Ich sah mich in der Kammer um. Das Fenster war vergittert; die Tür kräftig und von außen verschlossen. Ich konnte nicht entfliehen. Außerdem hörte ich Leute nebenan. Ich saß und wartete. Es war trostlos. Endlich wurde der Himmel grau und dann langsam blau und hell. Ich hörte wieder Stimmen und roch Kaffee. Die Tür wurde aufgeschlossen. Ich tat, als ob ich erwache und gähnte. Ein Zollbeamter trat ein; er war rot und dick und sah gemütlicher aus als der Jäger. ›Endlich!‹ sagte ich. ›Es ist verdammt unbequem, hier zu schlafen.‹
›Was wollten Sie an der Grenze?‹ fragte er und begann meinen Rucksack zu öffnen. ›Ausreißen? Schmuggeln?‹
›Gebrauchte Hosen schmuggelt man nicht‹, erwiderte ich. ›Gebrauchte Hemden auch nicht.‹
›Schön. Was wollten Sie dann nachts da?‹ Er legte meinen Rucksack beiseite. Ich dachte plötzlich an das Geld, das ich bei mir hatte. Wenn er es fand, war ich verloren. Hoffentlich untersuchte er mich nicht weiter.
›Mir den Rhein bei Nacht ansehen‹, sagte ich lächelnd. ›Ich bin Tourist. Und Romantiker.‹
›Woher kommen Sie?‹
Ich nannte den Namen meiner Pension und den Ort, aus dem ich kam. ›Ich wollte heute morgen dorthin zurück‹, sagte ich. ›Meine Koffer sind noch da. Ich habe dort auch meine Miete für eine Woche vorausbezahlt. Das sieht nicht nach Schmuggel aus, wie?‹
›Soso‹, erwiderte er. ›Das werden wir ja alles feststellen. Ich hole Sie in einer Stunde ab. Wir gehen zusammen hin. Mal sehen, was Sie in den Koffern haben.‹
Es war ein langer Weg. Auch der Dicke war wachsam wie ein Schäferhund. Er schob sein Fahrrad neben sich her und rauchte. Endlich kamen wir an.
›Da ist er ja!‹ rief jemand aus dem Fenster der Pension. Gleich darauf stand die Wirtin vor mir. Sie war puterrot vor Aufregung. ›Mein Gott, wir dachten schon, es wäre Ihnen etwas zugestoßen! Wo waren Sie denn die Nacht über?‹
Die Frau hatte am Morgen mein unaufgedecktes Bett entdeckt und geglaubt, ich sei ermordet worden. Angeblich triebe sich jemand in der Gegend herum, der schon ein paar Raubüberfälle auf dem Gewissen hatte. Sie habe deshalb die Polizei geholt. Der Polizist kam hinter ihr aus dem Hause. Er glich dem Jäger. ›Ich habe mich verirrt‹, sagte ich, so ruhig ich konnte. ›Und dann war es eine so schöne Nacht! Ich habe zum erstenmal seit meiner Kindheit wieder im Freien geschlafen. Es war herrlich! Ich bedaure, Ihnen Sorge gemacht zu haben. Leider bin ich aus Versehen zu nahe an die Grenze gekommen. Bitte erklären Sie dem Zollbeamten doch, daß ich hier wohne.‹
Die Wirtin tat es. Der Zollbeamte erklärte sich bereits für befriedigt; aber der Polizist hatte aufgemerkt. ›Woher kommen Sie?‹ fragte er. ›Von der Grenze? Haben Sie Papiere? Wer sind Sie?‹
Mir fehlte einen Augenblick lang der Atem. Das Geld von Helen steckte in meiner Brusttasche; wenn er es entdeckte, geriet ich in Verdacht, daß ich es in die Schweiz schmuggeln wollte, und wäre sofort festgenommen worden. Was dann noch kam, war nicht auszudenken.
Ich nannte meinen Namen, zeigte aber meinen Paß noch nicht vor; Deutsche und Österreicher brauchen in ihrem eigenen Lande keinen. ›Wer beweist uns, daß Sie nicht gerade der Verbrecher sind, den wir suchen?‹ erwiderte der Polizist, der dem Jäger glich.
Ich lachte. ›Da ist nichts zu lachen‹, erklärte er ärgerlich und begann zusammen mit dem Zöllner, meine Koffer zu durchsuchen.
Ich tat, als wäre es ein Witz; aber ich wußte nicht genau, wie ich das Geld erklären sollte, wenn eine Körperuntersuchung folgen würde. Ich beschloß zu sagen, daß ich mit der Absicht spiele, mich in der Nähe anzukaufen.
Zu meiner Überraschung fand der Beamte in einem Seitenfach des zweiten Koffers einen Brief, den ich nicht kannte. Es war der Koffer, den ich von Osnabrück mitgenommen und den Helen mit meinen früheren Sachen gepackt und heruntergebracht hatte. Der Polizist öffnete den Brief und begann zu lesen. Ich betrachtete ihn gespannt; ich wußte nicht, was es war, und hoffte nur, daß es irgendein altes, unbedeutendes Schreiben sei.
Der Beamte grunzte und sah auf. ›Ist Ihr Name Josef Schwarz?‹
Ich nickte. ›Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?‹ fragte er.
›Ich habe es Ihnen ja vorhin gesagt‹, erwiderte ich und versuchte, von rückwärts den gedruckten Briefkopf zu lesen.
›Das ist wahr, das hat er gesagt‹, bestätigte der Zollbeamte.
›Der Brief betrifft also Sie?‹ fragte der Polizist.
Ich streckte die Hand aus. Er zögerte einen Moment, dann gab er ihn mir. Ich sah jetzt den gedruckten Kopf. Es war die Adresse der nationalsozialistischen Partei in Osnabrück. Langsam las ich, daß die Amtsstelle Osnabrück bat, dem Parteigenossen Josef Schwarz, der in Erfüllung einer wichtigen geheimen Aufgabe unterwegs sei, jede Unterstützung, die möglich sei, zu gewähren. Unterzeichnet war der Brief: Georg Jürgens, Obersturmbannführer, in Helens Handschrift.
Ich behielt den Brief in der Hand. ›Stimmt das?‹ fragte der Beamte mit bedeutend mehr Respekt als vorher.
Ich holte jetzt meinen Paß hervor, hielt ihn hin, zeigte auf den Namen und steckte ihn wieder ein. ›Geheime Staatssache‹, erwiderte ich.
›Deshalb?‹
›Deshalb‹, sagte ich ernst und steckte auch den Brief ein. ›Ich hoffe, das genügt Ihnen?‹
›Selbstverständlich.‹ Der Beamte kniff ein blaßblaues Auge zu. ›Verstehe. Beobachtung der Grenze.‹ Ich hob die Hand. ›Kein Wort darüber, bitte. Es ist geheim. Deshalb konnte ich auch nichts sagen. Sie haben es trotzdem herausgekriegt. Sind Sie Parteigenosse?‹
›Klar‹, erklärte der Polizist. Ich sah jetzt erst, daß er rothaarig war, und klopfte ihm auf die schwitzende Schulter. ›Tüchtig! Hier ist etwas für Sie beide auf ein Glas Wein nach all der Mühe.‹«
Schwarz lächelte mir melancholisch zu.»Es ist manchmal erstaunlich, wie leicht man Leute, deren Beruf Mißtrauen sein sollte, hereinlegen kann. Kennen Sie das auch?«
»Nicht ohne Papiere«, sagte ich.»Aber mein Kompliment Ihrer Frau! Sie hatte vorausgesehen, daß Sie den Brief brauchen könnten.«
»Sie muß geglaubt haben, daß ich ihn nicht genommen hätte, wenn sie ihn mir angeboten hätte. Aus Gründen der Moral vielleicht oder auch, weil ich ihn für gefährlich gehalten hätte. Hauptsächlich wohl deshalb. Dabei hätte ich ihn genommen. Er rettete mich.«
Ich hatte Schwarz mit steigendem Interesse zugehört. Jetzt blickte ich mich um. Der englische und der deutsche Diplomat waren auf der Tanzfläche. Sie tanzten Foxtrott, und der Engländer war der bessere Tänzer. Der Deutsche brauchte mehr Raum; er tanzte mit einer verbissenen Aggressivität und schob seine Tänzerin vor sich her wie eine Kanone. Im Halbdunkel hatte ich einen Augenblick die Vorstellung, ein Schachbrett mit Figuren sei lebendig geworden. Die beiden Könige, der deutsche und der englische, kamen sich manchmal bedrohlich nahe; aber der Engländer wich jedesmal aus.
»Was taten Sie dann?«fragte ich Schwarz.
»Ich ging auf mein Zimmer«, erwiderte er.»Ich war erschöpft und wollte ruhig werden und überlegen. Helen hatte mich auf eine so unvorhergesehene Weise gerettet, daß es mir wie der Akt eines Deus ex machina erschien, – ein Theatertrick, der eine heillose Konfusion überraschend zu einem guten Ende bringt. Aber ich mußte fort, bevor der Polizist viel reden oder nachdenken konnte. Deshalb beschloß ich, meinem Glück zu trauen, solange es hielt. Ich erkundigte mich nach dem nächsten Schnellzug in die Schweiz. Er war in einer Stunde fällig. Der Wirtin erklärte ich, daß ich auf einen Tag nach Zürich müsse und nur einen Koffer mitnehmen wolle; ich werde in wenigen Tagen zurück sein, sie möge den andern aufheben. Dann ging ich zum Bahnhof. Kennen Sie das, dieses plötzliche Verzichten auf die jahrelange Vorsicht?«
»Ja«, sagte ich.»Aber man irrt sich oft dabei. Man glaubt, das Schicksal sei einem eine Revanche schuldig. Es ist einem keine schuldig.«
»Das ist selbstverständlich«, erwiderte Schwarz.
»Aber manchmal traut man trotzdem einer gewohnten Technik nicht mehr und denkt, man müsse eine neue versuchen. Helen hatte gewollt, ich solle zusammen mit ihr über die Grenze fahren. Ich hatte es nicht getan und wäre verloren gewesen, hätte ihre Klugheit mich nicht gerettet – so glaubte ich jetzt, daß ich ihr diesmal folgen und tun müsse, was sie gewollt hatte.«