»Die Toten müssen weggeschafft werden«, sagte er.
»Oder die Pest wird durch das Haupttor in die Stadt kommen.« Der Junge blickte zu Boden.
»Hebe den Kopf«, sagte Elia. »Wir haben viel zu tun, damit deine Mutter sich freut.« Doch der Junge gehorchte nicht. Er begann zu begreifen, daß irgendwo dort unter den Ruinen der Körper lag, der ihm einst das Leben geschenkt hatte – und daß dieser Körper in einem ähnlichen Zustand wie die anderen sein mußte, die verstreut um sie herumlagen.
Elia beharrte nicht weiter darauf. Er erhob sich, wuchtete einen Leichnam auf seine Schultern und trug ihn in die Mitte des Platzes. Er konnte sich nicht mehr an die Gebote des Herrn zur Bestattung der Toten erinnern. Er mußte alles tun, um die Pest zu verhindern, und die einzige Lösung war, die Leichen zu verbrennen.
Er arbeitete den ganzen Vormittag lang. Der Junge verließ seinen Platz nicht und blickte nicht ein Mal auf, doch er hielt das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte: Keine einzige Träne fiel auf den Boden Akbars.
Eine Frau blieb stehen, sah Elia eine Weile zu.
»Der Mann hat die Probleme der Lebenden gelöst, jetzt räumt er die Toten weg«, meinte sie.
»Wo sind die Männer von Akbar?« fragte Elia.
»Sie sind gegangen und haben das Wenige, das noch übrig war, mitgenommen. Es gibt nichts mehr, wofür es sich zu bleiben lohnt. Geblieben sind nur die, die nicht weggehen konnten: die Alten, die Witwen und die Waisen.« »Aber sie haben Generationen hier gelebt? Man darf doch nicht so leicht aufgeben!« »Versucht das einmal jemandem zu erklären, der alles verloren hat.« »Helft mir«, sagte Elia, indem er eine Leiche packte und sie auf den Scheiterhaufen warf. »Wir werden sie verbrennen, damit der Gott der Pest uns nicht aufsucht. Er fürchtet sich vor dem Geruch verbrannten Fleisches.« Elia machte seine Arbeit weiter. Die Frau setzte sich neben den Jungen und sah ihm zu. Nach einer Weile stand sie auf und ging zu ihm.
»Warum wollt Ihr eine verdammte Stadt retten?« »Wenn ich mit meiner Arbeit innehalte, um darüber nachzudenken, werde ich außerstande sein, weiterzumachen wie ich will«, antwortete er.
Der alte Hirte hatte recht: Der einzige Ausweg war, die eigene Vergangenheit voller Ungewißheiten zu vergessen und eine neue Geschichte für sich selbst zu schaffen. Der Prophet war mit einer Frau zusammen in den Flammen ihres Hauses gestorben. Jetzt war er ein Mann ohne Glauben an Gott und voller Zweifel. Doch er lebte, selbst nachdem er den göttlichen Fluch heraufbeschworen hatte. Wenn er seinen Weg fortsetzen wollte, mußte er das tun, was er sich vorgenommen hatte.
Die Frau suchte sich einen etwas leichteren Körper und zog ihn an den Füßen zum Scheiterhaufen, den Elia begonnen hatte.
»Ich tue das nicht, weil ich den Gott der Pest fürchte«, sagte sie. »Und auch nicht für Akbar, denn die Assyrer werden bald zurückkehren. Ich tue es wegen des Jungen mit dem hängenden Kopf, der dort hinten sitzt. Er muß begreifen, daß er noch ein Leben vor sich hat.« »Danke«, sagte Elia.
»Dankt mir nicht. Irgendwo unter diesen Ruinen liegt der Leichnam meines Sohnes. Er war etwa so alt wie der Junge.« Sie legte die Hand über ihr Gesicht und weinte. Elia berührte sie vorsichtig am Arm.
»Der Schmerz, den Ihr und ich fühlen, wird niemals vergehen, doch die Arbeit wird uns helfen, ihn zu ertragen. Das Leiden hat nicht die Kraft, einen müden Körper zu verletzen.« Sie verbrachten den ganzen Tag mit ihrer makabren Arbeit, die Leichen einzusammeln und aufzuschichten. Die meisten waren junge Männer, die von den Assyrern für einen Teil des Heeres von Akbar gehalten worden waren. Mehr als einmal erkannte er Freunde und weinte. Doch seine Arbeit unterbrach er nicht.
Am Ende des Nachmittags waren sie erschöpft. Trotzdem war ihre Arbeit noch längst nicht fertig. Kein anderer Bewohner Akbars hatte mitgeholfen.
Die beiden kehrten zum Jungen zurück. Zum ersten Mal hob er den Kopf.
»Ich habe Hunger«, sagte er.
»Ich hole etwas«, antwortete die Frau. »Es sind genug Nahrungsmittel in den Häusern von Akbar versteckt: Wir hatten uns auf eine lange Belagerung vorbereitet.« »Nehmt Euch Nahrung für mich und für Euch, denn wir haben im Schweiße unseres Angesichts etwas für die Stadt getan«, sagte Elia. »Doch wenn dieser Junge etwas essen will, dann soll er sich selbst darum kümmern.« Die Frau verstand ihn. Sie wäre mit ihrem Sohn genauso verfahren. Sie ging zu der Stelle, wo einst ihr Haus gelegen war. Beinahe alles war von den Plünderern auf der Suche nach wertvollen Gegenständen auf den Kopf gestellt worden, und ihre Sammlung von Vasen, die von den großen Glasbläsermeistern Akbars gemacht worden waren, lag in Scherben auf dem Boden. Doch sie fand die getrockneten Früchte und das Mehl, das sie gehortet hatte.
Sie kehrte zum Platz zurück und teilte die Nahrung mit Elia. Der Junge schwieg.
Ein alter Mann kam hinzu.
»Ich habe gesehen, daß ihr den ganzen Tag lang Leichen zusammengetragen habt«, sagte er. »Ihr verliert bloß eure Zeit.
Wißt ihr denn nicht, daß die Assyrer zurückkommen werden, wenn sie Tyrus und Sidon erobert haben? Soll doch der Gott der Pest hier wohnen, um sie zu vernichten.« »Wir tun das weder für sie noch für uns«, entgegnete Elia. »Sie arbeitet, um ein Kind zu lehren, daß es eine Zukunft gibt. Und ich tue es, um zu zeigen, daß es mehr gibt als nur die Vergangenheit.« »Der Prophet ist keine Bedrohung für die große Prinzessin aus Tyrus: Das ist aber eine Überraschung! Isebel wird in Israel bis ans Ende ihrer Tage das Szepter führen, und es wird für uns immer einen Zufluchtsort geben, wenn die Assyrer nicht großherzig mit den Besiegten umgehen.« Elia sagte darauf nichts. Der Name, der einst so viel Haß in ihm geweckt hatte, klang ihm nun seltsam fern.
»Akbar wird so oder so wieder aufgebaut«, beharrte der Alte.
»Die Götter wählen den Platz aus, an dem die Städte errichtet werden, und sie lassen die Stadt nicht im Stich.
Doch wir können diese Arbeit kommenden Generationen überlassen.« »Das könnten wir. Aber wir tun es nicht.« Elia wandte dem Alten den Rücken zu und beendete so das Gespräch.
Die drei schliefen unter freiem Himmel. Die Frau nahm den Jungen in den Arm und spürte, daß sein Magen vor Hunger knurrte. Sie fragte sich, ob sie ihm nicht etwas zu essen geben sollte, doch sie entschied sich dagegen. Die körperliche Müdigkeit minderte tatsächlich den Schmerz, und dieser Junge, der gewiß unendlich litt, mußte eine Beschäftigung haben.
Vielleicht würde ihn der Hunger zum Arbeiten bringen.
Am darauffolgenden Tag nahmen Elia und die Frau ihre Arbeit wieder auf. Der Alte vom Vorabend gesellte sich zu ihnen.
»Ich habe nichts zu tun und könnte euch helfen«, sagte er.
»Doch ich bin schwach und kann keine Leichen schleppen.« »Dann sammelt kleine Holzstücke und Backsteine. Fegt die Asche zusammen.« Der Alte machte sich an die Arbeit.
Als die Sonne die Mitte des Himmels erreicht hatte, setzte sich Elia erschöpft auf die Erde. Er wußte, daß sein Engel bei ihm war, doch er konnte ihn nicht mehr hören. >Wozu? Er war unfähig, mir zu helfen, als ich ihn brauchte, und jetzt will ich seine Ratschläge nicht mehr. Ich muß nur diese Stadt wieder in Ordnung bringen, Gott die Stirn bieten und dann dahin ziehen, wohin ich will.< Jerusalem lag nicht weit entfernt. Es waren nur sieben Tage zu Fuß durch unwegsames Gebiet. Doch dort wurde er als Verräter gesucht. Vielleicht ging er besser nach Damaskus oder suchte sich eine Arbeit als Schreiber in einer griechischen Stadt.
Er fühlte, daß jemand ihn berührte. Er wandte sich um und sah den Jungen mit einem kleinen Gefäß.
»Ich habe es in einem der Häuser gefunden«, sagte der Junge.
Es war mit Wasser gefüllt. Elia trank es ganz aus.
»Iß etwas«, sagte er. »Du arbeitest und verdienst eine Belohnung.« Zum ersten Mal seit der Nacht der Invasion erschien ein Lächeln auf den Lippen des Jungen, der wie der Blitz dorthin lief, wo die Frau das Obst und das Mehl verwahrt hatte.