›Laß uns still sein und warten‹, sagte Helen. ›Es wird irgendein Bekannter sein. Wenn ich nicht antworte, geht er weg.‹
Das Klingeln wiederholte sich. Dann klopfte jemand energisch an die Tür. ›Geh ins Schlafzimmer‹, flüsterte Helen.
›Wer ist es?‹
›Ich weiß es nicht. Geh ins Schlafzimmer. Ich werde ihn loswerden. Es ist besser, als wenn die Nachbarn aufmerksam werden.‹
Sie schob mich fort. Ich blickte rasch umher, ob irgend etwas von mir herumläge. Dann ging ich ins Schlafzimmer. Ich hörte Helen fragen: ›Wer ist da?‹ und eine Männerstimme antworten. Dann sagte Helen: ›Du bist es? Was ist denn los?‹ Ich zog die Tür zu. Die Wohnung hatte einen zweiten Ausgang durch die Küche, den ich aber nicht erreichen konnte; ich wäre gesehen worden. Ich hatte nur die Möglichkeit, mich in einem eingebauten großen Schrank zu verstecken, in dem Helens Kleider hingen. Es war eigentlich kein Schrank; es war eine große Mauernische, die durch eine Tür abgeschlossen wurde. Ich hatte genug Luft darin.
Ich hörte, daß der Mann mit Helen ins Wohnzimmer ging. Ich erkannte seine Stimme. Es war ihr Bruder Georg, der mich ins Konzentrationslager gebracht hatte.
Ich blickte auf Helens Frisiertisch. Das einzige, was ich als Waffe gebrauchen konnte, war ein Papiermesser mit einem Jadeknauf; ich sah nichts anderes. Ohne nachzudenken, steckte ich das Messer in meine Tasche und ging in den Schrank zurück. Es war selbstverständlich, daß ich mich wehren mußte, wenn er mich entdeckte, und es gab keinen anderen Weg, als ihn zu töten und dann zu versuchen zu fliehen.
›Das Telefon?‹ hörte ich Helen sagen. ›Ich habe nichts gehört. Ich habe geschlafen. Was ist denn los?‹
Es gibt einen Augenblick in großer Gefahr, wo alles in einem plötzlich so angespannt ist, als könne ein Funke es entzünden, und man würde aufflammen wie Zunder. Man ist dann fast hellsichtig, so rasch und so gleichzeitig denkt man. Ich spürte, bevor ich Georg antworten hörte, bereits, daß er nichts von mir wußte.
›Ich habe mehrere Male telefoniert‹, sagte er. ›Kein Mensch hat geantwortet. Auch das Mädchen nicht. Wir dachten, dir wäre was passiert. Weshalb hast du nicht aufgemacht?‹
›Ich habe geschlafen‹, sagte Helen ruhig. ›Deshalb hatte ich auch das Telefon abgestellt. Ich habe Kopfschmerzen, und sie sind noch nicht vorbei. Du hast mich aufgeweckt.‹
›Kopfschmerzen?‹
›Ja. Und sie sind jetzt schlimmer als vorher. Ich habe zwei Tabletten genommen. Ich muß sie ausschlafen.‹
›Schlaftabletten?‹
›Tabletten gegen Kopfschmerzen. Du mußt jetzt gehen, Georg. Ich muß sie ausschlafen.‹
›Tabletten sind Unsinn‹, erklärte Georg. ›Zieh dich an und geh mit mir spazieren. Es ist wunderbar draußen. Frische Luft ist besser als alle Tabletten.‹
›Ich habe sie bereits genommen und muß sie ausschlafen. Ich will nicht herumlaufen.‹
Sie redeten eine Weile weiter. Georg wollte Helen später abholen, aber sie weigerte sich. Er fragte, ob sie genug zu essen im Hause habe. Ja, sie habe zu essen. Wo das Mädchen sei? Das Mädchen habe seinen freien Nachmittag, es komme zurück, das Abendessen zu machen.
›Es ist also alles in Ordnung?‹ fragte Georg.
›Was soll denn nicht in Ordnung sein?‹
›Nun, ich meine nur! Man macht sich oft unnütze Gedanken. Schließlich -‹
›Was schließlich?‹ fragte Helen scharf.
›Nun, damals -‹
›Was damals?‹
›Du hast recht‹, sagte Georg. ›Wozu darüber reden? Wenn alles in Ordnung ist, ist alles in Ordnung. Ich bin schließlich dein Bruder, da fragt man mal -‹
›Ja.‹
›Was?‹
›Du bist mein Bruder.‹
›Ich wollte, du verständest das besser. Ich meine es gut mit dir!‹
›Ja, ja‹, sagte Helen ungeduldig. ›Du hast mir das schon oft erklärt.‹
›Was hast du nur heute? Du bist doch sonst anders.‹
›Ja?‹
›Vernünftiger, meine ich. Wenn der alte Kram jetzt wieder losgeht -‹
›Nichts geht los. Ich habe Kopfschmerzen, das ist alles! Und ich hasse es, kontrolliert zu werden.‹
›Niemand kontrolliert dich! Ich bin nur besorgt um dich.‹
›Sorge dich nicht. Mir fehlt nichts.‹
›Das sagst du immer. Damals -‹
›Wir wollen nicht von damals sprechen‹, sagte Helen schroff.
›Natürlich nicht! Ich schon bestimmt nicht. Bist du beim Arzt gewesen?‹
›Ja‹, erwiderte Helen nach einem Augenblick.
›Was sagt er?‹
›Nichts.‹
›Er muß doch etwas sagen.‹
›Er sagt, ich solle mich ausruhen‹, sagte Helen ärgerlich. ›Ich solle schlafen, wenn ich müde sei und Kopfschmerzen habe, und mich nicht streiten und auch nicht um Erlaubnis fragen, ob es mit meinen Pflichten als Volksgenossin und Bürgerin des glorreichen Tausendjährigen Reiches vereinbar wäre.‹
›Hat er das gesagt?‹
›Nein, er hat das nicht gesagt‹, erwiderte Helen laut und schnell. ›Ich habe das hinzugefügt! Er hat mir nur gesagt, mich nicht unnötig aufzuregen! Er hat also kein Verbrechen begangen und braucht in kein Konzentrationslager gebracht zu werden. Er ist ein aufrechter Anhänger der Regierung. Ist das genug?‹
Georg murmelte etwas. Ich nahm an, daß er sich zum Gehen anschickte, und da ich gelernt hatte, daß das ein riskanter Augenblick ist, weil Unvorhergesehenes passieren kann, zog ich die Schranktür bis auf einen kleinen Spalt hinter mir zu. Gleich darauf hörte ich ihn in das Schlafzimmer kommen. Ich sah seinen Schatten durch den schmalen Spalt Licht gleiten und hörte, wie er ins Badezimmer ging. Mir schien, als käme Helen auch herein, aber ich sah sie nicht. Ich schloß die Schranktür ganz und stand nun im Dunkeln, das Papiermesser fest an mich gedrückt, zwischen den Kleidern Helens.
Ich wußte, daß Georg mich nicht entdeckt hatte, und ich wußte, daß er wahrscheinlich aus dem Badezimmer ins Wohnzimmer zurückgehen und sich verabschieden würde; trotzdem spürte ich die Enge im Halse, während zur selben Zeit der Schweiß von den Achselhöhlen am Körper heruntersickerte. Es ist anders mit der Angst vor dem Unbekannten als mit der vor etwas, was man kennt. Wenn es unbekannt ist, mag es gefährlich erscheinen, aber es ist unbestimmt, und man kann die Angst mit Disziplin oder sogar mit Tricks kontrollieren. Wenn man aber weiß, was einem bevorsteht, ist nicht viel mit Disziplin oder psychologischen Salto mortale anzufangen. Die erste Angst hatte ich gekannt, bevor ich ins Konzentrationslager gebracht worden war; die zweite spürte ich jetzt, nachdem ich wußte, was mich im Lager erwartete, wenn ich wieder eingeliefert würde.
Es war sonderbar, daß ich mir all die Zeit, seit ich die Grenze überschritten hatte, nie Rechenschaft darüber gegeben hatte und auch nicht hatte geben wollen. Es hätte mich aufgehalten, und etwas in mir wollte nicht aufgehalten werden. Dazu kam, daß unser Gedächtnis fälscht, um uns überleben zu lassen. Es versucht, das Unerträgliche zu mildern durch die Patina des Vergessens. Sie kennen das?«
»Ja, ich kenne es«, erwiderte ich.»Aber es ist kein Vergessen; es ist eine Art Halbschlaf. Ein Stoß genügt, und alles ist wieder hellwach.«
Schwarz nickte.»Ich stand in der dunklen, parfümierten Enge des Mauerverlieses, zwischen Kleidern, eingeengt von ihnen wie von den weichen Flügeln riesiger Fledermäuse, regungslos, und atmete flach und oberflächlich, um zu vermeiden, daß die Seide raschelte oder daß ich husten oder niesen müßte. Ich begriff zum ersten Male voll, was ich getan hatte. Die Angst stieg aus dem Boden wie ein schwarzes Gas, und ich hatte Furcht, zu ersticken. Mir selber war im Lager nicht das Schlimmste passiert; ich war in der üblichen Weise schlecht behandelt worden, aber man hatte mich wieder entlassen, und vielleicht hatte das dazu beigetragen, meine Erinnerung zu trüben. Jetzt aber stand plötzlich das wieder vor mir, was ich gesehen hatte, das, was anderen passiert war und wovon ich gehört und Zeichen gesehen hatte – und ich begriff den Irrsinn und die Verwirrtheit nicht, die mich dazu gebracht hatten, so gesegnete Länder zu verlassen, in denen ich für die Tatsache meiner Existenz nur mit Gefängnis und Ausweisung bestraft wurde. Sie schienen mir jetzt Häfen der Humanität zu sein.