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»Haben Sie es getan?«

Schwarz nickte.»Ich löste ein Billett erster Klasse; Luxus flößt immer Vertrauen ein. Erst als der Zug fuhr, fiel mir das Geld ein, das ich bei mir trug. Ich konnte es nirgendwo im Abteil verstecken; ich war nicht allein. Außer mir saß noch ein Mann da, der sehr blaß und unruhig war. Ich versuchte die Toiletten; beide waren besetzt. Inzwischen erreichte der Zug die Grenzstation. Mein Instinkt trieb mich zum Speisewagen. Ich setzte mich dort hin, bestellte eine Flasche teuren Wein und das Menü.

›Hat der Herr Gepäck?‹ fragte der Kellner.

›Ja. Im nächsten Wagen erster Klasse.‹

›Will der Herr dann nicht vorher den Zoll erledigen? Ich kann den Platz hier freihalten.‹

›Das kann noch lange dauern. Bringen Sie mir schon das Essen. Ich bin hungrig. Und ich möchte vorausbezahlen, damit Sie nachher nicht glauben, ich liefe weg.‹

Meine Hoffnung, von den Grenzbeamten im Speisewagen übersehen zu werden, erfüllte sich nicht. Der Kellner stellte gerade den Wein und die Suppe auf den Tisch, als zwei Uniformierte durchkamen. Ich hatte das Geld, das ich bei mir trug, inzwischen flach unter die Filzunterlage des Tischtuches geschoben und den Brief Helens in meinen Paß gelegt.

›Paß‹, sagte der erste Beamte schroff. Ich gab ihm meinen Paß.

›Kein Gepäck?‹ fragte er, ehe er ihn öffnete.

›Nur einen Handkoffer‹, sagte ich. ›Im nächsten Wagen erster Klasse.‹

›Sie müssen ihn öffnen‹, sagte der zweite.

Ich stand auf. ›Halten Sie mir den Platz‹, sagte ich zu dem Kellner. ›Natürlich! Der Herr hat ja vorausbezahlt.‹

Der erste Zollbeamte sah mich an. ›Sie haben vorausbezahlt.‹

›Ja. Sonst hätte ich mir das Essen und den Wein nicht leisten können. Hinter der Grenze hätte es Devisen gekostet. Die habe ich nicht.‹

Der Beamte lachte plötzlich. ›Keine schlechte Idee!‹ sagte er. ›Komisch, daß so wenige daraufkommen. Gehen Sie voraus. Ich muß noch den Wagen revidieren.‹

›Und mein Paß?‹

›Wir finden Sie schon.‹

Ich ging zu meinem Wagen. Mein Mitfahrer saß dort, noch unruhiger als vorher. Er schwitzte und rieb sich Hände und Gesicht mit einem nassen Taschentuch. Ich starrte auf den Bahnhof und öffnete das Fenster. Es hatte keinen Zweck, hinauszuspringen, wenn ich gefaßt wurde; man konnte nicht entkommen – aber das offene Fenster beruhigte etwas.

Der zweite Beamte stand in der Tür. ›Ihr Gepäck!‹

Ich holte meinen Koffer herunter und öffnete ihn.

Er schaute hinein und durchsuchte dann die Koffer meines Mitreisenden. ›Gut‹, erklärte er und grüßte.

›Meinen Paß‹, sagte ich.

›Den hat mein Kollege.‹

»Der Kollege kam in derselben Minute. Es war ein anderer als vorher – ein Parteigenosse in Uniform, dünn, mit einer Brille und hohen Stiefeln.«Schwarz lächelte.»Wie die Deutschen Stiefel lieben!«

»Sie brauchen sie«, sagte ich.»Sie waten in so viel Dreck.«

Schwarz leerte sein Glas. Er hatte wenig getrunken während der Nacht. Ich sah auf die Uhr: es war halb vier. Schwarz sah es.»Es dauert nicht mehr lange«, sagte er.»Sie werden Zeit genug für das Boot und alles andere haben. Worüber ich jetzt zu berichten habe, ist eine Zeit des Glücks. Und über Glück kann man nicht viel erzählen.«

»Wie kamen Sie durch?«fragte ich.

»Der Parteigenosse hatte den Brief Helens gelesen. Er gab mir meinen Paß zurück und fragte, ob ich in der Schweiz Bekannte hätte. Ich nickte.

›Wen?‹

›Die Herren Ammer und Rotenberg.‹

Es waren die Namen von zwei Nazis, die in der Schweiz arbeiteten. Jeder Emigrant, der in der Schweiz gelebt hatte, kannte und haßte sie.

›Sonst noch jemand?‹

›Unsere Herren in Bern. Nicht nötig, sie alle zu nennen, nicht wahr?‹

Er salutierte. ›Viel Glück! Heil Hitler!‹

Mein Gefährte war nicht so glücklich. Er mußte alle Papiere vorzeigen und wurde einem Kreuzverhör unterzogen. Er schwitzte und stotterte. Ich konnte es nicht mit ansehen. ›Kann ich zum Speisewagen zurückgehen?‹ fragte ich.

›Selbstverständlich!‹ erwiderte der Parteigenosse. ›Guten Appetit!‹

Ich fand den Speisewagen besetzt. Eine Schar Amerikaner hatte meinen Tisch okkupiert. ›Wo ist mein Platz?‹ fragte ich den Kellner.

Er hob die Schultern. ›Ich konnte ihn nicht halten. Was kann man gegen diese Amerikaner machen? Sie verstehen kein Deutsch und setzen sich hin, wo sie wollen! Nehmen Sie den Platz drüben. Tisch ist ja Tisch, nicht wahr? Ich habe Ihren Wein schon rübergestellt.‹

Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Eine Familie hatte die vier Plätze meines Tisches fröhlich beschlagnahmt. Da, wo mein Geld lag, saß jetzt ein sehr schönes, sechzehnjähriges Mädchen mit einer Kamera. Wenn ich darauf bestanden hätte, den Platz wiederzubekommen, hätte ich Aufmerksamkeit erregt. Wir waren noch auf deutschem Boden.

Während ich entschlußlos dastand, sagte der Kellner: ›Warum nimmt der Herr nicht einstweilen den Tisch drüben und nachher, wenn er frei wird, wieder den andern? Amerikaner essen schnell – belegte Brote und Orangensaft. Ich kann dem Herrn dann sein richtiges Essen hinterher servieren.‹

›Gut.‹

Ich setzte mich so, daß ich mein Geld beobachten konnte. Es ist merkwürdig mit einem – eine Minute vorher hätte ich gern auf alles Geld verzichtet, um nur durchzukommen, – jetzt aber saß ich da und wußte nur, daß ich es wiederhaben wollte, in der Schweiz allerdings, selbst wenn ich die amerikanische Familie attackieren müßte. Dann sah ich, wie draußen der kleine, schwitzende Mann abgeführt wurde, und hatte ein Gefühl tiefer, unbewußter Befriedigung, daß nicht ich es war, gekoppelt mit dem scheinheiligen Bedauern, das nichts als eine Bestechung des Schicksals durch billiges Mitleid ist.

Ich fand mich widerwärtig und konnte und wollte nichts dagegen tun. Ich wollte gerettet werden, und ich wollte mein Geld. Es war nicht das Geld als Geld – es war Sicherheit, es war Helen, es waren die Monate der Zukunft -, trotzdem war es das Geld, und es war meine eigene Haut und mein eigenes egoistisches Glück. Wir kommen nie davon los. Aber der in uns, den wir nicht kontrollieren können, sollte das Schauspielern lassen -«

»Herr Schwarz«, unterbrach ich ihn.»Wie kamen Sie zu Ihrem Geld?«

»Sie haben recht«, erwiderte er.»Auch diese törichte Tirade gehört dazu. Die Schweizer Zollbeamten kamen in den Speisewagen, und die amerikanische Familie hatte nicht nur Handgepäck, sondern auch Koffer im Gepäckwagen. Sie mußte hinaus. Die Kinder gingen mit. Sie waren mit dem Essen fertig. Der Tisch wurde abgeräumt. Ich ging hinüber, legte die Hand auf die Tischdecke und fühlte die schmale Erhöhung.

›Alles erledigt mit dem Zoll?‹ fragte der Kellner, als er meine Flasche herüberbrachte.

›Natürlich‹, erwiderte ich. ›Bringen Sie mir jetzt den Rostbraten. Sind wir schon in der Schweiz?‹

›Noch nicht‹, erklärte er. ›Erst wenn wir fahren.‹

Er ging und ich wartete darauf, daß der Zug anziehen möge. Es war die rasende letzte Ungeduld, die Sie wahrscheinlich auch kennen. Ich starrte durch das Fenster auf die Leute am Bahnsteig; ein Zwerg im Smoking mit zu kurzen Hosen versuchte dort, mit aller Gewalt Gumpoldskirchener Wein und Schokolade von einem fahrbaren Nickelwagen zu verkaufen. Dann sah ich den schwitzenden Mann aus meinem Abteil zurückkommen. Er war allein und rannte zu seinem Wagen. ›Sie haben aber einen guten Zug‹, sagte der Kellner neben mir.

›Was?‹

›Ich meine, der Herr trinken den Wein aber wie beim Feuerlöschen.‹ Ich sah auf die Flasche. Sie war beinahe leer. Ich hatte sie getrunken, ohne es zu wissen. In diesem Augenblick rumpelte der Speisewagen. Die Flasche schwankte und fiel. Ich fing sie in der Hand. Der Zug begann zu fahren. ›Bringen Sie mir noch eine‹, sagte ich. Der Kellner verschwand.

Ich zog das Geld unter dem Tischtuch hervor und steckte es ein. Gleich darauf kamen die Amerikaner zurück. Sie setzten sich an den Tisch, an dem ich vorher gesessen hatte, und bestellten Kaffee. Das Mädchen begann die Landschaft zu fotografieren. Ich fand, daß sie recht hatte; es war die schönste Landschaft der Welt.