Herrick erklärte knapp:»Die Sitzung des Untersuchungsausschusses der Admiralität ist hiermit eröffnet. Wer schriftlich vom Gegenstand der Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wurde, wird hier Fragen zu beantworten haben. Es werden zwar auch schriftliche Aussagen verwandt, doch der Ausschuß ist vorwiegend zusammengetreten, um persönlich das Verhalten von Kapitän Valentine Keen von Seiner Britannischen Majestät Linienschiff Argonaute zu den erwähnten Zeiten zu klären.»
Nun schaute er zum ersten Mal Keen an.»Bitte nehmen Sie Platz. Sie stehen hier nicht vor Gericht.»
Bolitho schaute zu Kapitän Jerram hinüber. Dessen Miene sagte eindeutig: noch nicht.
Jerram wandte sich den Zuschauern zu, einige Akten lose in den knochigen Fingern. Übertrieben laut beschrieb er das Auslaufen des Geschwaders von Spithead und sein späteres Zusammentreffen mit dem Sträflingsschiff Orontes.
«Angeblich wurde mehrmals der Versuch unternommen, dieses Schiff, das nicht steuerfähig war, in Schlepp zu nehmen. Aus unerfindlichen Gründen beschloß man schließlich auf dem Flaggschiff des Geschwaders, das beschädigte Schiff zu kontrollieren, obwohl die Helicon«- er schaute schnell in sein Konzept —»unter Kapitän Inch bereits erfolgreich Hilfe geleistet hatte.»
«Der Grund dafür war. «begann Keen.
Herrick klopfte auf den Tisch.»Später, Kapitän Keen.»
Bolitho musterte Herrick. Er fühlte sich in seiner Rolle unwohl, aber sein Tonfall verriet das nicht.
«Kurz darauf begab sich Kapitän Keen persönlich auf die Orontes.«Jerram sah Keen scharf an, als erwartete er Widerspruch.»Und nun wird das Verhalten des Kapitäns zum Gegenstand dieses Verfahrens, wenn nicht später sogar ein Fall fürs Kriegsgericht.»
In der Kajüte hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Selbst das Schiff war ungewöhnlich still; man vernahm nur das Ächzen der Balken und das Lecken des Wassers unterm Heck.
Der Ehrenwerte Sir Hedworth Jerram erklärte auf seine präzise Art:»Denn der — Kapitän Keen entfernte eine Frau, die nach New South Wales in die Verbannung gebracht werden sollte, von diesem Schiff.»
Bolitho ballte die Fäuste. Fast hätte Jerram Keen als» den Angeklagten «bezeichnet.
«Der Schiffsarzt der Argonaute ist anwesend. Bitte erheben Sie sich.»
Tuson, dessen weißes Haar im starken Kontrast zu seinem einfarbig blauen Rock stand, überragte alle anderen.
«Wurde die fragliche Frau bestraft?«fragte Jerram.
Tuson musterte ihn düster.»Jawohl, Sir, sie wurde geschlagen. Ausgepeitscht, Sir.»
«Bestraft«, schnappte Jerram.»Wie schwer waren ihre Verletzungen?»
Tuson beschrieb in seinem üblichen gelassenen Tonfall die Wunde auf dem Rücken des Mädchens. Wer in ihm einen durchschnittlichen Schiffsdoktor erwartet hatte, würde bald eines besseren belehrt werden.
«In Lebensgefahr schwebte sie aber nicht?«beharrte Jer-ram.
Tuson starrte ihn an.»Wenn man sie auf dieses Schiff zurückgebracht hätte…«»Bitte beantworten Sie meine Frage.«»Nein, Sir, aber.»
«Setzen Sie sich. «Jerram tupfte sich mit einem Taschentuch den Mund ab.
Bolitho sah sich Keens Profil an. Der Mann wirkte unter der Sonnenbräune bleich. Und verbittert.
Als nächster wurde Stayt aufgerufen. Da es sich nur um einen Untersuchungsausschuß und kein Gericht handelte, konnte Jerram fragen, was er wollte. Ein Kreuzverhör war nicht zugelassen.
«Was geschah, als Sie die Orontes betraten, Leutnant Stayt?»
Stayt begann:»Die Mannschaft war undiszipliniert und betrunken.«»Wer sagte das?»
«Zu dieser Schlußfolgerung gelangte ich selbst.»
«Ich will über Ihre Impertinenz hinweggehen. «Jerram fügte hinzu:»Anscheinend lief gerade eine Bestrafung ab. «Ehe Stayt antworten konnte, sagte er scharf:»Und Sie erhielten Befehl, den Ausführenden zu erschießen, wenn er weitermachte? Ist das korrekt?»
«Die Situation war gefährlich, Sir Hedworth«, sagte Stayt hitzig.»Wir waren ohne Unterstützung.»
«Und, wie es den Anschein hat, auch ohne zuverlässige Zeugen, oder?«Nickend gab sich Jerram selbst die Antwort.»Setzen Sie sich.»
Er schaute kurz in seine Unterlagen, doch Bolitho hatte das Gefühl, daß er jede Einzelheit auswendig wußte.
Das Verfahren wirkte korrekt, doch ohne Erwähnung dessen, was sich zuvor und seitdem zugetragen hatte — Verlust der Supreme, Verwundung des Vizeadmirals —, und ohne Keens Version des Vorfalls ergaben die Aussagen keinen Sinn. Laut Dienstvorschrift sollte der Ausschuß Tatsachen feststellen, doch hier wurden viele Fakten unterdrückt.
Jerram fuhr fort:»Jedenfalls unterblieb der Versuch, die Frau zurück auf den Transporter zu bringen. Der Kapitän der Orontes wurde vor seiner Mannschaft gedemütigt. «Er ging mit vernehmlichen Schritten ans andere Ende des Tisches.»In Gibraltar wurden die anderen Frauen ausgebootet, doch die Gefangene blieb unter Kapitän Keens >Fürsor-ge< an Bord.»
Im Hintergrund kicherte jemand.
«Mehr noch: Eine Negerin wurde an Bord genommen, um der Strafgefangenen als Zofe zu dienen. «Sein goldbetreßter Ärmel schoß vor.»Bitte stehen Sie auf, Kapitän Keen! Bestreiten Sie diese Tatsachen? Leugnen Sie, eine Strafgefangene für Ihre eigenen Zwecke, über die wir hier nur Vermutungen anstellen können, von Orontes entfernt zu haben?»
Keen erwiderte bitter:»Ich holte sie von diesem Schiff, weil sie dort wie ein Tier behandelt wurde!»
«Und das regte Sie, einen Offizier des Königs, mächtig auf!»
Bolitho sprang auf.
Herrick schaute ihn an, nahm anscheinend zum ersten Mal von ihm Notiz.»Ja, Sir Richard?»
«Wie kann es dieser Offizier wagen, meinen Flaggkapitän zu verhöhnen? Ich werde keine weitere Beleidigung dulden, ist das klar?»
«Höchst unorthodox«, bemerkte Jerram und warf Laforey einen Blick zu.
Laforey grunzte.»Ach was, machen wir weiter. Sagen Sie Ihren Vers auf, Sir Richard, wenn's unbedingt sein muß. Wie ich höre, sind Sie ein Hitzkopf.»
Diese Bemerkung, wenngleich unbeabsichtigt, schien der Konfrontation die Schärfe zu nehmen.
Bolitho fuhr ruhiger fort:»Kapitän Keen ist ein guter und tapferer Offizier. «Er drehte sich um und zeigte ihnen den goldenen Orden auf seiner Brust, den auch Nelson mit Stolz trug.»Zu meinem Flaggkapitän wählte ich ihn wegen seiner Verdienste und weil ich ihn persönlich kenne. «Er spürte, wie Jerrams Selbstvertrauen zurückkehrte. Jerram würde gleich darauf hinweisen, daß solche Kriterien bei der Wahl eines Flaggkapitäns belanglos waren. Sofern er zu Wort kam. Bolitho war ein geschickter Fechter, dafür hatte sein Vater gesorgt. Keine andere Waffe wußte er so gut zu gebrauchen. Er hatte nun das Gefühl, ein Duell auszufechten: Lasse den Gegner die Kraft deines Armes prüfen, täusche ihn und stoße zu, wenn er aus dem Gleichgewicht ist.
Laforey sagte:»Wir brauchen die Gefangene doch nur wieder in Gewahrsam zu nehmen. Kapitän Keen kann sich für sein Verhalten später verantworten. Immerhin stehen wir im Krieg, Gentlemen.»
Wie in der Schlacht spürte Bolitho einen eiskalten Schauer im Rücken.»Warum befragen Sie mich eigentlich nicht, Sir Hedworth?»
Jerram starrte ihn einige Sekunden lang finster an.»Meinetwegen, Sir Richard. Offenbar müssen wir hier Zeit vergeuden. Wo ist die Gefangene?»
«Vielen Dank, Sir. «Bolithos linkes Auge brannte, und er hoffte, es würde ihn nicht ausgerechnet jetzt im Stich lassen.»Sie ist unter meinem Schutz nach England zurückgekehrt. Ich habe ihre Überfahrt bezahlt und werde die Rechnung vorlegen, falls Sie beabsichtigen, auch mich vor ein Kriegsgericht zu stellen. Kapitän Keen brachte sie auf meinen Befehl hin von der Orontes aufs Flaggschiff. Glauben Sie etwa, ein Flaggkapitän könne ohne Zustimmung seines Ad-mirals handeln?«Er sah Keen kurz ins Gesicht.»Ich gab meine Zustimmung. «Dann sprach er weiter:»Die junge Frau war unschuldig in die Verbannung geschickt worden, und das werde ich auch beweisen, Sir Hedworth, vor einem Gericht, das weit glaubwürdiger ist als diese Scharade hier! Woher wollen Sie wissen, was der Kapitän der Orontes sagte oder nicht sagte? Der Mann ist ja schon auf halbem Weg nach New South Wales!«Sein Ton wurde schärfer.»Sie werden die Wahrheit erfahren, Gentlemen, wenn die Beweise vorgelegt werden, darauf können Sie sich verlassen. Dann werden Sie sehen, was neidische, ehrlose Männer aus Rachsucht fertigbringen!»