XXV
Der Garten lag in silbrigem Licht. Veilchen dufteten. Die Obstbäume an der Südwand standen, als seien sie überflogen von rosa und weißen Schmetterlingen.
Alfred ging voran. Drei Mann folgten. Sie gingen leise. Alfred deutete auf den Stall.
Die drei Amerikaner verteilten sich lautlos.
Alfred stieß die Tür auf.»Neubauer«, sagte er.»Kommen Sie 'raus!«
Ein Grunzen antwortete aus der warmen Dunkelheit.»Was? Wer ist da?«
»Kommen Sie 'raus.«
»Was? Alfred – ist das Alfred?«
»Ja.«
Neubauer grunzte wieder.»Verdammt! Schwer gepennt! Geträumt.«Er räusperte sich.
»Blödsinn geträumt. Sagtest du 'raus zu mir?«
Einer der Soldaten war geräuschlos neben Alfred getreten. Eine Taschenlampe blitzte auf.»Hände hoch! Kommen Sie heraus!«
Im fahlen Kreis des Lichtes sah man ein Feldbett, auf dem Neubauer halb ausgezogen saß. Er glotzte, aus puffigen Augen zwinkernd, in den scharfen Kreis.»Was?«sagte er verquollen.»Was ist das? Wer sind Sie?«
»Hände hoch!«sagte der Amerikaner.»Sie heißen Neubauer?«
Neubauer hob halb die Hände und nickte.
»Kommandant des Konzentrationslagers Meilern?«
Neubauer nickte wieder.
»Kommen Sie 'raus!«
Neubauer sah die dunkle Mündung der automatischen Pistole auf sich gerichtet. Er stand auf und hob die Hände so rasch hoch, daß die Finger gegen die niedrige Decke des Schuppens stießen.
»Ich bin nicht angezogen.«
»'raus!«
Neubauer kam zögernd heran. Er war in Hemd; Hose und Stiefeln. Grau und verschlafen stand er da. Einer der Soldaten tastete ihn rasch ab.
Neubauer sah Alfred an.»Du hast sie hierher geführt?«
»Ja.«
»Judas!«
»Sie sind kein Christus, Neubauer«, erwiderte Alfred langsam.»Und ich bin kein Nazi.«
Der Amerikaner, der im Schuppen gewesen war, kam zurück. Er schüttelte den Kopf.
»Vorwärts«, sagte der, der deutsch sprach. Er war ein Korporal.
»Kann ich meinen Rock anziehen?«fragte Neubauer.»Er hängt im Schuppen. Hinter dem Kaninchenstall.«
Der Korporal zögerte einen Augenblick. Dann ging er und kam mit einer l Ziviljacke wieder.
»Nicht die, bitte«, erklärte Neubauer.»Ich bin Soldat. Meine Uniformjacke, bitte.«
»Sie sind kein Soldat.«
Neubauer blinkte.»Es ist meine Parteiuniform.«
Der Korporal ging zurück und brachte die Uniformjacke. Er tastete sie ab und gab sie Neubauer.
Der zog sie an, knöpfte sie zu, reckte sich und sagte:»Obersturmbannführer Neubauer. Stelle mich zur Verfügung.«
»Gut, gut. Vorwärts.«
Sie gingen durch den Garten. Neubauer merkte, daß er die Jacke falsch zugeknöpft hatte. Er öffnete sie noch einmal und brachte die Knöpfe in Ordnung. Alles war schiefgegangen im letzten Augenblick. Weber, der Verräter, hatte ihm mit seiner Brandstiftung eins auswischen wollen. Er hatte eigenmächtig gehandelt, das ließ sich leicht beweisen. Neubauer war abends nicht mehr im Lager gewesen. Er hatte es über das Telefon erfahren. Immerhin, eine verflucht bittere Geschichte, gerade jetzt. Und dann Alfred, der zweite Verräter. Er war einfach nicht gekommen. Neubauer hatte ohne Auto dagestanden, als er im Auto fliehen wollte. Die Truppen waren schon fort – in die Wälder konnte er nicht laufen -, da hatte er sich im Garten versteckt. Hatte gedacht, da würden sie ihn nie suchen. Er hatte sich noch rasch die Hitler-Schnurrbartbürste abrasiert. Alfred, der Lump!
»Setzen Sie sich hierher«, sagte der Korporal und zeigte auf einen Sitz.
Neubauer kletterte in den Wagen. Das ist wahrscheinlich das, was sie ein Jeep nennen, dachte er.
Die Leute waren nicht unfreundlich. Korrekt, eher. Der eine war vielleicht ein Deutschamerikaner.
Man hatte da von deutschen Brüdern im Auslande gehört. Der Bund, oder so ähnlich.
»Sie sprechen gut Deutsch«, sagte er vorsichtig.
»Natürlich«, erwiderte der Korporal kalt.»Ich bin aus Frankfurt.«
»Oh -«, erwiderte Neubauer. Es schien wirklich ein verdammt schlechter Tag zu sein.
Die Kaninchen waren auch gestohlen worden. Als er in den Stall gekommen war, hatten die Käfigtüren offengestanden. Es war ein böses Zeichen gewesen. Sie brutzelten wahrscheinlich jetzt schon über dem Feuer irgendeines Rohlings.
Das Lagertor stand weit offen. Roh zurechtgemachte Flaggen hingen vor den Baracken. Der große Lautsprecher brachte Bekanntmachungen. Einer der Lastwagen mit Kannen voll Milch war zurückgekehrt.
Der Wagen mit Neubauer hielt vor der Kommandantur. Ein amerikanischer Oberst stand dort mit einigen Offizieren und erteilte Weisungen. Neubauer stieg aus, zupfte seinen Rock zurecht und trat vor.»Obersturmbannführer Neubauer. Stelle mich hiermit zur Verfügung.«Er grüßte militärisch; nicht mit dem Hitlergruß.
Der Oberst sah auf den Korporal. Der Korporal übersetzte.»Is this the son of a bitch?«fragte der Oberst.
»Yes, Sir.«
»Put him to work over there. Shoot him, if he makes a false move.«
Neubauer hatte angestrengt zugehört.»Los«, sagte der Korporal.»Arbeiten. Tote fortbringen.«
Neubauer hatte immer noch auf etwas anderes gehofft.»Ich bin Offizier«, stammelte er.»Im Rang eines Obersten.«
»Um so schlimmer.«
»Ich habe Zeugen! Ich war menschlich! Fragen Sie die Leute!«
»Ich glaube, wir werden ein paar Mann brauchen, damit Ihre Leute Sie nicht in Stücke reißen«, erwiderte der Korporal.»Mir wäre es recht. Los, vorwärts!«
Neubauer warf noch einen Blick auf den Obersten. Der beachtete ihn schon nicht mehr. Er wandte sich um. Zwei Mann gingen neben ihm; der dritte hinter ihm.
Nach ein paar Schritten war er erkannt. Die drei Amerikaner rückten ihre Schultern zurecht. Sie erwarteten den Sturm und schlössen sich eng um Neubauer. Neubauer begann zu schwitzen. Er starrte gerade vor sich hin und ging, als wollte er gleichzeitig schneller und langsamer gehen.
Aber es geschah nichts. Die Gefangenen blieben stehen und sahen Neubauer an. Sie stürzten nicht auf ihn zu; sie machten eine Gasse für ihn. Keiner kam heran. Keiner sagte etwas. Keiner schrie ihn an. Niemand warf einen Stein nach ihm. Kein Knüppel fiel auf ihn. Sie sahen ihn nur an. Sie bildeten eine Gasse und sahen ihn an, den ganzen, langen Weg bis zum Kleinen Lager. Neubauer hatte anfangs aufgeatmet; dann begann er stärker zu schwitzen. Er murmelte etwas. Er sah nicht auf; aber er fühlte die Augen auf sich. Er spürte sie auf sich wie unzählige Gucklöcher in einer riesigen Gefängnistür – als sei er bereits eingesperrt, und alle Augen beobachteten ihn kalt und aufmerksam. Ihm wurde heißer und heißer. Er ging schneller. Die Augen blieben auf ihm. Sie wurden stärker. Er spürte sie auf seiner Haut. Sie waren Blutegel, die Blut saugten. Er schüttelte sich. Aber er konnte sie nicht abschütteln. Sie kamen durch seine Haut. Sie hingen an seinen Adern.»Ich habe -«, murmelte er.»Pflicht – ich habe nichts – ich war – immer – was wollen die bloß -?«Er war naß, als sie an den Platz kamen, wo Baracke 22 gestanden hatte. Sechs SS-Leute, die eingefangen waren, arbeiteten dort mit einigen Kapos. Amerikanische Soldaten standen mit Tommyguns in der Nähe. Neubauer blieb mit einem Ruck stehen. Er sah eine Anzahl schwarzer Skelette vor sich auf dem Boden.»Was – ist denn das -?«»Stellen Sie sich nicht so dumm«, erwiderte der Korporal grimmig.»Das ist die Baracke, die ihr angezündet habt. Da müssen noch mindestens dreißig Tote drin liegen. Vorwärts, Knochen heraussuchen!«»Das – habe ich nicht befohlen -«»Natürlich nicht.«»Ich war nicht hier – davon weiß ich nichts. Das haben andere eigenmächtig getan -«»Natürlich. Immer andere. Und die, die hier in all den Jahren verreckt sind? Das waren Sie auch nicht, was?«»Das war Befehl. Pflicht -«Der Korporal wendete sich an einen Mann, der neben ihm stand.»Das werden in den nächsten Jahren zwei häufige Worte hier sein: Ich habe auf Befehl gehandelt, und: Ich habe nichts davon gewußt.«Neubauer hörte ihn nicht.»Ich habe immer versucht, das Beste zu tun -«»Das«, sagte der Korporal bitter,»wird das dritte sein! Los!«schrie er plötzlich.»Fassen Sie an! Holen Sie die Toten heraus! Glauben Sie, es ist einfach, Sie nicht zu Brei zu schlagen?«Neubauer bückte sich und begann unsicher in den Trümmern zu wühlen. Man brachte sie in Karren, auf rohen Bahren, gestützt von Kameraden, sich gegenseitig stützend man lagerte sie in den Korridoren der SS-Kaserne, nahm ihnen die verlausten Fetzen ab, mit denen sie noch bekleidet waren, und verbrannte die Lumpen – dann brachte man sie in die Baderäume der SS. Viele begriffen nicht, was man mit ihnen tun wollte; sie saßen und lagen stumpf in den Gängen. Erst als der Dampf aus den geöffneten Türen drang, wurden manche lebendig. Sie begannen zu krächzen und angstvoll zurückzukriechen.»Baden! Baden!«schrieen ihre Gefährten.»Ihr sollt gebadet werden.«Es nützte nichts. Die Skelette verklammerten sich ineinander und wimmerten und schoben sich wie Krabben dem Ausgang zu. Es waren die, die Baden und Dampf nur kannten als Worte für Gaskammern. Man zeigte ihnen Seife und Handtücher; es half nichts. Sie hatten auch das schon gesehen. Man hatte es benützt, um Gefangene leichter in die Gaskammern zu bekommen; mit einem Stück Seife und einem Handtuch in den Händen waren sie verröchelt. Erst als man den ersten Schub gereinigter Insassen an ihnen vorübertrug und diese ihnen mit Nicken und Worten bestätigten, daß es heißes Wasser und Baden sei und kein Gas, beruhigten sie sich.