»Die Tapferen sind immer starrsinnig.« Vom Himmel lächelte der Herr zufrieden – weil es genau dies war, was Er wollte, nämlich daß jeder die Verantwortung für sein Leben in die eigenen Hände nahm. Schließlich war dies ja die größte Gabe, die er Seinen Kindern gegeben hatte: Die Fähigkeit, selbst zu wählen und zu bestimmen.

Nur Männer und Frauen mit der heiligen Flamme im Herzen hatten den Mut, sich Ihm zu stellen. Und nur sie kannten den Weg, der zurück zu Seiner Liebe führte, weil sie am Ende begriffen hatten, daß das Unglück keine Strafe, sondern eine Herausforderung war.

Elia sah sich einen jeden seiner Schritte noch einmal an: Als er das Tischlerhandwerk aufgab, hatte er seine Mission widerspruchslos auf sich genommen. Auch wenn sie echt war – und er fand, daß sie es war –, hatte er indes nie die Gelegenheit gehabt, zu sehen, was auf den Wegen geschah, die er sich zu gehen geweigert hatte. Weil er Angst hatte, seinen Glauben, seinen Eifer, seinen Willen zu verlieren. Er hielt es für riskant, den Weg der gewöhnlichen Menschen zu gehen – weil er sich daran gewöhnen und ihm letztlich das gefallen könnte, was er sah. Er begriff nicht, daß er ein Mensch wie jeder andere war, obwohl er die Engel hörte und hin und wieder von Gott Befehle erhielt. Er war so überzeugt davon zu wissen, was er wollte, daß er sich genauso verhalten hatte wie jene, die nie in ihrem Leben eine wichtige Entscheidung getroffen hatten.

Er war vor dem Zweifel geflohen. Vor der Niederlage. Vor den Augenblicken der Unentschlossenheit. Doch der Herr war großmütig und hatte ihn zum Abgrund des Unabwendbaren geführt, um ihm zu zeigen, daß der Mensch sein Schicksal erwählen und nicht einfach annehmen muß.

Vor vielen Jahren, in einer Nacht wie dieser, hatte Jakob Gott nicht gehen lassen, bevor er ihn nicht gesegnet hatte. Das war, als Gott ihn gefragt hatte: »Wie heißt du?« Das war das Problem. Einen Namen zu haben. Als Jakob ihm geantwortet hatte, hatte ihn Gott auf den Namen Israel getauft.

Jeder hat einen Namen, der ihm als Säugling gegeben wurde, doch er muß lernen, sein Leben mit dem Wort zu taufen, das er erwählt hat, um ihm einen Sinn zu geben.

»Ich bin Akbar«, hatte sie gesagt.

Die Zerstörung der Stadt, der Verlust der geliebten Frau waren notwendig gewesen, damit Elia begriff, daß er einen Namen brauchte. In diesem Augenblick nannte er sein Leben Befreiung.

Er erhob sich und schaute auf den Platz vor ihm: Noch immer stieg Rauch aus der Asche der Verstorbenen. Indem er Feuer an die Leichname gelegt hatte, hatte er einen sehr alten Brauch seines Landes in Frage gestellt, der verlangte, daß Menschen den Ritualen entsprechend beerdigt werden mußten. Er hatte mit Gott und der Tradition gekämpft, als er sich für die Verbrennung entschieden hatte, doch er fühlte, daß darin keine Sünde lag, wenn man eine neue Lösung für ein neues Problem brauchte. Gott war unendlich barmherzig – und schonungslos gegen alle, die nicht den Mut zum Wagnis hatten.

Er blickte abermals auf den Platz. Einige der Überlebenden schliefen noch immer nicht und starrten in die Flammen, als hätte dieses Feuer auch ihre Erinnerungen, ihre Vergangenheit, die zweihundert Jahre Frieden in Akbar verbrannt. Die Zeit der Angst und des Wartens war vorüber. Jetzt gab es nur entweder den Wiederaufbau oder die Niederlage.

Wie Elia konnten auch sie einen Namen für sich finden.

Versöhnung, Weisheit, Geliebter, Pilger. Es gab so viele Möglichkeiten wie Sterne am Himmel, doch jeder mußte seinem Leben einen Namen geben.

Elia betete: »Herr, ich habe gegen Dich gekämpft und schäme mich dessen nicht. Und deshalb habe ich entdeckt, daß ich auf meinem Weg bin, weil ich es so wollte, und nicht, weil es mir von meinen Eltern, von den Traditionen meines Landes oder von Dir auferlegt wurde.

Zu Dir, Herr, möchte ich in diesem Augenblick zurückkehren.

Ich möchte Dich mit der ganzen Kraft meines Willens loben und nicht aus Feigheit, weil ich keinen anderen Weg weiß. Dennoch muß ich weiter gegen Dich kämpfen, bis Du mich segnest, damit Du mir Deine wichtige Mission anvertraust.« Akbar wieder aufbauen. Was Elia für eine Herausforderung an Gott gehalten hatte, war in Wahrheit eine Wiederbegegnung mit Ihm.

Die Frau, die ihn nach etwas zu essen gefragt hatte, kam am nächsten Morgen in Begleitung von zwei weiteren Frauen wieder.

»Wir haben verschiedene Lager gefunden«, sagte sie. »Da viele gestorben und viele mit dem Stadthauptmann geflohen sind, ist genügend Nahrung da, um ein Jahr lang zu überleben.« »Findet alte Leute, die die Verteilung der Lebensmittel überwachen«, sagte er. »Sie haben Erfahrung im Organisieren.« »Die Alten wollen nicht mehr leben.« »Bittet sie dennoch zu kommen.« Die Frau wandte sich zum Gehen, als Elia sie fragte: »Könnt Ihr die Buchstaben benutzen?« »Nein.« »Ich habe es gelernt und kann es Euch beibringen. Ihr werdet es brauchen, um mir bei der Verwaltung der Stadt zu helfen.« »Aber die Assyrer werden zurückkommen.« »Wenn sie kommen, brauchen sie Hilfe bei der Verwaltung der Stadt.« »Warum wollt Ihr das für den Feind tun?« »Ich tue dies, damit jeder seinem Leben einen Namen geben kann. Der Feind ist nur ein Vorwand, um unsere Kraft auszuloten.« Die Alten kamen – genau wie er vorausgesagt hatte.

»Akbar braucht eure Hilfe«, sagte Elia. »Und deshalb könnt ihr euch nicht einfach dem Altsein hingeben. Wir brauchen die Jugend, die ihr verloren habt.« »Wir wissen nicht, wo wir sie finden können«, entgegnete einer von ihnen. »Sie ist hinter den Runzeln und den Enttäuschungen verschwunden.« »Das ist nicht wahr. Ihr hattet niemals Illusionen, und das ist der Grund, weshalb sich die Jugend verborgen hat. Jetzt ist der Augenblick gekommen, sie zu suchen, denn wir haben einen gemeinsamen Traum: den Wiederaufbau von Akbar.« »Wie können wir etwas so Unmögliches tun?« »Mit Begeisterung.« Die von der Traurigkeit und der Mutlosigkeit verschleierten Augen wollten wieder leuchten. Sie waren nicht mehr die nutzlosen Bewohner, die an den Gerichtsversammlungen teilnahmen, weil sie ein Gesprächsthema für den Abend brauchten. Sie hatten jetzt eine wichtige Aufgabe vor sich und wurden gebraucht.

Die Kräftigsten trennten das noch nutzbare Material der zerstörten Häuser von den Trümmern und benutzten es, um die Häuser wieder aufzubauen, die noch standen. Die ältesten halfen dabei, die Asche der Leichname, die verbrannt worden waren, auf den Feldern zu zerstreuen, damit bei der nächsten Ernte der Toten der Stadt gedacht werden konnte. Andere wiederum machten sich daran, das überall in der Stadt verstreute Getreide auszusortieren, Brot zu backen und Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen.

Zwei Nächte darauf versammelte Elia alle Bewohner auf dem Platz, der jetzt von den meisten Trümmern geräumt war. Einige Fackeln wurden entzündet, und er begann zu sprechen.

»Wir haben keine Wahl«, sagte er. »Wir können diese Arbeit dem Feind überlassen. Doch das heißt auch, daß wir auf die einzige Chance verzichten, die uns ein Unglück schenkt: unser Leben neu aufzubauen.

Die Asche der Toten, die wir vor einigen Tagen verbrannt haben, wird sich in Pflanzen verwandeln, die im Frühjahr wieder wachsen werden. Der Sohn, den ihr in der Nacht der Invasion verloren habt, ist zu den vielen Kindern geworden, die frei durch die zerstörten Straßen laufen und sich damit vergnügen, verbotene Orte und Häuser auszukundschaften, die sie nicht kannten. Bis zu diesem Augenblick konnten die Kinder das Gewesene überwinden, weil sie keine Vergangenheit haben – was zählt, ist die Gegenwart. Laßt uns also versuchen, so wie sie zu handeln.« »Kann ein Mensch den Schmerz eines Verlustes aus dem Herzen tilgen?« »Nein. Doch er kann sich über einen Gewinn freuen.« Elia wandte sich um und wies auf den Gipfel des Fünften Bergs, der wie immer in den Wolken lag. Die Zerstörung der Mauern hatte dazu geführt, daß er von der Mitte des Platzes aus zu sehen war.

»Ich glaube an einen einzigen Gott, doch ihr denkt, daß die Götter in jenen Wolken auf dem Gipfel des Fünften Bergs wohnen. Ich will jetzt nicht darüber streiten, ob mein Gott stärker oder mächtiger ist. Ich will nicht über das sprechen, was uns unterscheidet, sondern über das, worin wir uns gleichen.