»Hier bin ich, mein Sohn«, antwortete die Stimme unter den Trümmern. »Bist du verletzt?« Der Junge begann zu weinen. Elia nahm ihn in die Arme.

»Du weinst, mein Sohn«, sagte die Stimme, die immer schwächer wurde. »Weine nicht. Deine Mutter hat sich schwer damit getan, zu lernen, daß das Leben einen Sinn hat. Ich hoffe, es ist mir gelungen, es dir beizubringen. Wie sieht die Stadt aus, in der du geboren wurdest?« Elia und der Junge schwiegen fest aneinandergeklammert.

»Sie sieht gut aus«, log Elia. »Einige Krieger sind gestorben, doch die Assyrer haben sich schon zurückgezogen. Sie waren hinter dem Stadthauptmann her, um den Tod eines ihrer Generäle zu rächen.« Wieder Schweigen. Und abermals, immer schwächer, die Stimme.

»Sag mir, daß die Stadt gerettet ist.« Er fühlte, daß sie jeden Augenblick von ihnen gehen würde.

»Die Stadt ist unversehrt. Und deinem Sohn geht es gut.« »Und dir?« »Ich habe überlebt.« Er wußte, daß er mit diesen Worten ihre Seele befreite und sie in Frieden sterben ließ.

»Bitte meinen Sohn niederzuknien«, sagte die Frau nach einer Weile. »Ich möchte, daß du mir im Namen Gottes, deines Herrn, etwas schwörst.« »Was immer du willst. Alles, was du willst.« »Du hast mir einmal gesagt, daß der Herr allgegenwärtig ist, und ich habe es geglaubt. Du sagtest, daß die Seelen nicht auf den Gipfel des Fünften Berges gingen, und ich habe es dir auch geglaubt. Aber du hast mir nicht erklärt, wohin sie gehen.

Und dies ist der Schwur: Ihr werdet nicht um mich weinen, einer wird für den anderen sorgen, bis der Herr erlaubt, daß ein jeder seinen eigenen Weg geht. Von nun an wird sich meine Seele mit allem vereinen, was ich auf dieser Erde kennengelernt habe: Ich bin das Tal, die Berge ringsum, die Stadt, die Menschen, die durch ihre Straßen gehen. Ich bin ihre Verwundeten und ihre Bettler, ihre Soldaten, ihre Priester, ihre Kaufleute, ihre Aristokratie. Ich bin der Boden unter deinen Füßen und der Brunnen, der den Durst aller stillt.

Weint nicht um mich, denn es gibt keinen Grund, traurig zu sein. Von nun an bin ich Akbar, und die Stadt ist schön.« Die Stille des Todes kam, der Wind hörte auf zu wehen. Elia hörte weder die Schreie von draußen noch das in den Nachbarhäusern prasselnde Feuer. Er hörte nur noch die fast greifbare Stille.

Dann führte Elia den Jungen hinweg, zerriß seine Kleider und brüllte, zum Himmel gewandt, mit der ganzen Kraft seiner Lungen: »Mein Herr und Gott! Deinetwegen habe ich Israel verlassen und konnte Dir mein Blut nicht schenken wie die anderen Propheten, die dortgeblieben sind. Ich wurde von meinen Freunden Feigling und von meinen Feinden Verräter genannt.

Um Deinetwillen habe ich nur gegessen, was mir der Rabe brachte, und für Dich habe ich die Wüste bis nach Akbar durchquert. Von Deiner Hand geleitet, habe ich eine Frau gefunden, von Dir geführt, hat mein Herz sie lieben gelernt.

Trotzdem habe ich keinen Moment meine wahre Mission vergessen, all die Tage, die ich hier verbrachte, war ich immer bereit aufzubrechen.

Das schöne Akbar ist nur noch ein Trümmerhaufen, und die Frau, die Du mir anvertraut hast, liegt unter ihm begraben. Wo habe ich gesündigt, Herr? In welchem Augenblick habe ich mich von dem entfernt, was Du von mir erwartetest? Wenn Du nicht mit mir zufrieden warst, warum hast Du dann nicht mich von dieser Welt genommen, statt zum zweiten Mal diejenigen in Not zu stürzen, die mir geholfen und mich geliebt haben?

Ich begreife Deine Ratschlüsse nicht. Ich sehe keine Gerechtigkeit in Deinem Handeln. Ich kann das Leiden, das Du mir auferlegt hast, nicht ertragen. Entferne Dich aus meinem Leben, denn auch ich bin nur noch Trümmer, Feuer und Staub.« Da kam mitten im Feuer und in den Trümmern das Licht. Und der Engel des Herrn erschien.

»Was tust du hier?« fragte Elia. »Siehst du nicht, daß es zu spät ist?« »Ich bin gekommen, um dir abermals zu sagen, daß Gott dein Gebet erhört hat und dir geben wird, worum du ihn bittest. Du wirst deinen Engel nicht mehr hören, und auch ich werde dich nicht mehr aufsuchen, bis die Tage deiner Prüfung vorüber sind.« Elia nahm den Jungen bei der Hand, und sie irrten ziellos durch die Straßen, in denen sich der Rauch staute, denn der Wind hatte sich gelegt.

»Vielleicht ist dies alles nur ein Traum«, dachte er. »Ein einziger Alptraum.« »Du hast meine Mutter angelogen«, sagte der Junge. »Die Stadt ist zerstört.« »Na und? Wenn sie nicht sehen konnte, was um sie herum geschah, warum sollte sie dann nicht glücklich sterben?« »Weil sie dir vertraute und sagte, sie sei Akbar.« Er verletzte sich den Fuß an den Glas- und Keramikscherben, die überall auf dem Boden verstreut lagen. Der Schmerz zeigte ihm, daß er nicht träumte, daß alles um ihn herum schreckliche Wirklichkeit war. Es gelang ihnen, bis zu dem Platz zu kommen, auf dem sich einstmals – vor undenklichen Zeiten – das Volk versammelt und er geholfen hatte, Streit zu schlichten. Der Himmel leuchtete gelb vom Feuer der Brandstätten.

»Ich will nicht, daß meine Mutter das ist, was ich sehe«, beharrte der Junge. »Du hast sie angelogen.« Dem Jungen gelang es, seinen Schwur zu halten. Elia sah keine einzige Träne auf seinem Gesicht. >Was mache ich nur?< dachte er. Sein Fuß blutete, und er beschloß, sich auf den Schmerz zu konzentrieren. Er würde ihn von der Verzweiflung fernhalten.

Er sah sich die Wunde an, die das Schwert des Assyrers an seinem Körper geschlagen hatte. Sie war nicht so tief wie vermutet. Er setzte sich mit dem Jungen an denselben Platz, an dem er von den Feinden gefesselt und von einem Verräter gerettet worden war. Er bemerkte, daß die Menschen jetzt nicht mehr umherliefen, sondern in einer Wolke von Rauch und Staub zwischen den Ruinen umherschlichen, wie lebende Tote, wie vom Himmel vergessene Seelen, die dazu verdammt waren, ewig auf Erden umherzuirren – sinnlos.

Einige wenige taten etwas. Er hörte die Stimmen der Frauen und einige unklare Befehle der wenigen Soldaten, die das Massaker überlebt hatten und die nur Verwirrung stifteten.

Die Welt sei der kollektive Traum der Götter, hatte der Priester einmal gesagt. Elia mußte ihm irgendwie recht geben. Doch würde der Priester die Götter aus diesem Alptraum aufwecken, um sie mit einem sanfteren Traum wieder einschlafen zu lassen? Als er selbst nächtliche Visionen hatte, war er immer aufgewacht und dann wieder eingeschlafen, warum sollte es den Göttern da nicht gleich ergehen?

Immer wieder stolperte er über Leichen. Die waren ihre Steuersorgen los und scherten sich nicht um die Assyrer, die im Tal kampierten, die religiösen Rituale oder das Leben eines umherirrenden Propheten, mit dem sie vielleicht einmal ein paar Worte gewechselt hatten.

>Ich kann hier nicht die ganze Zeit bleiben. Das Erbe, das sie mir hinterließ, ist dieser Junge, und ich werde mich seiner würdig erweisen, auch wenn dies das letzte ist, was ich auf Erden tue.< Mühsam erhob er sich, nahm den Jungen wieder bei der Hand, und sie gingen weiter. Er ertappte Leute dabei, wie sie die Läden und umgestoßenen Marktstände plünderten. Zum ersten Mal nahm er nicht alles gleichgültig hin und bat sie, davon abzulassen.

Doch die Leute schoben ihn beiseite und sagten: »Laß uns in Ruhe, wir essen nur die Brosamen von dem, was der Stadthauptmann übriggelassen hat.« Elia hatte nicht die Kraft zum Streiten. Er führte den Jungen aus der Stadt heraus, und sie begannen durch das Tal zu wandern.

Die Engel mit ihren Flammenschwertern würden fernbleiben.

»Vollmond.« Fern vom Staub und vom Rauch stand er in der klaren vom Mondschein erleuchteten Nacht. Stunden zuvor, als er die Stadt in Richtung Jerusalem verließ, hatte er sich mühelos zurechtgefunden, und ähnlich war es wohl den Assyrern ergangen.

Der Junge stolperte über einen Leichnam und schrie auf. Es war der Priester. Er hatte weder Arme noch Beine mehr, doch er lebte noch. Seine Augen starrten auf den Fünften Berg.

»Wie Ihr seht, haben die phönizischen Götter die himmlische Schlacht gewonnen«, brachte er unter Schwierigkeiten, doch mit ruhiger Stimme hervor. Blut lief ihm aus dem Mund.