Der Junge und der Mann gingen durch das Tal.

»Du gehst langsam«, sagte der Junge. »Hast du Angst vor dem, was passieren könnte?« »Ich habe nur vor mir selber Angst«, antwortete Elia. »Niemand kann mir etwas antun, denn mein Herz ist nicht mehr.« »Der Gott, der mich vom Tode zurückgeholt hat, lebt. Er kann meine Mutter zurückholen, wenn du dasselbe mit der Stadt tust.« »Vergiß diesen Gott. Er ist fern und tut nicht mehr die Wunder, die wir von Ihm erwarten.« Der Hirte hatte recht. Von diesem Augenblick an mußte er seine eigene Vergangenheit wieder aufbauen, vergessen, daß er sich einmal für einen Propheten gehalten hatte, der Israel befreien mußte, aber versagt hatte, als es darum ging, eine Stadt zu retten.

Dieser Gedanke ließ ihn seltsam hochgestimmt werden. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich frei – bereit, das zu tun, was er für richtig hielt, und zwar dann, wann er es wollte.

Er würde keine Engel mehr hören, das war gewiß, doch dafür war er frei, nach Israel zurückzukehren, wieder als Tischler zu arbeiten, nach Griechenland zu reisen, um dort von den Weisen zu lernen oder mit den phönizischen Seefahrern in ferne Länder jenseits des Meeres aufzubrechen.

Vorher mußte er sich allerdings rächen. Er hatte die besten Jahre seiner Jugend einem tauben Gott gewidmet, der nur Befehle gab und alles immer auf Seine Art machte. Er hatte gelernt, Seine Entscheidungen zu akzeptieren und Seine Ratschlüsse zu respektieren.

Doch seine Treue war damit entgolten worden, daß er verlassen wurde, sein Eifer wurde nicht wahrgenommen, seine Bemühungen, den höchsten Willen zu erfüllen, hatten den Tod der einzigen Frau zur Folge, die er je geliebt hatte.

»Du hast Macht über die Welt und die Sterne«, sagte Elia in seiner Muttersprache, damit der Junge neben ihm seine Worte nicht verstand. »Du kannst eine Stadt, ein Land zerstören, wie wir Insekten töten. Dann schicke doch das Feuer des Himmels und mach meinem Leben ein Ende, ansonsten werde ich mich gegen Dein Werk wenden.« Akbar tauchte in der Ferne auf. Er nahm die Hand des Jungen und drückte sie fest.

»Von nun an, bis wir durch die Stadttore treten, werde ich mit geschlossenen Augen gehen, und du mußt mich führen«, bat er den Jungen. »Wenn ich unterwegs sterbe, dann tu, worum du mich gebeten hast: Baue Akbar wieder auf, auch wenn du dafür erst einmal erwachsen werden und lernen mußt, wie man Holz oder Steine bearbeitet.« Der Junge sagte nichts. Elia schloß die Augen und ließ sich führen. Er hörte das Rauschen des Windes und das Knirschen der eigenen Schritte im Sand.

Er erinnerte sich an Mose. Denn obschon er das auserwählte Volk befreit und durch die Wüste geführt hatte und dafür vielerlei Schwierigkeiten überwinden mußte, erlaubte ihm Gott nicht, Kanaan zu betreten. Damals hatte Mose gesagt: »Laß mich hinübergehen und sehen das gute Land jenseits des Jordans.« Der Herr war erzürnt über seine Bitte. Und sagte: »Laß es genug sein! Rede mir davon nicht mehr! Steige auf die Höhe des Berges Pisga und hebe deine Augen auf gegen Abend und gegen Mitternacht und gegen Morgen und siehe es mit Augen; denn du wirst nicht über diesen Jordan gehen.« So entgolt der Herr Moses lange, schwere Arbeit, indem er ihm verwehrte, das Gelobte Land zu betreten. Was wäre geschehen, wenn er nicht gehorcht hätte?

Elia wandte seine Gedanken wieder dem Himmel zu.

»Mein Herr, diese Schlacht war kein Kampf zwischen den Assyrern und den Phöniziern, sondern zwischen Dir und mir.

Du hast mir unseren persönlichen Krieg nicht angekündigt, und wie immer hast Du gesiegt und Deinen Willen geschehen lassen. Du hast die Frau vernichtet, die ich liebte, und die Stadt, die mich aufnahm, als ich fern meiner Heimat war.« Der Wind blies stärker in seinen Ohren. Elia erschrak, doch er fuhr fort: »Ich kann diese Frau nicht wieder zurückholen, doch ich kann das Schicksal des Werkes Deiner Zerstörung ändern. Mose hat sich Deinem Willen gefügt und den Fluß nicht überschritten. Ich hingegen werde weitergehen: Töte mich sofort, denn wenn Du mich bis zu den Toren der Stadt gelangen läßt, werde ich aufbauen, was Du vom Antlitz der Erde fegen wolltest. Ich werde mich gegen Deinen Willen stellen.« Mehr sagte er nicht. Er ließ seinen Kopf ganz leer werden und wartete auf den Tod. Lange konzentrierte er sich nur auf das Knirschen seiner Schritte im Sand – er wollte die Stimme der Engel oder die Drohungen des Himmels nicht hören. Sein Herz war frei, und er fürchtete nicht mehr, was ihm geschehen könnte. Dennoch begann irgend etwas tief in seiner Seele ihn zu bedrängen – als hätte er etwas Wichtiges vergessen.

Sie waren lange gegangen, da blieb der Junge stehen und rüttelte Elia am Arm.

»Wir sind da«, sagte er.

Elia öffnete die Augen. Das Feuer des Himmels war nicht über ihn herabgekommen, und um ihn herum lagen die zerstörten Mauern von Akbar.

Er blickte den Jungen an, der ihn nun an den Händen festhielt, als fürchtete er, er könnte ihm entkommen. Liebte er ihn? Er wußte es nicht. Jetzt hatte er eine Aufgabe zu erfüllen, die erste seit vielen Jahren, die ihm nicht Gott auferlegt hatte.

Dort, wo sie standen, konnten sie den Brandgeruch riechen.

Raubvögel kreisten am Himmel und warteten auf den rechten Augenblick, um auf die Leichen der Wachsoldaten herabzustoßen, die in der Sonne verwesten. Elia ging zu einem der toten Soldaten und nahm ihm das Schwert aus dem Gürtel.

Im Durcheinander der vorangegangenen Nacht hatten die Assyrer vergessen, auch vor der Stadt die Waffen einzusammeln.

»Wozu brauchst du das?« fragte der Junge.

»Um mich zu verteidigen.« »Die Assyrer sind nicht mehr da.« »Trotzdem ist es gut, es bei mir zu haben. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.« Seine Stimme zitterte. Man konnte nicht wissen, was geschehen würde, wenn sie durch die halbzerstörte Mauer in die Stadt traten, doch er war bereit, jeden zu töten, der ihn erniedrigte.

»Ich bin mit dieser Stadt zerstört worden«, sagte er zum Jungen. »Doch wie diese Stadt habe auch ich meine Mission noch nicht erfüllt.« Der Junge lächelte.

»Du redest wieder wie vorher«, sagte er.

»Laß dich durch die Worte nicht täuschen. Vorher war mein Ziel, Isebel vom Thron zu stoßen und Israel dem Herrn zurückzugeben, und jetzt, wo Er uns vergessen hat, müssen auch wir Ihn vergessen. Meine Mission ist nun, das zu tun, worum du mich gebeten hast.« Der Junge sah ihn mißtrauisch an.

»Ohne Gott wird meine Mutter nicht von den Toten zurückkehren.« Elia strich ihm über den Kopf.

»Nur der Körper deiner Mutter ist gegangen. Sie ist immer noch bei uns und ist, wie sie gesagt hat, Akbar. Wir müssen ihr helfen, ihre Schönheit wiederzuerlangen.« Die Stadt war beinahe menschenleer. Nur alte Männer, Frauen und Kinder waren auf der Straße – ziellos irrten sie umher wie in der Nacht der Invasion.

Jedesmal wenn sie jemandem begegneten, packte Elia den Griff des Schwertes. Doch die Leute zeigten sich gleichgültig: Die meisten erkannten den Propheten aus Israel wieder, einige grüßten ihn mit einem Kopfnicken, doch keiner richtete das Wort an ihn – nicht einmal ein haßerfülltes.

>Sie haben sogar ihre Wut verloren<, dachte er und blickte hinauf zum Fünften Berg, dessen Gipfel wie immer in den Wolken steckte. Dann erinnerte er sich an die Worte des Herrn: »Ich will eure Leichname auf eure Götzen werfen und meine Seele wird an euch Ekel haben… Euer Land soll wüst sein und eure Städte verstört… und denen, die von euch übrigbleiben, will ich ein feiges Herz machen in ihrer Feinde Land, daß sie soll ein rauschend Blatt jagen, und sollen fliehen davor, als jagte sie ein Schwert, und fallen, da sie niemand jagt.« »Sieh, was Du getan hast, Herr: Du hast Dein Wort gehalten, und die lebenden Toten wandeln weiterhin auf Erden. Und Akbar ist die Stadt, die Du dazu erwählt hast, sie zu beherbergen.« Die beiden gingen bis zum Hauptplatz, setzten sich dort auf die Trümmer und blickten sich um. Die Verwüstung war schlimmer und grausamer, als er gedacht hatte. Die Dächer der meisten Häuser waren eingestürzt. Dreck und Insekten hatten sich der Stadt bemächtigt.