>Jetzt bin ich an der Reihe<, dachte Elia bei sich. >Ich werde sie im Paradies wiedersehen, und wir werden dort Hand in Hand Spazierengehen.< In diesem Augenblick kam ein Mann heran und fing an, mit den Offizieren zu diskutieren. Es war ein Bewohner von Akbar, der oft zu den Versammlungen auf dem Platz gekommen war. Er hatte Streit mit seinem Nachbarn, und Elia konnte ihn beilegen.

Die Assyrer diskutierten, redeten immer lauter und wiesen auf ihn. Der Mann kniete nieder, küßte einem von ihnen die Füße, streckte die Hand zum Fünften Berg aus und weinte wie ein Kind. Die Wut der Assyrer schien nachzulassen.

Die Unterredung schien kein Ende zu nehmen. Der Mann flehte und weinte die ganze Zeit, indem er auf Elia und das Haus wies, in dem der Stadthauptmann wohnte. Die Soldaten wirkten weiterhin verstimmt.

Schließlich trat der Offizier, der seine Sprache sprach, zu ihm.

»Unser Spion«, sagte er und wies auf den Mann, »versichert, daß wir uns irren. Er hat uns die Pläne der Stadt gegeben, und wir können seinen Worten vertrauen. Ihr seid nicht der, den wir töten wollten.« Er gab ihm einen Fußtritt. Elia fiel zu Boden.

»Er sagt, daß Ihr nach Israel gehen werdet, um die Prinzessin abzusetzen, die die Macht in Israel an sich gerissen hat. Ist das wahr?« Elia antwortete nicht.

»Sagt mir, ob das die Wahrheit ist«, beharrte der Offizier. »Und Ihr könnt in die Stadt gehen und zu Eurem Haus zurückkehren, um noch jene Frau und ihren Sohn zu retten.« »Ja, es ist wahr«, sagte er. Vielleicht hatte der Herr ihn erhört und würde helfen, sie zu retten.

»Wir könnten Euch als Gefangenen nach Tyrus und Sidon mitnehmen«, fuhr der Offizier fort. »Doch in den kommenden Schlachten würdet Ihr uns nur hinderlich sein. Wir könnten ein Lösegeld für Euch verlangen, doch von wem? Ihr seid in Eurem eigenen Land ein Fremder.« Der Offizier trat ihm ins Gesicht.

»Ihr seid für nichts zu gebrauchen. Weder bei den Feinden noch den Freunden. Ihr seid wie Eure Stadt: Es lohnt nicht, einen Teil unseres Heeres hier zu lassen, um sie unter Kontrolle zu halten. Wenn wir die Küste erobert haben, gehört uns Akbar sowieso.« »Ich habe eine Frage«, sagte Elia. »Nur eine Frage.« Der Offizier sah ihn mißtrauisch an.

»Warum habt Ihr nachts angegriffen? Wißt Ihr denn nicht, daß alle Kriege tagsüber geführt werden?« »Wir haben kein Gesetz gebrochen. Es gibt keine Tradition, die dies verbietet«, antwortete der Offizier. »Wir hatten viel Zeit, um das Terrain zu erkunden. Ihr wart mit Euren alten Bräuchen beschäftigt und hattet vergessen, daß sich die Dinge geändert haben.« Ohne ein weiteres Wort verließ ihn die Gruppe. Der Spion trat heran und löste die Fesseln an seinen Händen.

»Ich hatte mir geschworen, Euch eines Tages Eure Großherzigkeit zu vergelten. Ich habe Wort gehalten. Als die Assyrer in den Palast eindrangen, hat ihnen einer der Diener gesagt, daß sich der, den sie suchten, im Haus der Witwe versteckt hielte. Während sie noch unterwegs waren, konnte der echte Stadthauptmann fliehen.« Elia achtete nicht auf ihn. Feuer prasselte überall, und die Schreie hatten nicht aufgehört.

Trotz des Durcheinanders hielt eine Gruppe noch Disziplin. Wie auf einen unsichtbaren Befehl hin zogen sich die Assyrer zurück.

Die Schlacht von Akbar war zu Ende.

>Sie ist tot<, sagte er sich. >Ich will nicht dorthin zurück, weil sie bereits tot ist. Oder sie wurde durch ein Wunder gerettet und kommt selber zu mir.< Sein Herz hieß ihn indes aufzustehen und zu dem Haus zu gehen, in dem sie lebten. Elia kämpfte mit sich selbst. Es war nicht allein die Liebe zu der Frau, die in diesem Augenblick auf dem Spiel stand, sondern sein ganzes Leben, sein Vertrauen in die Ratschlüsse Gottes, der Aufbruch in seine Heimatstadt, der Gedanke daran, daß er einen Auftrag hatte und ihn würde erfüllen können…

Er blickte um sich, suchte nach einem Schwert, um seinem Leben ein Ende zu machen, doch die Assyrer hatten alle Waffen aus Akbar mitgenommen. Er erwog, sich in die Flammen der brennenden Häuser zu stürzen, doch er hatte Angst vor den Schmerzen.

Einen Moment war er wie gelähmt. Erst allmählich wurde ihm wieder bewußt, was vorgefallen war. Die Frau und ihr Sohn hatten diese Welt zweifellos verlassen, doch er mußte sie den Bräuchen entsprechend bestatten. Die Arbeit für den Herrn – ob es Ihn nun gab oder nicht – war in diesem Moment seine einzige Stütze. Nachdem er seine religiöse Pflicht erfüllt hatte, würde er sich dem Schmerz und dem Zweifel hingeben.

Immerhin bestand die Möglichkeit, daß sie noch lebten. Er konnte also nicht einfach untätig stehenbleiben.

»Ich will ihre verkohlten Gesichter nicht sehen, das von der Haut gelöste Fleisch. Ihre Seelen wandeln bereits frei im Himmel.« Dennoch machte er sich, hustend und halb erstickt vom Rauch, der alles einnebelte, auf den Weg zum Haus. Der Feind hatte sich zurückgezogen, doch nun machte sich Panik breit, und die Menschen liefen ziellos umher und forderten unter Tränen ihre Toten von den Göttern zurück.

Er suchte jemanden, der ihm helfen könnte. Der einzige Mann, den er erblickte, befand sich in tiefstem Schockzustand. Er war weit weg von hier.

»Ich gehe wohl besser direkt hin, ohne erst Hilfe zu holen.« Er kannte Akbar so gut wie seine Heimatstadt, und es gelang ihm, sich zu orientieren, obschon er viele Orte nicht wiedererkannte, an denen er sonst vorbeikam. Die Schreie auf der Straße machten jetzt mehr Sinn. Das Volk begann zu begreifen, daß eine Tragödie geschehen war und daß es darauf reagieren mußte.

»Hier ist ein Verletzter«, rief jemand.

»Wir brauchen mehr Wasser! Wir werden das Feuer nicht löschen können«, rief ein anderer.

»Helft mir! Mein Mann ist eingeklemmt!« Nun stand er vor dem Haus, das ihn viele Monate zuvor wie einen Freund aufgenommen hatte. Unweit saß eine alte Frau nackt mitten auf der Straße. Elia versuchte ihr zu helfen, doch sie schob ihn weg: »Sie stirbt!« schrie die Alte. »So tut doch etwas! Schafft die Wand weg, unter der sie liegt!« Und sie begann hysterisch zu schreien. Elia packte sie bei den Armen und schob sie weit weg, weil sie mit ihrem Geschrei das Wimmern der Frau übertönte. Das Haus war nur noch ein Trümmerhaufen, Dach und Wände waren eingestürzt, alles eine einzige unkenntliche Masse. Er bahnte sich einen Weg durch das Geröll, das den Boden bedeckte, und gelangte an den Ort, wo einst das Zimmer der Frau gewesen war.

Nun vernahm er, durch den Lärm von der Straße hindurch, ein Wimmern. Es war ihre Stimme.

Instinktiv schüttelte er den Staub von seinen Kleidern, wie um sich schön zu machen, schweigend konzentrierte er sich. Das Feuer knisterte, die Hilferufe der Verschütteten in den benachbarten Häusern gellten an seine Ohren: Wollten sie endlich still sein, damit er die Frau und ihren Sohn finden konnte! Lange geschah nichts, dann, endlich, hörte er unter den Bohlen zu seinen Füßen ein Kratzen.

Da kniete er nieder und begann wie ein Verrückter zu graben.

Dann berührte seine Hand etwas Warmes: Es war Blut.

»Stirb nicht, bitte«, sagte er.

»Laß die Trümmer auf mir liegen«, hörte er ihre Stimme sagen.

»Ich möchte nicht, daß du mein Gesicht siehst. Geh und hilf meinem Sohn.« Er grub weiter, und die Stimme sagte wieder: »Such den Leichnam meines Sohnes. Bitte tu, um was ich dich bitte.« Elia ließ den Kopf hängen und begann leise zu weinen.

»Ich weiß nicht, wo er verschüttet ist«, sagte er. »Bitte geh nicht. Ich möchte so gern, daß du bei mir bleibst. Du mußt mich lehren zu lieben, mein Herz ist bereit.« »Bevor du gekommen bist, habe ich mir jahrelang den Tod gewünscht. Er wird mich erhört haben und ist nun gekommen, um mich zu holen.« Sie seufzte. Elia biß sich auf die Lippen und sagte nichts.

Jemand berührte ihn an der Schulter.

Er wandte sich erschrocken um und sah den Jungen. Er war mit Staub und Ruß bedeckt, doch er schien unverletzt.

»Wo ist meine Mutter?« fragte er.