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Vier, fünf konnte man in der Kiste lassen. Eventuell dem Gegner präsentieren. Eine gute Zigarre überbrückte vieles.

Er tat ein paar Züge. Wenn die Gegner nun das Lager sehen wollten? Gut. Wenn ihnen etwas nicht paßte – er hatte nur auf Befehl gehandelt. Soldaten verstanden das.

Blutenden Herzens oft. Aber – Ihm fiel plötzlich etwas ein. Essen, gutes, reichliches Essen! Das war es! Danach sah man immer zuerst. Er mußte sofort anordnen, daß die Rationen erhöht würden.

Damit konnte er zeigen, daß er gleich, als er keine Befehle mehr hatte, alles für die Häftlinge getan hatte, was möglich war. Er würde es den beiden Lagerältesten sogar persönlich sagen. Das waren selbst Häftlinge. Die würden dann für ihn zeugen.

Steinbrenner stand vor Weber. Sein Gesicht glänzte vor Eifer.»Zwei Häftlinge beim Fluchtversuch erschossen«, meldete er.»Beides Kopfschüsse.«

Weber erhob sich langsam und setzte sich nachlässig auf die Ecke seines Tisches.

»Auf welche Entfernung?«

»Einen auf dreißig, den anderen auf vierzig Meter.«

»Wirklich?«

Steinbrenner wurde rot. Er hatte beide Häftlinge auf eine Entfernung von wenigen Metern erschossen – gerade weit genug entfernt, damit die Wunden keine Pulverränder zeigen konnten.

»Und es war ein Fluchtversuch?«fragte Weber»Zu Befehl.«

Beide wußten, daß es kein Fluchtversuch gewesen war. Es war nur der Name für ein beliebtes Spiel der SS. Man nahm die Mütze eines Sträflings, warf sie hinter sich und befahl ihm, sie wiederzuholen. Passierte er einen dabei, so erschoß man ihn von hinten wegen Fluchtversuchs. Der Schütze bekam dafür gewöhnlich einige Tage Urlaub.

»Willst du auf Urlaub?«fragte Weber.»Nein.«

»Warum nicht?«

»Das sähe aus, als wollte ich mich drücken.«

Weber hob die Augenbrauen und begann langsam das Bein zu wippen, mit dem er auf dem Tisch saß. Der Reflex der Sonne auf dem hin und her pendelnden Stiefel irrte über die kahlen Wände wie ein heller, einsamer Schmetterling.»Du hast also keine Angst?«»Nein.«Steinbrenner blickte Weber fest an.»Gut. Wir brauchen gute Leute. Besonders jetzt.«Weber hatte Steinbrenner schon längere Zeit beobachtet. Er gefiel ihm. Er war sehr jung und hatte noch etwas von dem Fanatismus, für den die SS einmal berühmt gewesen war.»Besonders jetzt«, wiederholte Weber.»Wir brauchen jetzt eine SS der SS. Verstehst du das?«»Jawohl. Ich glaube wenigstens.«Steinbrenner errötete wieder. Weber war sein Vorbild. Er hatte für ihn eine blinde Verehrung – so wie ein Knabe für einen Indianerhäuptling. Er hatte von Webers Mut in den Saalschlachten von 1933 gehört; er wußte, daß er 1929 an der Ermordung von fünf kommunistischen Arbeitern beteiligt gewesen war und dafür vier Monate im Gefängnis gesessen hatte – die Arbeiter waren nachts aus ihren Betten geholt und vor den Augen ihrer Angehörigen tot«getrampelt worden. Er kannte auch die Erzählungen von Webers brutalen Verhören bei der Gestapo und von seiner Rücksichtslosigkeit mit Staatsfeinden. Alles, was er sich wünschte, war, ebenso zu werden wie sein Ideal. Er war aufgewachsen mit den Lehren der Partei. Er war sieben Jahre alt gewesen, als der Nationalsozialismus zur Macht kam, und das vollkommene Produkt seiner Erziehung.»Es sind viel zu viele ohne genaue Prüfung in die SS gekommen«, sagte Weber.»Jetzt fängt die Auslese an. Jetzt wird sich zeigen, was Klasse ist. Die faulen, schönen Zeiten sind vorbei. Weißt du das?«»Jawohl.«Steinbrenner stand stramm.»Wir haben hier bereits ein Dutzend guter Leute. Mit der Lupe ausgesucht.«Weber blickte Steinbrenner prüfend an.»Komm heute abend um halb neun hierher. Wir werden dann weitersehen.«Steinbrenner machte begeistert kehrt und marschierte ab. Weber stand auf und ging um den Tisch herum. Einer mehr, dachte er. Genug bereits, um dem Alten noch im letzten Augenblick gründlich seine Tour zu verderben. Er grinste. Er hatte längst gemerkt, daß Neubauer versuchen wollte, als saubergewaschener Engel dazustehen und alles auf ihn abzuwälzen. Das letzte war ihm gleich; er hatte genug auf dem Kerbholz – aber er liebte keine saubergewaschenen Engel.

Der Nachmittag schlich dahin. Die SS kam kaum noch ins Lager. Sie wußte nicht, daß die Häftlinge Waffen hatten, und sie war auch nicht deswegen vor«nichtig. Selbst mit hundertmal soviel Revolvern hätten die Gefangenen irrt offenen Kampf keine Chance gehabt gegen die Maschinengewehre. Es war einfach die Menge der Häftlinge, vor der die SS plötzlich zurückscheute. Um drei Uhr wurden durch den Lautsprecher die Namen von zwanzig Gefangenen bekanntgegeben – sie sollten sich in zehn Minuten am Tor einfinden, es konnte alles bedeuten – ein Verhör, Post oder den Tod. Die geheime Häftlingsleitung ließ alle zwanzig aus ihren Baracken verschwinden; sieben im Kleinen Lager. Der Befehl wurde wiederholt. Alle aufgerufenen Gefangenen waren politisch. Niemand befolgte den Befehl. Es war das erstemal, daß das Lager offen den Gehorsam verweigerte. Kurz darauf wurden sämtliche Häftlinge zum Appellplatz beordert. Die geheime Lagerleitung gab die Parole aus, in den Baracken zu bleiben. Auf dem Appellplatz konnten die Häftlinge leichter zusammengeschossen werden. Weber wollte die Maschinengewehre in Aktion setzen, traute sich aber noch nicht, so offen gegen Neubauer zu handeln. Die Lagerleitung der Gefangenen wußte durch die Schreibstube, daß der Befehl nicht von Neubauer, sondern allein von Weber gekommen war. Weber ließ durch den Lautsprecher erklären, daß das Lager kein Essen bekommen würde, ehe es nicht angetreten sei und die zwanzig politischen Gefangenen ausgeliefert hätte. Um vier Uhr nachmittags kam ein Befehl von Neubauer.

Die Lagerältesten sollten sofort zu ihm kommen. Sie folgten dem Befehl. Das Lager wartete in dumpfer Spannung, ob sie wiederkommen würden.

Sie kamen nach einer halben Stunde zurück. Neubauer hatte ihnen den Befehl für den Transport gezeigt. Es war bereits der zweite gewesen. Innerhalb einer Stunde sollten zweitausend Mann gestellt werden und das Lager verlassen. Neubauer hatte sich bereit erklärt, den Transport bis zum nächsten Morgen zu verschieben. Die geheime Lagerleitung trat sofort im Hospital zusammen. Sie erreichte zunächst, daß der SS-Arzt, Dr. Hoffmann, der umgefallen war, versprach, seinen Einfluß bei Neubauer zu benützen, die Meldung der zwanzig politischen Gefangenen ebenfalls bis zum nächsten Tage zu verschieben und den Appell abzusagen. Dadurch würde die Anordnung, kein Essen auszugeben, hinfällig werden. Der Arzt ging sofort. Die Lagerleitung beschloß, am nächsten Morgen auf keinen Fall Leute zum Transport zu stellen. Wenn die SS die zweitausend Mann zusammentreiben wollte, sollte sabotiert werden. Die Gefangenen sollten in Baracken und Straßen zu entkommen suchen. Der Lagerschutz, der aus Häftlingen bestand, wollte dabei behilflich sein. Es war anzunehmen, daß die SS, abgesehen von einem Dutzend Leuten, kein Interesse zeigen würde, sich durch allzu großen Diensteifer auszuzeichnen. Diese Meldung war durch den SS-Scharführer Bieder gekommen, der als zuverlässig galt. Als letztes kam ein Entschluß von zweihundert tschechischen Häftlingen. Sie erklärten sich bereit, als erste zu gehen, wenn der Transport doch gebildet würde, um zweihundert andere, die ihn nicht mehr aushaken könnten, zu retten. Werner hockte in einem Hospitalkittel neben der Fleckfieberabteilung.»Jede Stunde arbeitet für uns«, murmelte er.»Ist Hoffmann noch bei Neubauer?«»Ja.«»Wenn er nichts erreicht, müssen wir uns selbst helfen.«»Mit Gewalt?«fragte Lewinsky.»Nicht offen mit Gewalt. Halb mit Gewalt. Aber erst morgen. Morgen sind wir doppelt so stark wie heute.«Werner blickte aus dem Fenster und nahm dann seine Tabellen wieder vor.»Noch einmal. Wir haben Brot für vier Tage, wenn wir täglich eine Ration ausgeben. Mehl. Graupen, Nudeln sind -«

»Also gut, Herr Doktor. Ich werde es auf meine Kappe nehmen. Bis morgen.«Neubauer blickte dem Hospitalleiter nach und pfiff leise vor sich hin. Du auch, dachte er. Meinetwegen! Je mehr, desto besser. Können uns gegenseitig entlasten. Vorsichtig legte er den Transportbefehl in seine besondere Mappe. Dann tippte er auf der kleinen Reiseschreibmaschine seine Anordnung, den Transport zu verschieben, und fügte sie hinzu. Er öffnete das Safe, packte die Mappe hinein und schloß ab. Der Befehl war ein Glücksfall gewesen. Er holte die Mappe noch einmal hervor und öffnete die Schreibmaschine wieder. Langsam tippte er ein neues Memorandum -die Aufhebung von Webers Anordnung, kein Essen auszugeben. Dafür ein eigener Befehl fürreichliches Abendessen im Lager. Kleine Dinge – aber alle von Wert. In der SS-Kaserne herrschte eine gedrückte Stimmung. Der Oberscharführer Kammler überlegte verdrossen, ob er pensionsberechtigt sei und ob die Pension bezahlt werden würde; er war ein verkrachter Student und hatte nichts gelernt, um arbeiten zu können. Der SS-Mann und ehemalige Schlächtergeselle Florstedt grübelte darüber nach, ob wohl alle Leute tot seien, die er in den Jahren 1933 bis 1935 unter den Händen gehabt hatte. Er wünschte es. Von etwa zwanzig wußte er es. Er hatte sie selbst mit Peitschen, Tischbeinen und Ochsenziemern erledigt. Aber von etwa zehn anderen wußte er es nicht so genau. Der kaufmännische Angestellte, Scharführer Bolte, hätte gern von einem Fachmann erfahren, ob seine Unterschlagungen im Zivilberuf verjährt waren oder nicht. Niemann, der Abspritzer, hatte einen homosexuellen Freund in der Stadt, der versprochen hatte, ihm falsche Papiere zu besorgen; aber er traute ihm nicht und nahm sich vor, eine letzte Spritze für ihn bereitzuhalten. Der SS-Mann Duda beschloß, sich nach Spanien und Argentinien durchzuschlagen; er erwartete, daß man in solchen Zeiten immer Leute gebrauchen könne, die vor nichts zurückschreckten. Breuer tötete im Bunker den katholischen Vikar Werkmeister, indem er ihn langsam, mit Pausen, erdrosselte. Der Scharführer Sommer, ein sehr klein gewachsener Mensch, der eine besondere Freude daran gehabt hatte, groß gewachsene Häftlinge zu entsetztem Schreien zu bringen, war voll Wehmut wie ein verblühendes Mädchen nach den goldenen Tagen der Jugend. Ein halbes Dutzend anderer SS- Leute hoffte, die Häftlinge würden ihnen gute Zeugnisse ausstellen; einige glaubten noch an einen Sieg Deutschlands; andere waren bereit, zu den Kommunisten überzugehen; eine Anzahl war bereits überzeugt, nie wirkliche Nazis gewesen zu sein; viele dachten einfach gar nichts, weil sie es nie gelernt hatten. Fast alle aber hatten das Bewußtsein, daß sie stets auf Befehl gehandelt hatten und dadurch von jeder persönlichen und menschlichen Schuld frei waren.