›Wenn du nicht gekommen bist, um mich zu holen, dann ist es ein Verbrechen, daß du überhaupt gekommen bist! Verstehst du das nicht?‹ sagte Helen, geschüttelt vor Zorn.
›Ja‹, erwiderte ich.
›Weshalb weichst du dann aus?‹
›Ich weiche nicht aus. Aber du weißt nicht, was es bedeutet.‹
›Weißt du es so genau? Weshalb bist du dann gekommen? Lüge nicht! Um noch einmal Abschied zu nehmen?‹
›Nein.‹
›Weshalb dann? Um hierzubleiben und Selbstmord zu begehen?‹
Ich schüttelte den Kopf. Ich erkannte, daß es nur eine Antwort gab, die sie verstehen würde, und nur eine, die ich jetzt geben durfte, selbst wenn es nie geschähe. Ich mußte sie geben. ›Um dich zu holen‹, sagte ich. ›Weißt du das denn immer noch nicht?‹
Ihr Gesicht veränderte sich. Der Zorn verschwand. Es wurde sehr schön. ›Ja‹, murmelte sie. ›Aber du mußt es mir doch sagen. Weißt du das denn noch immer nicht?‹
Ich nahm meinen Mut zusammen. ›Ich will es dir hundertmal sagen, Helen, und ich möchte es dir jede Minute sagen – am meisten aber sage ich es dir, wenn ich dir erklären muß, daß es unmöglich ist.‹
›Es ist nicht unmöglich. Ich habe einen Paß.‹
Ich schwieg einen Augenblick. Das Wort schlug ein, als wäre es ein Blitz in den konfusen Wolken meiner Überlegungen. ›Du hast einen Paß?‹ wiederholte ich. ›Einen Auslandspaß?‹
Helen öffnete ihre Handtasche und nahm ihren Paß heraus. Sie hatte ihn nicht nur, sie hatte ihn auch bei sich. Ich betrachtete ihn, wie man den heiligen Gral ansehen würde. Ein gültiger Paß war nichts anderes; er war Erklärung und Recht zugleich. ›Seit wann?‹ fragte ich.
›Seit zwei Jahren‹, sagte sie. ›Er ist noch drei Jahre gültig. Ich habe ihn dreimal gebraucht, einmal um nach Österreich zu fahren, als es noch unabhängig war, und zweimal für die Schweiz.‹
Ich blätterte ihn durch. Ich mußte mich fassen. Die Wirklichkeit stand plötzlich vor mir. Ein Paß knisterte in meiner Hand. Es war nicht mehr ausgeschlossen, daß Helen Deutschland verlassen konnte. Ich hatte geglaubt, es wäre nur möglich, wenn sie fliehen und heimlich die Grenze überschreiten würde, wie ich. ›Einfach, nicht wahr?‹ sagte Helen, die mich beobachtet hatte.
Ich nickte, als wäre ich ein Idiot. ›Du kannst also einen Zug nehmen und einfach abfahren‹, erwiderte ich und sah noch einmal den Paß an. Daran hatte ich nie gedacht. ›Aber du hast kein Visum nach Frankreich?‹
›Ich kann nach Zürich fahren und mir dort eins geben lassen. Für die Schweiz brauche ich keins.‹
›Das ist wahr.‹ Ich starrte sie an. ›Und deine Familie?‹ fragte ich. ›Lassen sie dich gehen?‹
›Ich werde sie nicht fragen. Und ihnen nichts sagen. Ich werde ihnen erklären, ich müsse nach Zürich, um zu einem Arzt zu gehen. Ich habe das schon vorher getan.‹
›Bist du denn krank?‹
›Natürlich nicht‹, sagte Helen. ›Ich habe es getan, um einen Paß zu bekommen. Um hier herauszukommen. Ich war am Ersticken.‹ Ich erinnerte mich, daß Georg sie gefragt hatte, ob sie beim Arzt gewesen sei. ›Du bist nicht krank?‹ fragte ich noch einmal.
›Unsinn. Meine Familie glaubt es aber. Ich habe es ihr eingeredet, damit ich Ruhe habe. Und damit ich heraus konnte. Martens hat mir dabei geholfen. Es braucht Zeit, einen echten Deutschen davon zu überzeugen, daß es vielleicht in der Schweiz Spezialisten geben könne, die noch mehr wissen, als die Autoritäten in Berlin.‹ Helen lachte plötzlich. ›Sei nicht so dramatisch! Es geht nicht um Leben und Tod, und es ist keine Flucht bei Nacht und Nebel. Ich fahre einfach morgen für einige Tage nach Zürich, um mich untersuchen zu lassen, so wie ich es schon vorher getan habe. Vielleicht sehe ich dich dann dort, wenn du auch da bist. Klingt das besser?‹
›Ja‹, sagte ich. ›Aber laß uns weiterfahren. Ich bin noch wie jemand, dessen Kopf abwechselnd rasch in kochendes und eiskaltes Wasser getaucht wird und der den Unterschied nicht fühlt. Warum habe ich nie daran gedacht? Es ist alles plötzlich so einfach, daß ich furchte, eine Brigade SS müsse gleich aus dem Wald brechen.‹
›Alles ist scheinbar einfach, wenn man verzweifelt ist, Liebster‹, sagte Helen sehr sanft. ›Eine sonderbare Kompensation! Ist das immer so?‹
›Ich hoffe, wir brauchen nie darüber nachzudenken.‹
Der Wagen glitt aus dem Staub des Sommerweges auf die Fahrbahn. ›Ich bin sogar vorbereitet, immer so zu leben‹, sagte Helen, ohne irgendein Anzeichen der Verzweiflung.
Sie ging mit mir ins Hotel. Es war überraschend, wie schnell sie sich in meiner Situation zurechtfand. ›Ich gehe mit dir in die Halle‹, erklärte sie. ›Männer allein sind verdächtiger als ein Mann mit einer Frau.‹
›Du lernst rasch.‹
Sie schüttelte den Kopf. ›Das habe ich gelernt, bevor du kamst. In den Jahren der Denunziation. Nationale Erhebungen sind wie Steine, die man vom Boden hebt – das Ungeziefer kriecht darunter hervor. Es hat für seine Vulgarität endlich große Worte, die es decken.‹
Der Hotelassistent gab mir meinen Schlüssel, und ich ging auf mein Zimmer. Helen blieb unten, um auf mich zu warten.
Mein Koffer stand neben der Tür auf einem Koffer-Stand. Ich blickte mich in dem belanglosen Zimmer um.
Es war wie viele, in denen ich gehaust hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich angekommen war, aber die Erinnerung daran verschwamm bereits. Ich erkannte, daß ich nicht mehr am Ufer stand oder mich versteckte und auf den Strom blickte – ich schwamm schon auf einer Planke mit.
Ich stellte den Koffer, den ich mitgebracht hatte, neben den, den ich früher gekauft hatte. Dann ging ich wieder hinunter zu Helen.
›Wie lange hast du Zeit?‹ fragte ich.
›Ich muß den Wagen heute nacht zurückbringen.‹
Ich sah sie an. Ich begehrte sie so, daß ich einen Augenblick nicht sprechen konnte. Ich starrte auf die braunen und grünen Sessel der Halle und auf die Portiersloge und den scharfbeleuchteten Tisch mit den vielen Brieffächern im Hintergrund und wußte, daß es hier unmöglich war, Helen auf mein Zimmer zu bringen. ›Wir können noch zusammen essen‹, sagte ich. ›Laß uns so tun, als ob wir uns morgen wiedersähen.‹
›Nicht morgen‹, erwiderte Helen. ›Übermorgen.‹
Übermorgen mochte etwas für sie bedeuten; für mich war es noch so wie niemals oder eine unsichere Chance in einer Lotterie mit wenigen Gewinnen und zahllosen Nieten. Ich hatte zu viele Übermorgen erlebt, und sie waren alle anders gewesen, als ich gehofft hatte.
›Übermorgen‹, sagte ich. ›Übermorgen oder einen Tag später. Es richtet sich nach dem Wetter. Wir wollen heute nicht daran denken.‹
›Ich denke an nichts anderes‹, erwiderte Helen.
Wir gingen in den Domkeller, ein altdeutsch eingerichtetes Restaurant, und fanden einen Tisch, an dem wir nicht belauscht werden konnten. Ich bestellte eine Flasche Wein und wir besprachen, was zu besprechen war. Helen wollte morgen nach Zürich fahren. Dort würde sie auf mich warten. Ich wollte den Weg über Österreich und den Rhein nehmen, den ich kannte, und sie anrufen, wenn ich Zürich erreicht hätte.
›Und wenn du nicht kommst?‹ fragte sie.
›Man darf aus Schweizer Gefängnissen schreiben. Warte eine Woche. Wenn du dann nichts von mir gehört hast, fahre zurück.‹
Helen sah mich lange an. Sie wußte, was ich meinte. Aus deutschen Gefängnissen gab es keine Gelegenheit mehr, zu schreiben. ›Ist die Grenze scharf bewacht?‹ flüsterte sie.
›Nein‹, sagte ich. ›Und denk nicht darüber nach. Ich bin hereingekommen – warum sollte ich nicht hinauskommen?‹
Wir versuchten, den Abschied zu ignorieren; aber wir konnten es nicht ganz. Wie eine mächtige schwarze Säule stand er zwischen uns, und alles, was wir tun konnten, war, um ihn herum gelegentlich einen Blick auf unsere verstörten Gesichter zu erhaschen. ›Es ist wie vor fünf Jahren‹, sagte ich. ›Nur dieses Mal gehen wir beide.‹ Helen schüttelte den Kopf. ›Sei vorsichtig!‹ sagte sie. ›Sei um Gottes willen vorsichtig! Ich werde warten. Länger als eine Woche! So lange du willst. Riskiere nichts!‹