Fieber an Bord: Fregattenkapitän Bolitho in Polynesien
Für Winifred in Liebe
Wo liegt das Land, nach dem sie Segel hissen? Weit, weit voraus, ist alles, was sie wissen. Und wo das Land, woher ihr Schiff gekommen? Weit, weit zurück, mehr hat man nicht vernommen.
I Erinnerungen
Es war nahezu Mittag, und die Sonne brannte mit erbarmungsloser Intensität auf den Hafen von Sydney herab. Der Himmel über der jungen Kolonie hätte strahlend blau sein müssen, aber er war von Schleiern durchzogen, wie durch roh gegossenes Glas betrachtet, und die Luft um die Gebäude an der Kaimauer und dem Ankerplatz war gleichzeitig staubig und feucht.
Abseits der Ansammlung örtlicher Küstenfahrzeuge und größerer Kauffahrteifahrer lag für sich ein Kriegsschiff über seinem Spiegelbild, als ob es dort festgewachsen wäre und sich nie wieder fortbewegen würde. Seine Nationalflagge über dem hohen Achterdeck flatterte nur gelegentlich, und der breite Stander des Kommodore im Großtopp zeigte nur wenig mehr Leben.
Doch trotz der Hitze und des Unbehagens waren die Decks schon seit einiger Zeit von beobachtenden Gestalten bevölkert, da ein anderes britisches Kriegsschiff gemeldet worden war, das sich dem Hafen näherte. Der Kommodore stützte sich auf die Fensterbank seiner Kajüte, zog die Hände aber hastig wieder zurück. Das trockene Holz fühlte sich an wie ein heißgeschossener Kanonenlauf. Aber er beobachtete weiter, war sich der ungewöhnlichen Stille auf seinem Schiff bewußt, während der Neuankömmling über das schimmernde Wasser langsam näherkroch und seine Masten und Rahen, dann auch der geschwungene Bug mit der Galionsfigur im Dunst klarere Formen annahmen.
Das Flaggschiff des Kommodore war die alte Hebrus, ein kleiner Zweidecker mit vierundsechzig Geschützen, die nach annähernd dreißig Jahren Dienst zur Ausmusterung bereit gewesen wäre. Doch dem Schiff und seinem Kommodore war eine weitere Mission aufgetragen worden, und jetzt, an einem Oktobertag des Jahres 1789, ankerte es als ranghöchstes britisches Kriegsschiff im Hafen von Sydney; man erwartete von ihm, daß es sich mit gewohnter Tüchtigkeit und altem Elan nach wie vor bewähren würde, obwohl viele seiner Offiziere insgeheim daran zweifelten, daß es England je wieder erreichen würde. Das näherkommende Schiff war eine Fregatte, nichts Ungewöhnliches in Kriegszeiten und an jedem anderen Ort, wo der Einsatz ihrer Beweglichkeit und Schnelligkeit kurzfristig erforderlich sein konnte. Doch hier draußen, Tausende Meilen von der Heimat, von bekannten Gesichtern und vertrauten Sitten entfernt, war ein Schiff des Königs selten und um so willkommener.
Seine Anwesenheit war der Grund für die Stille an Bord der Hebrus. Jeder beobachtete ihr mühseliges Einlaufen bei schwächster Brise, und jeder sah in ihr etwas anderes: eine Stadt in England; eine Stimme; Kinder, an die man sich kaum erinnerte…
Seufzend richtete der Kommodore sich auf, und die Mühe verursachte einen neuen Schweißausbruch. Eigentlich absurd, das Ganze: Der Ankömmling war die Fregatte Tempest,[1] sechsunddreißig Geschütze, und sie hatte England noch nie gesehen.
Er wartete, während sein Diener mit Galauniform und Degen, den Abzeichen seines Dienstranges, um ihn herumtappte; er erinnerte sich an das, was er von der Tempest gehört hatte.
Sechs Jahre zuvor, als der Krieg mit den amerikanischen Kolonien und der französisch-spanischen Allianz zu Ende ging, wurden Schiffe, die im Kampf ihr Gewicht in Gold wert gewesen waren, wie auch die meisten ihrer Besatzungen nicht länger benötigt. Ein Land vergaß schnell, wer für es gekämpft hatte und gestorben war. Da wog der Weiterbestand eines Schiffes noch weniger. Doch der Friede zwischen den großen Mächten schien nie sehr dauerhaft, wenigstens nicht für jene, die an dem Preis für jeden blutigen Sieg beteiligt gewesen waren. Und nun bestanden neue Spannungen mit Spanien, die leicht zu Schlimmerem ausarten konnten. Es ging um rivalisierende Ansprüche auf verschiedene Territorien, die jeder durch Handel und Besiedlung auszubeuten hoffte. Wieder einmal war die Admiralität angewiesen worden, mehr Fregatten einzusetzen, diese Lebensnerven jeder
Flotte.
Die Tempest war auf der Werft der Honourable East India Company in Bombay erst vor vier Jahren gebaut worden. Wie bei den meisten Schiffen der ostindischen Handelsgesellschaft waren beim Bau das beste Teakholz aus Malabar und die besten verfügbaren Pläne verwendet worden. Im Gegensatz zur Navy baute die Gesellschaft ihre Schiffe für langjährige Verwendung und mit einiger Rücksicht auf jene, die sie bemannen sollten.
Die Vertreter der Admiralität in Bombay hatten das Schiff dann für den Dienst des Königs gekauft, bevor es unter der Flagge der Handelsgesellschaft eingesetzt worden war. Es hatte sie achtzehntausend Pfund gekostet. Die Admiralität mußte in einer verzweifelten Lage gewesen sein, um einen so fürstlichen Preis zu bezahlen, überlegte der Kommodore; oder — und das war ebensogut möglich — ein paar zusätzliche Goldstücke hatten in anderer Richtung den Besitzer gewechselt.
Er winkte seinem Diener, ihm das Fernrohr zu reichen, und richtete das Glas auf das langsam manövrierende Schiff. Wie die meisten Marineoffiziere war er vom Anblick einer Fregatte immer wieder beeindruckt. Diese hier war schwerer als üblich, verfügte aber dennoch über die anmutigen Proportionen, bot das gleiche Bild latenter Schnelligkeit und Manövrierfähigkeit, die diese Schiffe zum Wunschtraum jedes jungen Seeoffiziers machten. Trotz des Dunstes konnte der Kommodore auf dem Vorschiff der Fregatte eine Ansammlung von Gestalten ausmachen. Ein Anker war gekattet und zum Fallenlassen bereit, während das Schiff zielstrebig über seinem Spiegelbild dahinglitt, wobei sein Bug kaum die blaue Wasserfläche riffelte. Nur unter Marssegeln und Klüver fahrend, ging sie über Stag, um die schwache Brise zu nutzen; er konnte beinahe die Erregung jenseits des Wassers spüren. Der Anblick eines Hafens, jedes Hafens, verwischte immer die Erinnerung an die Mühsal und mitunter brutalen Bedingungen der Fahrt.
Der Kommodore hatte die Tempest schon vor zwei Wochen oder früher aus Madras erwartet. Depeschen, die er bereits durch eine Kurierbrigg erhalten hatte, hatten ihn nicht daran zweifeln lassen, daß die Tempest pünktlich eintreffen würde. Als sich ihr Einlaufen verzögerte, war er nicht beunruhigt, wie er es bei einem anderen Schiff gewesen wäre. Die Tempest stand unter dem Befehl von Kapitän Richard Bolitho, nicht gerade einem persönlichen Freund, aber doch einem Landsmann aus Cornwall, und das war unter den üblen Verhältnissen dieser Strafkolonie beinahe genausoviel wert.
Er hob das Glas wieder ans Auge. Jetzt konnte er die Ga-lionsfigur der Fregatte erkennen, eine Frauengestalt mit wilden Augen, wehendem Haar und vorspringenden Brüsten, die ein großes Muschelhorn an die Lippen hielt. Haar und Körper waren blank vergoldet, nur die Augen leuchteten in einem intensiven Blau und blickten weit in die Ferne, als folgten sie dem Weg ihrer Kinder, der Stürme. Die Vergoldungen der Galionsfigur und der Verzierungen rings um den Kajütaufbau mußten Bolitho ein kleines Vermögen gekostet haben. Aber in diesen Gewässern gab es wenig, wofür man sonst sein Geld verwenden konnte. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er seine Marinesoldaten zur Schanzpforte stampfen hörte. Schon ihre Stiefeltritte schienen ihm schwer genug, die alte Hebrus zu zertrampeln. Ein Leutnant blickte respektvoll durch den Türvorhang. Der Kommodore nickte knapp. Er wollte seinen Untergebenen nicht erkennen lassen, daß er sich so sehr für das andere Schiff interessierte.»Ja, ja, ich weiß. Ich komme hinauf.»
1
Sturm