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›Gesegnet sei alles! Laß uns darauf trinken. Und gesegnet seist du, weil du endlich einmal wagst, etwas zu sagen, worüber du sonst errötet wärest.‹

›Ich erröte noch‹, erwiderte ich. ›Aber innerlich und ohne Beschämung. Gib mir etwas Zeit. Ich muß mich noch gewöhnen. Selbst die Raupe muß das, wenn sie nach einem Dasein im Dunkel ans Licht kommt und entdeckt, daß sie Flügel hat. Wie glücklich die Menschen hier sind! Und wie der wilde Jasmin riecht! Die Kellnerin sagt, es gäbe hier ganze Wälder voll davon.‹

Wir tranken unsern Wein aus und gingen zwischen den schmalen Gassen die alte Straße hoch am Berg entlang, die nach Ascona führt. Der Friedhof von Ronco hing voll mit Blumen und Kreuzen über den Weg. Der Süden ist ein Verführer, er wischt die Gedanken weg und macht die Phantasie zur Königin. Sie braucht nur wenig Hilfe zwischen Palmen und Oleander; weniger als zwischen Kommißstiefeln und Kasernen. Wie eine große, rauschende Fahne schwankte der Himmel über uns mit immer mehr Sternen, als wäre er die Flagge eines sich jede Minute erweiternden Amerikas des Universums. Die Piazza von Ascona glitzerte mit ihren Cafés weit in den See hinaus, und der Wind wehte kühl aus den Tälern.

Wir kamen zu dem Hause, das wir gemietet hatten. Es lag am See und hatte zwei Schlafzimmer; das schien der Moral hier zu genügen. ›Wie lange haben wir noch zu leben?‹ fragte Helen.

›Wenn wir vorsichtig sind, für ein Jahr und vielleicht noch für ein halbes Jahr länger.‹

›Und wenn wir unvorsichtig leben?‹

›Für diesen Sommer.‹

›Laß uns unvorsichtig leben‹, sagte sie.

›Ein Sommer ist kurz.‹

›Ja‹, sagte sie plötzlich heftig. ›Ein Sommer ist kurz, und ein Leben ist kurz, aber was macht es kurz? Daß wir wissen, daß es kurz ist. Wissen die Katzen draußen, daß das Leben kurz ist? Weiß es der Vogel? Der Schmetterling? Sie halten es für ewig. Niemand hat es ihnen gesagt! Warum hat man es uns gesagt?‹

›Darauf gibt es viele Antworten.‹

›Gib eine!‹

Wir standen im dunklen Zimmer. Die Türen und Fenster waren offen. ›Eine ist, daß das Leben unerträglich wäre, wenn es ewig wäre.‹

›Du meinst, es wäre langweilig? Wie das Gottes? Das ist nicht wahr. Gib eine andere!‹

›Daß es mehr Unglück als Glück gibt. Und daß es barmherzig ist, es nicht ewig dauern zu lassen.‹

Helen schwieg einen Augenblick. ›Alles das ist nicht wahr‹, sagte sie dann. ›Und wir sagen es nur, weil wir wissen, daß wir nicht bleiben und nichts halten können, und es gibt keine Barmherzigkeit dabei. Wir erfinden sie nur. Wir erfinden sie, um zu hoffen.‹

›Glauben wir nicht trotzdem daran?‹ fragte ich.

›Ich glaube nicht daran!‹

›An keine Hoffnung?‹

›An nichts. Jeder kommt dran.‹ Sie warf heftig ihre Kleider aufs Bett. ›Jeder. Auch der Häftling mit der Hoffnung, selbst wenn er einmal entwischt. Er kommt eben das nächstemal dran!‹

›Das ist es ja, worauf er hofft. Nur auf das.‹

›Ja. Das ist alles, was wir können! So wie die Welt mit dem Krieg. Sie hofft auf das nächstemal. Aber niemand kann ihn verhindern.‹

›Den Krieg schon‹, erwiderte ich. ›Den Tod nicht.‹

›Lach nicht!‹ rief sie.

Ich ging zu ihr. Sie wich zurück, durch die Tür ins Freie.

›Was ist mit dir, Helen?‹ fragte ich überrascht. Es war heller draußen als im Zimmer, und ich sah, daß ihr Gesicht von Tränen überströmt war. Sie antwortete nicht, und ich fragte nicht weiter.

›Ich bin betrunken‹, sagte sie schließlich. ›Siehst du das nicht?‹

›Nein.‹

›Ich habe zuviel Wein getrunken.‹

›Zu wenig. Hier ist noch eine Flasche.‹

Ich stellte den Fiasco Nostrano auf einen Steintisch, der auf der Wiese hinter dem Haus stand, und ging in das Zimmer, um Gläser zu holen. Als ich zurückkam, sah ich Helen über die Wiese zum See hinuntergehen. Ich folgte ihr nicht sofort. Ich goß die Gläser voll; der Wein sah schwarz aus im bleichen Widerschein von Himmel und See. Dann ging ich langsam über die Wiese zu den Palmen und den Oleandern hinunter, die am Ufer standen. Ich hatte auf einmal Sorge um Helen und atmete auf, als ich sie sah. Sie stand vor dem Wasser in einer merkwürdig passiven, gebeugten Haltung, als warte sie auf etwas, einen Ruf oder etwas, das vor ihr auftauchen würde. Ich blieb still; nicht um sie zu beobachten, sondern um sie nicht zu erschrecken. Nach einer Weile seufzte sie und richtete sich auf. Dann schritt sie ins Wasser.

Als ich sah, daß sie schwamm, ging ich zurück und holte ein Frottiertuch und ihren Bademantel. Dann hockte ich mich auf einen Granitblock und wartete. Ich sah ihren Kopf mit dem hochgebundenen Haar sehr klein in der Weite des Wassers und dachte daran, daß sie alles war, was ich hatte, und hätte gern gerufen, sie möge zurückkehren. Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, daß sie etwas mir Unbekanntes mit sich auszukämpfen hatte und daß sie es in diesem Moment tat; – das Wasser war Schicksal und Frage und Antwort für sie, und sie mußte es allein bestehen, wie jeder es muß – das Wenige, was ein anderer dazu tun kann, ist, da zu sein, um vielleicht etwas Wärme geben zu können.

Helen schwamm in einem Bogen hinaus und wendete dann und kam in direkter Linie zurück, gerade auf mich zu. Es war beglückend, sie näher kommen zu sehen, den dunklen Kopf vor dem violetten See, bis sie sich schmal und hell aus dem Wasser hob und rasch auf mich zukam.

›Es ist kalt. Und unheimlich. Das Stubenmädchen erzählt, auf dem Grunde unter den Inseln lebe ein riesiger Krake.‹

›Die größten Fische in diesem See sind alte Hechte‹, sagte ich und hüllte sie in das Frottiertuch. ›Kraken gibt es hier nicht. Die gibt es nur in Deutschland, seit 1933. Aber jedes Wasser ist nachts unheimlich.‹

›Wenn wir denken können, daß es Kraken gibt, muß es auch welche geben‹, erklärte Helen. ›Wir können nichts denken, was es nicht gibt.‹

›Das wäre ein einfacher Gottesbeweis.‹

›Glaubst du es nicht?‹

›Ich glaube alles in dieser Nacht.‹

Sie lehnte sich an mich. Ich ließ das nasse Tuch fallen und gab ihr ihren Bademantel. ›Glaubst du, daß wir mehrere Male leben?‹ fragte sie.

›Ja‹, erwiderte ich ohne Zögern.

Sie seufzte. ›Gott sei Dank! Ich könnte jetzt nicht auch noch darüber streiten. Ich bin müde und kalt. Man vergißt, daß dies ein Gebirgssee ist.‹

Ich hatte außer dem Wein noch eine Flasche Grappa vom Albergo délia Posta mitgenommen, einen klaren Schnaps aus Traubentrebern, ähnlich dem Marc in Frankreich. Er ist würzig und stark und gut für solche Augenblicke. Ich holte ihn und gab ihr ein großes Glas voll. Sie trank es langsam aus. ›Ich gehe nicht gern weg von hier‹, sagte sie.

›Du wirst es morgen vergessen haben‹, erwiderte ich. ›Wir fahren nach Paris. Du bist noch nie dagewesen. Es ist die schönste Stadt der Welt.‹

›Die schönste Stadt der Welt ist die, in der man glücklich ist. Ist das ein Gemeinplatz?‹

Ich lachte. ›Zum Teufel mit der Vorsicht im Stil!‹ sagte ich. ›Wir können gar nicht genug Gemeinplätze haben! Besonders nicht solche. Willst du noch einen Grappa?‹

Sie nickte, und ich holte auch mir ein Glas. Wir saßen an dem Steintisch auf der Wiese, bis Helen schläfrig wurde. Ich brachte sie zu Bett. Sie schlief neben mir ein. Ich sah durch die offene Tür auf die Wiese, die langsam blau und dann silbrig wurde. Helen erwachte nach einer Stunde und ging in die Küche, um Wasser zu holen. Sie kam mit einem Brief zurück, der angekommen war, während wir in Ronco waren. Er mußte in ihrem Zimmer gelegen haben. ›Von Martens‹, sagte sie, las ihn und legte ihn weg. ›Weiß er, daß du hier bist?‹ fragte ich. Sie nickte. ›Er hat meiner Familie erklärt, daß ich auf seinen Rat wieder in die Schweiz zur Untersuchung gefahren sei und daß ich ein paar Wochen bleiben müsse.‹

›Warst du bei ihm in Behandlung?‹

›Ab und zu.‹

›Für was?‹

›Nichts Besonderes‹, sagte sie und legte den Brief in ihre Handtasche. Sie gab ihn mir nicht zu lesen.

›Woher hast du eigentlich die Narbe?‹ fragte ich.