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Eines Morgens, als ich Helen abholen wollte, traf ich einen Herrn Krause bei ihr, den sie als jemand vom deutschen Konsulat vorstellte. Sie sprach mich, als ich eintrat, französisch an und nannte mich Monsieur Lenoir. Krause mißverstand sie und fragte mich in schlechtem Französisch, ob ich der Sohn des berühmten Malers sei.

Helen lachte. ›Herr Lenoir ist Genfer‹, erklärte sie. ›Aber er spricht auch Deutsch. Mit Renoir ist er nur durch große Bewunderung verwandt.‹

›Sie lieben impressionistische Bilder?‹ fragte Krause

›Er hat selbst eine Sammlung‹, sagte Helen.

›Ich habe ein paar Zeichnungen‹, erwiderte ich. Die Erbschaft des toten Schwarz als Sammlung zu erwähnen, schien mir eine von Helens neuen Kapriolen. Da aber eine ihrer Kapriolen mich vor dem Konzentrationslager bewahrt hatte, spielte ich mit.

›Kennen Sie die Sammlung Oskar Reinharts in Winterthur?‹ fragte Krause mich liebenswürdig.

Ich nickte. ›Reinhart hat einen van Gogh, für den ich einen Monat meines Lebens hingeben würde.‹

›Welchen Monat?‹ fragte Helen.

›Welchen van Gogh?‹ fragte Krause.

›Den Garten im Irrenhaus.‹

Krause lächelte. ›Ein herrliches Bild!‹

Er begann von anderen Gemälden zu sprechen, und da er auf den Louvre kam, konnte ich, dank der Schulung durch den toten Schwarz, mitreden. Ich begriff jetzt auch Helens Taktik; sie wollte vermeiden, daß ich als ihr Mann oder als Emigrant erkannt würde. Die deutschen Konsulate waren nicht über Anzeigen bei der Fremdenpolizei erhaben. Ich spürte, daß Krause herauszufinden versuchte, in welchem Verhältnis ich zu Helen stände. Sie hatte das bereits gewußt, ehe er auch nur fragen konnte, und dichtete mir jetzt eine Frau – Lucienne – und zwei Kinder an, von denen die ältere Tochter hervorragend Klavier spielte.

Krauses Augen gingen flink zwischen uns hin und her. Er benützte das Gespräch, um herzlich eine neue Zusammenkunft vorzuschlagen – vielleicht ein Lunch in einem der kleinen Fischrestaurants am See -, man treffe so selten Menschen, die wirklich etwas von Bildern verständen.

Ich stimmte ebenso herzlich zu – wenn ich wieder nach der Schweiz käme. Das wäre etwa in vier bis sechs Wochen. Er war überrascht; er hätte geglaubt, ich wohne in Genf. Ich erklärte ihm, daß ich Genfer sei, aber in Belfort lebe. Belfort liegt in Frankreich; er konnte da nicht so leicht nachforschen. Beim Abschied konnte er die letzte Frage dieses Verhörs nicht lassen: wo Helen und ich uns getroffen hätten; es wäre doch so selten, sympathische Menschen zu finden.

Helen sah mich an. ›Beim Arzt, Herr Krause. Kranke Menschen sind so oft sympathischer als -‹ sie lächelte ihn boshaft an ›- die Gesundheitsprotzen, denen selbst im Gehirn Muskeln wachsen statt Nerven.‹

Er nahm diesen Schuß mit einem Augurenblick.

›Ich verstehe, gnädige Frau.‹

›Gehört Renoir bei Ihnen nicht schon zur entarteten Kunst?‹ fragte ich, um nicht hinter Helen zurückzubleiben. ›Van Gogh doch sicher.‹

›Nicht für uns Kenner‹, erwiderte Krause mit einem zweiten Augurenblick und glitt zur Tür hinaus.

›Was wollte er?‹ fragte ich Helen.

›Spionieren. Ich wollte dich warnen, nicht zu kommen; aber du warst schon auf dem Weg. Mein Bruder hat ihn geschickt. Wie ich das alles hasse!‹

Der schattenhafte Arm der Gestapo hatte über die Grenze gegriffen, um uns daran zu erinnern, daß wir noch nicht ganz entkommen waren. Krause hatte Helen gesagt, sie möge gelegentlich ins Konsulat kommen. Nichts Wichtiges, aber die Pässe müßten einen neuen Stempel haben. Eine Art Ausreiseerlaubnis. Das sei versäumt worden.

›Er sagt, es sei eine neue Verordnung‹, erklärte Helen.

›Er lügt‹, erwiderte ich. ›Ich wüßte es sonst. Emigranten wissen so etwas immer sofort. Wenn du hingehst, kann es sein, daß sie dir den Paß wegnehmen.‹

›Wäre ich dann ein Emigrant wie du?‹

›Ja. Wenn du nicht zurückgingest.‹

›Ich bleibe‹, sagte sie ›Ich gehe nicht zum Konsulat, und ich gehe nicht zurück.‹

Wir hatten vorher nie darüber gesprochen. Dies war die Entscheidung. Ich antwortete nicht. Ich sah Helen nur an; ich sah hinter ihr den Himmel und die Bäume des Gartens und einen schmalen, glitzernden Streifen See. Ihr Gesicht war dunkel vor dem vielen Licht. ›Du hast keine Verantwortung dafür‹, sagte sie ungeduldig. ›Du hast mich nicht überredet, und es hat nichts mit dir zu tun. Auch wenn du nicht da wärest, würde ich nie mehr zurückgehen. Ist das genug?‹

›Ja‹, sagte ich überrascht und etwas beschämt. ›Aber es ist nicht das, woran ich gedacht habe.‹

›Das weiß ich, Josef. Dann laß uns nicht mehr davon sprechen. Nie mehr.‹

›Krause wird wiederkommen‹, sagte ich. ›Oder jemand anderer.‹ Sie nickte. ›Sie könnten herausfinden, wer du bist und dir Schwierigkeiten machen. Laß uns nach dem Süden gehen.‹

›Wir können nicht nach Italien. Die Gestapo ist zu befreundet mit der Polizei Mussolinis.‹

›Gibt es keinen anderen Süden?‹

›Doch. Das Tessin der Schweiz. Locarno und Lugano.‹

Wir fuhren am Nachmittag ab. Fünf Stunden später saßen wir auf der Piazza von Ascona vor der Locanda Svizzera in einer Welt, die nicht fünf, sondern fünfzig Stunden von Zürich entfernt war. Die Landschaft war italienisch, der Ort war voll von Touristen, und niemand schien an etwas anderes zu denken, als zu schwimmen, in der Sonne zu liegen und rasch noch so viel vom Leben zu erraffen, als möglich war. Es war eine sonderbare Stimmung in Europa in diesen Monaten. Erinnern Sie sich?«fragte Schwarz.

»Ja«, erwiderte ich.»Man hoffte auf Wunder. Ein zweites München. Und ein drittes. Und so fort.«

»Es war das Zwielicht von Hoffnung und Verzweiflung. Die Zeit hielt den Atem an. Nichts anderes schien einen Schatten zu werfen unter dem transparenten und unwirklichen Schatten der großen Drohung. Es war, als stände ein riesiger, mittelalterlicher Komet zusammen mit der Sonne am strahlenden Himmel. Alles war lose. Und alles war möglich.«

»Wann gingen Sie nach Frankreich?«fragte ich.

Schwarz nickte.»Sie haben recht. Alles andere war nur vorübergehend. Frankreich ist die ruhelose Heimat der Heimatlosen. Alle Wege fuhren immer wieder dahin. Helen erhielt nach einer Woche einen Brief von Herrn Krause. Sie möge sofort zum Konsulat Zürich oder Lugano kommen. Es sei wichtig.

Wir mußten fort. Die Schweiz war zu klein und zu wohlorganisiert. Man würde uns immer wieder finden. Und ich konnte mit meinem falschen Paß jeden Tag kontrolliert und ausgewiesen werden.

Wir fuhren nach Lugano, aber nicht zum deutschen, sondern zum französischen Konsulat für ein Visum. Ich erwartete Schwierigkeiten, aber es ging glatt. Wir bekamen Touristenvisa für ein Jahr. Ich hatte höchstens auf drei Monate gerechnet.

›Wann wollen wir fahren?‹ fragte ich Helen.

›Morgen.‹

Wir aßen am letzten Abend im Garten des Albergos délia Posta in Ronco, einem Dorf, das wie ein Schwalbennest hoch über dem See an den Bergen hängt. Zwischen den Bäumen schimmerten Windlichter, Katzen strichen über die Mauern, und von den Terrassen unterhalb des Gartens kam der Geruch von Rosen und wildem Jasmin. Der See mit den Inseln, auf denen in römischen Zeiten ein Venustempel gestanden haben soll, lag unbewegt, die Berge ringsum waren kobaltblau vor dem hellen Himmel, und wir aßen Spaghetti und Piccata und tranken dazu den Nostranowein der Gegend. Es war ein Abend von einer fast unerträglichen Süße und Schwermut.

›Schade, daß wir wegmüssen‹, sagte Helen. ›Ich würde gern einen Sommer hierbleiben.‹

›Du wirst das noch oft sagen.‹

›Was ist besser, als das zu sagen? Ich habe das Gegenteil oft genug gesagt.‹

›Was?‹

›Schade, daß ich hierbleiben muß.‹

Ich nahm ihre Hand. Ihre Haut war sehr braun, die Sonne brauchte dafür nicht mehr als zwei Tage, und ihre Augen schienen dadurch heller. ›Ich liebe dich sehr‹, sagte ich. ›Ich liebe dich und diesen Augenblick und den Sommer, der nicht bleiben wird, und diese Landschaft und den Abschied, und zum erstenmal in meinem Leben mich selbst, weil ich wie ein Spiegel bin und dich spiegele und dich so zweimal habe. Gesegnet sei dieser Abend und diese Stunde!‹