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Ich saß die halbe Stunde in der Nähe des Fensters und horchte auf die Geräusche der Straße. Nach einer Weile begann sich lautlos ein ungeheures Gefühl des Verlustes in mir auszubreiten. Es war nicht schmerzhaft; es war eher wie eine Dämmerung, die weiter und weiter kriecht und alles überschattet und leert, bis sie selbst den Horizont verhüllt. Eine Schattenwaage balancierte eine leere Vergangenheit gegen eine leere Zukunft, und in der Mitte stand Helen, den Schattenbalken der Waage auf ihren Schultern, und auch sie schon verloren. Es war mir, als sei ich in der Mitte meines Lebens; der nächste Schritt würde die Waage verschieben, sie würde langsam sinken, der Zukunft zu, sich mehr und mehr mit Grau füllen und nie wieder im Gleichgewicht sein.

Das Summen des heranfahrenden Wagens weckte mich. Ich sah Helen im Licht der Straßenlampe aussteigen und in der Haustür verschwinden. Ich ging durch die dunkle, tote Wohnung und hörte den Schlüssel in der Wohnungstür. Sie kam rasch herein. ›Wir können fahren‹, sagte sie. ›Mußt du zurück nach Münster?‹

›Ich habe einen Koffer dagelassen. Und ich bin unter dem Namen Schwarz registriert. Wohin sollte ich sonst gehen?‹

›Bezahle das Hotel und geh in ein anderes.‹

›Wo?‹

›Ja, wo?‹ Helen dachte nach. ›In Münster‹, sagte sie schließlich.

›Du hast recht. Wo sonst? Es ist am nächsten.‹

Ich hatte ein paar Sachen, die ich brauchen konnte, in einen Koffer gepackt. Wir beschlossen, daß ich nicht vor dem Hause in den Wagen steigen sollte, sondern ein Stück weiter, auf dem Hitlerplatz. Helen würde den Koffer mitbringen.

Ich gelangte ungesehen auf die Straße. Ein warmer Wind wehte mir entgegen. Das Laub der Bäume rauschte in der Dunkelheit. Helen holte mich auf dem Platz ein. ›Steig ein‹, flüsterte sie. ›Rasch!‹

Der Wagen war ein geschlossenes Kabriolett. Helens Gesicht war vom Widerschein des Instrumentenbrettes angestrahlt. Ihre Augen glänzten. ›Ich muß vorsichtig fahren‹, sagte sie. ›Ein Unfall und Polizei – das wäre alles, was noch fehlte!‹

Ich antwortete nicht. Man redete draußen nicht von solchen Dingen; es zog sie herbei. Helen lachte und fuhr die Wälle entlang. Sie war von einer fast fiebrigen Energie, als wäre das ganze ein Abenteuer; sie sprach mit sich selbst und dem Wagen, wenn sie anderen Gefährten auswich oder sie überholte. Wenn sie in der Nähe eines Verkehrspolizisten anhalten mußte, murmelte sie Beschwörungen; und wenn ein rotes Licht sie stoppte, trieb sie es zur Eile an: ›Los! Dreh dich! Werde grün!‹

Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Für mich war es unsere letzte Stunde. Ich ahnte nicht, wozu sie sich bereits entschlossen hatte.

Als wir die Stadt hinter uns hatten, wurde sie ruhiger.

›Wann willst du von Münster weiterfahren?‹ fragte sie.

Ich wußte es nicht, weil es kein Ziel gab. Ich wußte nur, daß ich nicht lange mehr bleiben konnte. Das Schicksal gibt einem nur eine gewisse Narrenfreiheit; dann warnt es und schlägt zu. Man spürt manchmal, wenn die Zeit da ist. Ich spürte, daß sie da war. ›Morgen‹, sagte ich.

Sie erwiderte eine Weile nichts. ›Und wie willst du es machen?‹ fragte sie dann.

Ich hatte darüber nachgedacht, während ich allein im dunklen Wohnzimmer saß. Zu versuchen, den Zug zu nehmen und einfach an der Grenze meinen Paß vorzuweisen, schien mir ein viel zu großes Risiko zu sein. Man konnte mich nach anderen Papieren fragen, nach einer Auswanderungserlaubnis, einer Reichsfluchtsteuerbestätigung, nach einem Vermerk im Paß – alles das besaß ich nicht. ›Denselben Weg, den ich gekommen bin‹, sagte ich. ›Durch Österreich. Über den Rhein in die Schweiz. Nachts.‹ Ich wandte mich Helen zu. ›Laß uns nicht darüber reden‹, sagte ich. ›Oder so wenig wie möglich.‹ Sie nickte. ›Ich habe Geld mitgebracht. Du wirst es brauchen. Wenn du heimlich über die Grenze gehst, kannst du es mitnehmen. Kann man es in der Schweiz wechseln?‹

›Ja. Aber brauchst du es nicht selbst?‹

›Ich kann es nicht mitnehmen. Ich werde an der Grenze kontrolliert. Man darf nur ein paar Mark bei sich haben.‹

Ich starrte sie an. Was redete sie da? Sie mußte sich versprochen haben. ›Wieviel ist es?‹ fragte ich.

Helen blickte mich rasch an. ›Nicht so wenig, wie du denkst. Ich habe es schon seit langer Zeit beiseite gelegt. Es ist in der Tasche dort.‹

Sie zeigte auf eine kleine Ledertasche. ›Es sind meistens Hundertmarkscheine. Ein Päckchen Zwanziger ist auch dabei, für Deutschland, damit du keinen großen Schein wechseln mußt. Zähle es nicht. Nimm es. Es ist ohnehin dein Geld.‹

›Hat die Partei mein Konto nicht beschlagnahmt.‹

›Ja, aber nicht früh genug. Ich konnte dieses hier vorher abheben. Jemand bei der Bank hat mir geholfen. Ich wollte es für dich haben und es dir einmal schicken; aber ich wußte nie, wo du warst.‹

›Ich habe dir nicht geschrieben, weil ich dachte, du würdest beobachtet. Ich wollte nicht, daß man dich auch in ein Lager sperrt.‹

›Nicht allein deshalb‹, sagte Helen ruhig.

›Nein, vielleicht nicht allein deshalb.‹

Wir fuhren durch ein Dorf mit weißen westfälischen Häusern und Strohdächern und schwarzem Gebälk. Junge Leute in Uniform stolzierten umher. Aus einer Kneipe dröhnte das Horst-Wessel-Lied.

›Es gibt Krieg‹, sagte Helen plötzlich. ›Bist du deshalb zurückgekommen?‹

›Woher weißt du, daß es Krieg gibt?‹

›Von Georg. Bist du deshalb gekommen?‹

Ich wußte nicht, weshalb sie das noch wissen wollte. War ich nicht schon wieder auf der Flucht?

›Ja‹, erwiderte ich. ›Ich bin auch deshalb gekommen, Helen.‹

›Du wolltest mich holen?‹

Ich starrte sie an. ›Mein Gott, Helen‹, sagte ich schließlich. ›Sprich nicht so darüber. Du hast keine Ahnung, wie es drüben ist. Es ist kein Abenteuer, und es wird undenkbar, wenn es Krieg gibt. Man wird alle Deutschen einsperren.‹

Wir mußten an einer Bahnüberführung halten. Vor dem Bahnwärterhäuschen blühte ein kleiner Garten mit Dahlien und Rosen. Der Wind klirrte an dem Gestänge der Schranken, als wären sie Harfen. Neben uns kamen andere Wagen heran – zuerst ein kleiner Opel mit vier dicken, ernsten Männern; ihm folgte ein offener grüner Zweisitzer mit einer alten Frau; dann schob sich, lautlos, eine schwarze Mercedes-Limousine wie ein Leichenwagen dicht neben uns. Ein Chauffeur in schwarzer SS-Uniform war am Steuer, und im Fond saßen zwei SS-Offiziere mit sehr bleichen Gesichtern. Der Wagen stand so dicht neben uns, daß ich hätte hinüberreichen können. Es dauerte ziemlich lange, bis der Zug kam. Helen saß schweigend neben mir. Der Mercedes mit dem vielen Chrom schob sich noch etwas weiter vor, so daß der Kühler fast die Schranken berührte. Er wirkte tatsächlich wie ein Trauerwagen, in dem zwei Tote transportiert wurden. Wir hatten soeben vom Krieg gesprochen, und hier, neben uns, schien sein Symbol sich herangeschoben zu haben: die schwarzen Uniformen, die Leichengesichter, die silbernen Totenköpfe, der schwarze Wagen und die Stille, die nicht mehr nach Rosen zu riechen schien, sondern schon nach bitterem Immergrün und Verwesung.

Der Zug lärmte heran wie das Leben selbst. Es war ein Schnellzug mit Schlafabteilen und einem hellerleuchteten Speisewagen mit weißgedeckten Tischen. Als die Schranken hochgingen, schoß der Mercedes den anderen Wagen voran in die Dunkelheit, wie ein dunkles Torpedo, das gespenstisch die Landschaft entfärbte, als wären die Bäume bereits schwarze Skelette.

›Ich gehe mit dir‹, flüsterte Helen.

›Was? Was sagst du da?‹

›Warum nicht?‹

Sie hielt den Wagen an. Die Stille überfiel uns wie ein lautloser Schlag, und dann hörten wir die Geräusche der Nacht. ›Warum nicht?‹ fragte Helen plötzlich sehr erregt. ›Willst du mich wieder zurücklassen?‹

Ihr Gesicht war so blaß im blauen Schein des Instrumentenbrettes wie das der Offiziere – als wäre auch sie bereits vom Tode, der in der Juninacht umherschlich, gezeichnet worden. Ich begriff in diesem Augenblick, daß das meine tiefste Angst gewesen war: daß der Krieg zwischen uns kommen würde, und daß wir uns nie wiederfinden würden, nachdem er ausgetobt hätte, weil man nicht, selbst mit größter Vermessenheit, auf soviel persönliches Glück hoffen konnte, nach einem Erdbeben, das alles zerstören würde.