sie weg. Es dauerte eine Weile, ehe ich hörte, was er sagte. Ich war so benommen von meiner neuen Freiheit, daß die Räder des Zuges in meinem Kopf zu rattern schienen. Erst nachdem ich sah, daß er seine Lippen bewegte, hörte ich, daß er sprach.
›Endlich heraus‹, sagte er und starrte mich an, ›aus eurem verfluchten Land, Herr Parteigenosse! Aus dem Land, das ihr zu einer Kaserne und einem Konzentrationslager gemacht habt, ihr Schweine! In der Schweiz, in einem freien Land, in dem ihr nichts zu befehlen habt! Endlich kann man den Mund aufmachen, ohne von euch mit dem Stiefel in die Zähne getreten zu werden! Was habt ihr aus Deutschland gemacht, ihr Räuber und Mörder und Folterknechte!‹ Kleine Blasen bildeten sich in seinen Mundwinkeln. Er starrte mich an, wie eine hysterische Frau eine Kröte anstarren würde. Er hielt mich für einen Parteigenossen, und nach dem, was er gehört hatte, hatte er recht.
Ich hörte ihm zu mit der tiefen Ruhe, gerettet zu sein.
›Sie sind ein mutiger Mann‹, sagte ich dann. ›Ich bin mindestens zwanzig Pfund schwerer und fünfzehn Zentimeter größer als Sie. Aber sprechen Sie sich nur aus. Es erleichtert.‹
›Höhnen!‹ sagte er und wurde noch wütender. ›Verhöhnen wollen Sie mich auch noch, was? Aber das ist vorbei! Für immer vorbei! Was habt ihr mit meinen Eltern gemacht? Was hat mein alter Vater euch getan? Und jetzt! Jetzt wollt ihr die Welt in Brand stecken!‹
›Glauben Sie, daß es Krieg gibt?‹ fragte ich.
›Höhnen Sie nur weiter! Als ob Sie das nicht wüßten! Was sonst bleibt euch übrig mit eurem Tausendjährigen Reich und eurer infamen Aufrüstung? Ihr Berufsmörder und Verbrecher! Wenn ihr keinen Krieg macht, bricht euer Schwindelwohlstand zusammen und ihr mit ihm!‹
›Das glaube ich auch‹, sagte ich und fühlte die warme Sonne des späten Nachmittags auf meinem Gesicht wie eine Liebkosung. ›Aber wie wird es, wenn Deutschland gewinnt?‹
Der Mann mit dem feuchten Anzug starrte mich an und schluckte. ›Wenn ihr gewinnt, dann gibt es keinen Gott mehr‹, sagte er dann mit Mühe.
›Das glaube ich auch.‹ Ich stand auf.
›Rühren Sie mich nicht an!‹ zischte er. ›Sie werden verhaftet! Ich ziehe die Notbremse! Ich zeige Sie an! Sie sollten sowieso angezeigt werden, Sie Spion! Ich habe gehört, was Sie geredet haben!‹
Das fehlte noch, dachte ich. ›Die Schweiz ist ein freies Land‹, sagte ich. ›Man verhaftet da nicht gleich auf Grund einer Denunziation. Sie scheinen drüben gut gelernt zu haben.‹
Ich nahm meinen Koffer und suchte mir ein anderes Abteil. Ich wollte den hysterischen Mann nicht aufklären; aber ich wollte ihm auch nicht gegenübersitzen. Haß ist eine Säure, die die Seele auffrißt, ganz gleich, ob man selbst haßt oder gehaßt wird. Ich hatte das gelernt während meiner Wanderschaft.
So kam ich nach Zürich.«
9
Die Musik setzte einen Augenblick aus. Man hörte aufgeregte Worte von der Tanzfläche. Gleich darauf setzte das Orchester stärker wieder ein, und eine Frau in einem kanariengelben Kleid und mit einer Kette falscher Diamanten im Haar begann zu singen. Das Unvermeidliche war geschehen: ein Mitglied der deutschen Partei war beim Tanzen mit einem der englischen zusammengeprallt. Jeder beschuldigte den anderen der Absicht. Der Manager und zwei Kellner spielten Völkerbund und begütigten, ohne gehört zu werden. Das Orchester war klüger: es wechselte den Rhythmus. Statt eines Foxtrotts spielte es einen Tango, und die Diplomaten mußten entweder stehen bleiben und lächerlich werden oder weitertanzen. Der deutsche Kontrahent aber schien keinen Tango zu kennen, während der englische den Rhythmus, auf der Stelle tanzend, andeutete. Da beide gleich darauf von den anderen Paaren angestoßen wurden, verlor sich ihr Argument. Mit wütenden Blicken gingen sie zu ihren Tischen.
»Duellieren«, sagte Schwarz verächtlich.»Warum duellieren sich die Helden nicht?«
»Sie kamen nach Zürich«, erwiderte ich.
Er lächelte schwach.»Wollen wir hier weggehen?«
»Wohin?«
»Es gibt sicher noch einfache Kneipen, die die ganze Nacht offen sind. Dies hier ist ein Grab, in dem getanzt und Krieg gespielt wird.«
Er zahlte und fragte den Kellner nach einem anderen Lokal. Der Mann schrieb eine Adresse auf ein Stück Papier, das er von seinem Block riß, und erklärte uns die Richtung, in der wir gehen müßten.
Wir traten vor der Tür in eine wunderbare Nacht. Die Sterne waren noch da, aber schon lagen Meer und Morgen am Horizont in einer ersten, blauen Umarmung; der Himmel war höher und der Geruch nach Salz und Blüten stärker geworden als früher. Es würde ein klarer Tag werden. Lissabon hat am Tage etwas naiv Theatralisches, das bezaubert und gefangennimmt, aber nachts ist es das Märchen einer Stadt, die in Terrassen mit allen Lichtern zum Meere herabsteigt wie eine festlich geschmückte Frau, die sich niederbeugt zu ihrem dunklen Geliebten.
Wir standen einige Zeit und schwiegen.»So haben wir uns einmal das Leben gedacht, wie?«sagte Schwarz schließlich trübe.»Tausend Lichter und Straßen, die in die Unendlichkeit fuhren -«
Ich antwortete nicht. Für mich war das Leben das Schiff, das unten im Tejo lag, und es fuhr nicht in die Unendlichkeit – es fuhr nach Amerika. Ich hatte genug von Abenteuern; die Zeit hatte uns damit beworfen wie mit faulen Eiern. Das abenteuerlichste Abenteuer war ein gültiger Paß, ein Visum und eine Fahrkarte. Dem Wanderer wider Willen war das Alltägliche längst zur Phantasmagorie und das Abenteuer zur Plage geworden.
»Zürich erschien mir damals so wie Ihnen diese Stadt heute nacht«, sagte Schwarz.»Dort begann das, was ich glaubte verloren zu haben. Sie wissen, daß Zeit ein sehr dünner Aufguß des Todes ist, der uns langsam zugefügt wird wie ein harmloses Gift. Anfangs belebt es und läßt uns sogar glauben, wir seien fast unsterblich – aber wenn es Tropfen um Tropfen, Tag für Tag um einen Tropfen und einen Tag stärker wird, verändert er sich in eine Säure, die unser Blut trübe macht und zerstört. Selbst wenn wir versuchen wollten, mit den Jahren, die wir noch haben, die Jugend zurückzukaufen, so könnten wir es nicht, die Säure der Zeit hat uns verändert, und die chemische Verbindung ist nicht mehr dieselbe, es müßte denn ein Wunder geschehen. Dieses Wunder geschah.«
Er blieb stehen und starrte auf die schimmernde Stadt.»Ich möchte, daß diese Nacht in meiner Erinnerung die glücklichste meines Lebens wird«, flüsterte er.»Sie ist die schrecklichste. Glauben Sie nicht, daß die Erinnerung das vollbringen kann? Sie muß es doch können! Das Wunder, wenn man es erlebt, ist nie vollkommen, erst die Erinnerung macht es dazu – und wenn das Glück tot ist, kann es sich doch nicht mehr ändern und zur Enttäuschung werden. Es bleibt vollkommen. Wenn ich es jetzt noch einmal beschwören kann: muß es dann nicht so bleiben, wie ich es sehe? Muß es nicht da sein, solange auch ich da bin?«