›Auch nicht zu einem Menschen?‹
›Auch nicht zu einem Menschen‹, sagte ich. ›Selbst die Erde führt ein Kugel-Dasein, ist ein Emigrant der Sonne. Man kann nie zurück. Oder man zerkracht.‹
›Gott sei Dank.‹ Helen hielt mir ihr Glas hin. ›Wolltest du nie zurück?‹
›Immer‹, erwiderte ich. ›Ich folge nie meinen Theorien. Das gibt ihnen doppelten Reiz.‹
Helen lachte. ›Das alles ist nicht wahr!‹
›Natürlich nicht. Es ist ein bißchen Spinngewebe, um anderes zu verdecken.‹
›Was?‹
›Etwas ohne Worte.‹
›Etwas, das es nur nachts gibt?‹
Ich antwortete nicht. Ich saß ruhig im Bett. Der Wind der Zeit hatte aufgehört zu wehen. Er sauste mir nicht mehr in den Ohren. Es war, als ob ich aus einem Flugzeug in einen Ballon gekommen wäre. Ich schwebte und flog noch; aber der Lärm der Motoren war verstummt.
›Wie heißt du jetzt?‹ fragte Helen.
›Josef Schwarz.‹ Sie grübelte einen Augenblick.
›Heiße ich dann jetzt auch Schwarz?‹
Ich mußte lächeln. ›Nein, Helen. Es ist nur irgendein Name. Der Mann, von dem ich ihn habe, hatte ihn auch schon geerbt. Ein ferner, toter Josef Schwarz lebt wie der ewige Jude in mir bereits in der dritten Generation weiter. Ein fremder, toter Geistesahne.‹
›Du kennst ihn nicht?‹
›Nein.‹
›Fühlst du dich anders, seit du einen anderen Namen hast?‹
›Ja‹, sagte ich. ›Weil ein Stück Papier dazugehört. Ein Paß.‹
›Auch wenn er falsch ist?‹
Ich lachte. Es war eine Frage aus einer anderen Welt. Wie falsch und wie echt ein Paß war, lag an dem Polizisten, der ihn kontrollierte. ›Man könnte darüber eine philosophische Parabel erfinden‹, sagte ich. ›Sie müßte damit beginnen, zu untersuchen, was ein Name ist. Ein Zufall oder eine Identifikation.‹
›Ein Name ist ein Name‹, erwiderte Helen plötzlich störrisch. ›Ich habe meinen verteidigt. Es war deiner. Jetzt kommst du und hast irgendwo einen anderen gefunden.‹
›Er ist mir geschenkt worden‹, sagte ich. ›Es war das kostbarste Geschenk der Welt für mich. Ich trage ihn mit Freude. Er bedeutet Güte für mich. Menschlichkeit. Wenn ich verzweifeln sollte, irgendwann, wird er mich daran erinnern, daß Güte nicht tot ist. Woran erinnert dich deiner? An ein Geschlecht preußischer Krieger und Jäger mit dem Weltbild von Füchsen, Wölfen und Pfauen.‹
›Ich habe nicht vom Namen meiner Familie gesprochen‹, erwiderte Helen und ließ einen Pantoffel auf ihren Zehen balancieren. ›Ich trage auch noch deinen. Den früheren, Herr Schwarz.‹
Ich öffnete die zweite Flasche Wein. ›Man hat mir erzählt, daß es in Indonesien Sitte sei, ab und zu die Namen zu wechseln. Wenn jemand seiner Persönlichkeit müde wird, wechselt er sie, ergreift einen neuen Namen und beginnt ein neues Dasein. Eine gute Idee!‹
›Hast du ein neues Dasein angefangen?‹
›Heute‹, sagte ich.
Sie ließ den Pantoffel auf den Boden gleiten. ›Nimmt man nichts in ein neues Dasein mit?‹
›Ein Echo‹, sagte ich.
›Keine Erinnerung?‹
›Das ist ein Echo. Erinnerung, die nicht mehr schmerzt und beschämt.‹
›Als sähe man einen Film?‹ fragte Helen.
Ich blickte sie an. Sie sah aus, als würde sie mir im nächsten Augenblick ihr Glas an den Kopf werfen. Ich nahm es ihr aus der Hand und goß den Wein aus der zweiten Flasche ein. ›Was ist das für einer?‹
›Schloß Reinhartshausener. Ein großer Rheinwein. Voll ausgereift. Nicht unterbrochen in der Gärung. Gleichgeblieben in seinem Charakter. Nicht zu einem Pfälzer umgedeutet.‹
›Kein Emigrant also?‹ sagte ich.
›Kein Chamäleon, das seine Farbe wechselt. Nicht jemand, der sich seiner Verantwortung entzieht.‹
›Mein Gott, Helen!‹ sagte ich. ›Höre ich die Flügel bürgerlicher Wohlanständigkeit rauschen? Wolltest du nicht ihrer Stagnation entgehen?‹
›Du machst mich Dinge sagen, die ich nicht meine‹, erwiderte sie zornig. ›Wovon reden wir hier? Und wozu? In der ersten Nacht! Warum küssen wir uns nicht oder hassen uns?‹
›Wir küssen und hassen uns.‹
›Das sind Worte! Woher hast du all die vielen Worte? Ist es richtig, daß wir hier so sitzen und so reden?‹
›Ich weiß nicht, was richtig ist.‹
›Woher hast du dann all die Worte? Hast du drüben so viel geredet und so viel Gesellschaft gehabt?‹
›Nein‹, sagte ich. ›So wenig. Deshalb kommen die Worte jetzt herausgestürzt wie Äpfel aus einem Korb. Ich bin ebenso überrascht wie du.‹
›Ist das wahr?‹
›Ja, Helen‹, sagte ich. ›Es ist wahr. Siehst du denn nicht, was es heißt?‹
›Kannst du es nicht einfacher sagen?‹
Ich schüttelte den Kopf.
›Warum nicht?‹
›Weil ich Angst vor Feststellungen habe. Und Angst vor Worten, die etwas feststellen. Du magst es nicht glauben, aber es ist so. Dazu kommt noch die Angst vor der anonymen Angst, die irgendwo draußen durch die Straßen schleicht, an die ich nicht denken und von der ich nicht reden will, weil ein dummer Aberglaube in mir annimmt, daß die Gefahr nicht existiere, solange ich sie nicht zur Kenntnis nehme. Deshalb haben wir dieses abwegige Gespräch. Die Zeit scheint dadurch aufgehoben zu sein, so wie in einem Film, der gerissen ist. Plötzlich steht alles still, so daß nichts passieren kann.‹
›Das ist mir zu kompliziert.‹
›Mir auch. Ist es nicht genug, daß ich hier bin, bei dir, daß du noch lebst und daß ich noch nicht wieder gefangen bin?‹
›Bist du deshalb gekommen?‹
Ich antwortete nicht. Sie saß da wie eine zierliche Amazone, nackt, mit einem Glas Wein in der Hand, fordernd, nicht ausweichend, listig und kühn, und ich erkannte, daß ich früher nichts von ihr gewußt hatte. Ich begriff nicht, wie sie es mit mir ausgehalten hatte, und ich kam mir vor wie jemand, der geglaubt hat, ein hübsches Lamm zu besitzen und für es zu sorgen, wie man für ein hübsches Lamm sorgt, und der auf einmal entdeckt, daß er einen jungen Puma unter den Händen hat, der keinen Sinn für blaue Halsbänder und weiche Bürsten hat, sondern durchaus fähig ist, die streichelnde Hand zu zerbeißen.
Ich befand mich auf gefährlichem Grund. Wie Sie sich denken können, war geschehen, was vorauszusehen war in der ersten Nacht; ich hatte versagt in der primitivsten Weise. Ich hatte es vorausgeahnt, und vielleicht war es auch so gekommen, weil ich es erwartet hatte. Tatsache war, daß ich unfähig gewesen war, aber, weil ich es erwartete, zum Glück nicht die verzweifelten Versuche angestellt hatte, die sonst in solchen Fällen gemacht werden. Man kann noch so überlegen sein wollen und erklären, daß nur Stallburschen dagegen immun seien, und Frauen mögen vorgeben, daß sie es verstehen und den Verzweifelten mit fataler Mütterlichkeit trösten – es bleibt trotzdem eine verdammte Sache, bei der jedes Pathos schauderhaft lächerlich wird.
Da ich keine der üblichen Erklärungen abgegeben hatte, war Helen gestört und griff mich an. Sie konnte nicht begreifen, weshalb ich sie nicht genommen hatte, und fühlte sich beleidigt. Ich hätte ihr einfach die Wahrheit sagen können, aber ich war nicht ruhig genug dazu. Es gibt da auch zwei Wahrheiten – eine, bei der man sich preisgibt, und eine zweite strategische, bei der man nichts preisgibt. Ich hatte in fünf Jahren gelernt, daß, wenn man sich preisgibt, man sich nicht wundern soll, daß auf einen geschossen wird.
›Menschen in meiner Lage sind abergläubisch geworden‹, sagte ich zu Helen. ›Sie glauben, wenn sie etwas direkt sagen oder tun, würde das Gegenteil geschehen. Deshalb sind sie vorsichtig. Auch mit Worten.‹
›Was für ein Unsinn!‹
Ich lachte. ›Den Glauben an den Sinn habe ich längst aufgegeben. Ich wäre sonst bitter wie eine wilde Zitrone geworden‹
›Ich hoffe, dein Aberglaube geht nicht zu weit.‹
›Nur so weit, Helen‹, sagte ich sehr ruhig, ›daß ich glaube, wenn ich dir sage, daß ich dich über alle Maßen liebe, ich erwarten würde, die Gestapo eine Minute später gegen die Tür schlagen zu hören.‹
Sie hielt eine Sekunde still wie ein Tier, das ein unge-wohntes Geräusch gehört hat. Dann wendete sie mir lang-sam ihr Gesicht zu. Es war erstaunlich, wie es sich ver-ändert hatte. ›Ist das wirklich der Grund?‹ fragte sie leise.