Herrick sah ihn bewundernd an. Wie konnte er das durchhalten? Ständig planen und neuplanen, immer nur seine Aufgabe vor Augen?
«Wenn dieser Franzose Genin die Besatzung gegen ihren tyrannischen Kapitän aufwiegeln kann«, sagte er,»kann ihn auch nichts daran hindern, das Gleiche von uns zu behaupten. «Nachdenklich schob er die Unterlippe vor.»Aber ich sehe nicht ein, warum.»
«Das ist sein Handel mit Tuke. Die Herrschaft über das Schiff und Genins sichere Passage stehen gegen Tukes Belohnung. Nachschubschiffe, Gold, Protektion, gleichgültig, was es ist. Was für Tuke zählt, ist die Notwendigkeit, sich einen sicheren und starken Stützpunkt zu schaffen.»
Herrick nickte düster.»Und es gibt nichts, was ihn daran hindern kann. Außer uns.»
«Ja, Thomas. Eine Fregatte gegen eine Flottille. Unsere geschwächte Besatzung gegen erfahrene, schlecht behandelte Veteranen.»
Von oben waren ein Ruf zu hören und ungeduldiges Scharren. Herrick wurde gebraucht, war aber unfähig, den Bann zu brechen, der von Bolithos eisiger Entschlossenheit ausging, als er hinzufügte:»Aber wir werden es verhindern. Wir werden alles einsetzen, was wir haben, um diesen Piraten zu vernichten und jeden, der zu ihm hält. In wenigen Monaten, vielleicht schon jetzt, können wir uns im Krieg mit Frankreich befinden, und ich habe nicht die Absicht, zuzulassen, daß die Narval das Vergnügen hat, in Zukunft gegen uns zu kämpfen. «Er wandte sich ab.»Ich hätte es früher sehen sollen, viel früher. Aber mir ging es wie Le Chaumareys. Ich war meiner eigenen Fähigkeiten zu sicher. «Er lächelte, doch in seinen Augen war keine Wärme zu erkennen.»Gehen Sie zu Ihren Leuten, Thomas. Ich komme hinauf, wenn Sie mit dem Exerzieren anfangen.«»Ich habe bisher nichts gesagt, Sir«, erwiderte Herrick schlicht,»aber ich bin es Ihnen schuldig, und mehr denn je auch der Dame. Meine Kritik war unberechtigt. Es stand mir nicht zu, so zu denken. Mir ist jetzt klar, wie sehr Sie einander brauchten, denn ich sehe, was ihr Verlust für Sie bedeutet. Es tut mir leid, nicht nur als einem loyalen Untergebenen, sondern auch, wie ich hoffe, als einem treuen Freund.»
Bolitho nickte. Die Haarsträhne fiel ihm über die Augen.»Ich habe größeres Unrecht begangen. Ich hätte Ihren Rat damals vor fünf Jahren befolgen sollen, und jetzt vor einigen Monaten wieder. Wegen meiner Wünsche habe ich ihr Leben in Gefahr gebracht, und weil sie mir vertraut hat, ist sie jetzt tot. «Er wandte sich ab.»Lassen Sie mich bitte allein.»
Herrick öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Noch nie hatte er Bolitho so gesehen: bleich trotz der sonnengebräunten Haut, die Augen von dunklen Ringen umrandet wie bei einem Besessenen.
Selbst im Dienst bei der Neueinteilung der Besatzung, um die vorhandenen Mängel auszugleichen, konnte Herrick keine Ruhe und Sicherheit finden.
Er sah Blissett mit den Marinesoldaten bei den ausgespannten Netzen stehen, die Muskete an seiner Seite. Abgesehen davon, daß er dünner wirkte, war ihm von den überstandenen Strapazen wenig anzumerken. Er sagte:»Ich freue mich, Sie wohlauf zu sehen, Korporal
Blissett.»
Blissett strahlte.»Sir!«Für ihn bot das Leben plötzlich neue Aussichten. Ein Schritt weiter.
Herrick ging zur Achterdecksreling. Die letzten schweren Regentropfen fielen auf Besatzung und Segel. Bald würde es wieder höllisch heiß werden. Er sah auf die nach oben gewendeten Gesichter im Geschützdeck hinab, auf die nackten Rücken der Toppsgasten, die in beiden Gangways bereitstanden, aufzuentern und die Bramsegel zu setzen, sobald der Befehl kam. Eine gute Mannschaft, dachte er. Eine so gemischte Gesellschaft wie das Publikum bei einem Wettkampf, aber deswegen in keiner Weise schlecht. Irgendwie hatten sie sich zusammengefunden. Gelernt, ihren Dienst hinzunehmen, wenn nicht damit einverstanden zu sein. Er hatte das Gefühl, daß er etwas sagen sollte, ihnen erklären, wieviel sie zu geben und ertragen hätten, wenn Bolitho recht behielt.
Hinter sich hörte er Schritte an Deck, und dann sagte Bolitho:»Anscheinend hat es eine Verzögerung gegeben, Mr. Herrick.»
Herrick sah ihm in die Augen, grau und fest, aber auch etwas anderes. Herausfordernd, oder war es bittend? Er griff an seinen Hut.»Ich dachte, Sie würden eine Weile unten bleiben, Sir.»
Bolitho ließ seinen Blick langsam über die schweigenden Männer schweifen und das Schiff selbst, das sich leicht nach Backbord legte.»Mein Platz ist hier.»
Er stützte seine Hände auf die Reling, spürte durch sie das Vibrieren des Schiffes, die nicht endende Botschaft, die es damit an jeden weitergab, der hören wollte. Er erinnerte sich an Violas Ausdruck, als er ihr erklärt hatte, wie ein Schiff sich verhielt und reagierte. Zunächst war er beinahe scheu gewesen wie ein Junge, als er ihr beschrieb, was für ihn der Alltag war. Und es hatte sie nicht gelangweilt, und sie hatte auch nicht nur höfliches Interesse gezeigt. Mit der Zeit hätte sie es mit ihm teilen können, fest verwachsen und so ausdauernd wie das alte Haus in Falmouth. Aber jetzt… Abrupt sagte er:»Machen Sie weiter, Mr. Herrick. Nach oben mit den Leuten und Bramsegel setzen, bitte.»
Die Wanten und Webeleinen wurden von hetzenden
Gestalten belebt, und die antreibenden Rufe der
Unteroffiziere zerstörten die Stille und ließen die Seevögel kreischend über dem schäumenden Kielwasser der Tempest kreisen.
Bolitho begann in Luv auf- und abzugehen. Seine Anwesenheit war lebenswichtig, und für alle außer jenen, die ihn genau kannten, wirkte er äußerlich so ruhig wie immer.
Doch jeder Schritt war qualvoll, und obwohl rings um ihn seine Leute umherhasteten oder an den Pardunen herunterglitten, um andere Aufgaben zu erfüllen, während die Leinwand sich im Wind blähte und steif wurde, war Kapitän Richard Bolitho völlig für sich allein. Die Tempest machte rasche Fahrt nach Süden zu den Levu-Inseln, und obwohl sie keinem größeren Fahrzeug als gelegentlich einem Kanu begegneten, hatte Bolitho aufjeder Meile das Gefühl, daß sie beobachtet wurden. Er wußte, daß die meisten der Schiffsbesatzung versuchten, Distanz zu wahren und seinem Blick auszuweichen. In vieler Hinsicht kam ihm diese Isolierung in einer dicht bevölkerten Welt gelegen, dennoch war ihm seine Verantwortung für sie bewußt. Besonders durch das, was vor ihnen lag. Morgen. Nächste Woche. Von den Männern, deren Leben er in den Händen hielt, gefürchtet zu werden, war für ihn zutiefst abstoßend. Er bemerkte die Blicke, die täglich nach seiner Reaktion auf ihre Bedürfnisse forschten. Segel- und Geschützexerzieren. Arbeit in der Takelage oder an Deck, er wußte, daß sie ihm nachblickten, wenn er an ihnen vorbeigegangen war. Besorgt oder auch nur neugierig. Trotz seines Kummers neidisch auf die Privilegien, über die er im Vergleich zu ihrem spartanischen Dasein verfügte. Am letzten Tag, als die Tempest sich langsam der pilzförmigen Bucht näherte, Fock, Groß- und Besansegel aufgegeit und zwei Lotgasten in den Rüsten, beobachtete er, wie die Insel im frühen Licht Form annahm, und war sich seiner gemischten Gefühle deutlich bewußt.
Der Ausguck im Mast hatte bald nach Anbruch der Dämmerung Rauch gemeldet, und als das Licht über den buckligen Hügeln stärker wurde und auf dem Wasser Reflexe hervorrief, sah er wie eine tiefliegende, niedrige Regenwolke Qualm über die Bucht ziehen. Herrick sagte:»Von der Siedlung her, so wie es aussieht,
Sir.»
«Es hat den Anschein«, erwiderte Bolitho. Wieder prüfte er seine Gefühle. Wünschte er, Raymond schon tot aufzufinden? Oder sah er in dem Rauch lediglich einen Beweis dafür, daß er recht hatte? In Bezug auf Tuke und die Narval, vor allem aber bezüglich seiner eigenen Rolle, die ihm noch bevorstand.
Abrupt sagte er:»Geben Sie mir ein Glas. «Er nahm es von Midshipman Romney entgegen und richtete es auf das Land. Als er mit dem Teleskop die Bucht absuchte, sah er die Überreste der Eurotas, die wie verrottende Zähne über der Wasseroberfläche glänzten. Er hatte sie fast schon vergessen, und ihr Anblick traf ihn wie ein Dolchstoß. Er brachte zu viele Erinnerungen zurück: an die Nacht, in der sie die Bucht verlassen hatten und sich mehr davor fürchteten, auf Raymonds Befehl hin be schossen zu werden, als vor der Bewährungsprobe, die ihnen bevorstand, zu der sie gerade erst angetreten waren.