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»Also doch ein Transport!«Rosen starrte hinter Berger her.»Sulzbacher hat recht gehabt. Wir hätten nicht über die Zukunft reden sollen. Es bringt Unglück.«

»Unsinn! Wir haben zu essen gekriegt. Berger ist gerettet worden. Es ist nicht sicher, ob Neubauer den Befehl weitergibt. Was willst du mit deinem Unglück? Willst du Garantien auf Jahre haben?«

»Kommt Berger wieder?«fragte jemand hinter 509.

»Er ist gerettet«, sagte Rosen bitter.»Er kommt nicht in den Transport.«

»Halt die Schnauze!«erwiderte 509 scharf. Dann wandte er sich um. Hinter ihm stand Karel.

»Natürlich kommt er wieder, Karel«, sagte er.»Warum bleibst du nicht in der Baracke?«

Karel zog die Schultern hoch.»Ich dachte, ihr hättet ein bißchen Leder zum Kauen.«

»Hier ist etwas Besseres«, sagte Ahasver. Er gab ihm sein Stück Brot und die Karotte.

Er hatte sie für ihn aufbewahrt.

Karel begann sehr langsam zu essen. Nach einer Weile sah er die Blicke der anderen.

Er stand auf und ging weg. Als er wiederkam, kaute er nicht mehr.»Zehn Minuten«, sagte Lebenthal und blickte auf seine Nickeluhr.»Eine gute Leistung, Karel. Bei mir hat es zehn Sekunden gedauert.«

»Können wir die Uhr nicht gegen Essen tauschen, Leo?«fragte 509.

»Heute nacht können wir nichts tauschen. Nicht einmal Gold.«

»Man kann Leber essen«, sagte Karel.

»Was?«

»Leber. Frische Leber. Wenn man sie gleich herausschneidet, kann man sie essen.«

»Wo herausschneidet?«

»Aus den Toten.«

»Woher hast du das, Karel?«fragte Ahasver nach einiger Zeit.

»Von Blatzek.«

»Von was für einem Blatzek?«

»Blatzek im Brünner Lager. Er sagte, es sei besser, als selber zu sterben. Die Toten seien tot und würden sowieso verbrannt. Er hat mir viel beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man sich tot stellt und wie man laufen muß, wenn hinter einem geschossen wird: Zickzack, unregelmäßig, auf und nieder. Auch wie man Platz zum Atmen im Massengrab behält und sich nachts ausgräbt. Blatzek wußte viel.«

»Du weißt auch genug Karel.«

»Natürlich. Sonst wäre ich nicht mehr hier.«

»Stimmt. Aber laßt uns an etwas anderes denken«, sagte 509.

»Wir müssen dem Toten noch Bergers Sachen anziehen.«

Es war leicht. Der Tote war noch nicht starr. Sie packten einige andere Leichen über ihn. Dann hockten sie sich wieder hin. Ahasver murmelte halblaut.»Du hast viel zu beten diese Nacht, Alter«, sagte Bucher finster.

Ahasver blickte auf. Er horchte einen Augenblick auf das ferne Rollen.»Als der erste Jude von ihnen erschlagen wurde, ohne daß Gericht über die Mörder gehalten wurde, haben sie das Gesetz des Lebens gebrochen«, sagte er langsam.»Sie haben gelacht.

Sie haben gesagt: Was sind schon ein paar Juden gegen das größere Deutschland? Sie haben weggesehen. Dafür werden sie jetzt von Gott geschlagen. Ein Leben ist ein Leben. Auch das ärmste.«Er begann wieder zu murmeln. Die anderen schwiegen. Es wurde kühler. Sie krochen enger zusammen.

Der Scharführer Breuer erwachte. Er knipste schlaftrunken die Lampe neben seinem Bett an. Im gleichen Moment leuchteten zwei grüne Lichter auf seinem Tisch auf. Es waren zwei kleine elektrische Birnen, die geschickt in den Augenhöhlen eines Totenschädels angebracht worden waren. Wenn Breuer noch einmal knipste, erloschen alle anderen Lampen – nur der Totenschädel leuchtete durch das Dunkel weiter. Es war ein interessanter Effekt. Breuer liebte ihn sehr. Auf dem Tisch standen ein Teller mit Kuchenkrümeln und eine geleerte Kaffeetasse. Daneben lagen ein paar Bücher – Abenteuerromane von Karl May. Breuers literarische Bildung erschöpfte sich damit und mit einem obszönen Privatdruck über die Liebesabenteuer einer Tänzerin. Gähnend richtete er sich auf. Er hatte einen schlechten Geschmack im Munde. Eine Weile lauschte er. Die Zellen im Bunker waren stumm. Niemand wagte zu jammern; Breuer hätte den Insassen schon Disziplin beigebracht. Er griff unter das Bett, holte eine Flasche Kognak hervor und langte ein Weinglas vom Tisch herunter. Er füllte es und trank es aus. Dann lauschte er wieder. Das Fenster war geschlossen: trotzdem glaubte er das Grollen der Geschütze zu hören. Er goß sich noch ein Glas ein und trank es. Dann stand er auf und blickte auf seine Uhr. Es war halb drei. Er zog seine Stiefel über seinen Pyjama. Er brauchte die Stiefel; er trat gern gegen Bäuche. Ohne Stiefel hatte das wenig Effekt. Der Pyjama war praktisch; der Bunker war sehr heiß. Breuer hatte genug Kohlen. Das Krematorium war schon knapp daran; aber Breuer hatte sich rechtzeitig einen Vorrat für seine Zwecke gesichert. Langsam ging er den Korridor entlang. Jede Zelle hatte ein Fenster, durch das man hineinsehen konnte. Breuer hatte das nicht nötig. Er kannte seine Menagerie, und er war stolz auf diesen Ausdruck. Ab und zu nannte er ihn auch seinen Zirkus; dann kam er sich mit seiner Peitsche wie ein Dompteur vor. Er ging die Zellen ab wie ein Weinliebhaber seinen Keller. Und so, wie ein Weinkenner den ältesten Wein wählt, so beschloß Breuer, seinen ältesten Gast für heute vorzunehmen. Es war Lübbe in Zelle 7. Er schloß sie auf. Die Zelle war klein und unerträglich heiß. Sie hatte einen sehr großen Zentralheizungskörper, der voll aufgedreht war An den Röhren war ein Mann mit Händen und Füßen angekettet. Er hing bewußtlos knapp über dem Boden. Breuer betrachtete ihn eine Zeitlang; dann holte er eine Gießkanne mit Wasser vom Korridor und besprengte den Mann wie eine verdorrte Pflanze. Das Wasser zischte auf den Heizungsröhren und verdampfte. Lübbe rührte sich nicht., Breuer schloß die Ketten auf. Die angebrannten Hände fielen nieder. Der Rest der Gießkanne sprühte über die Figur am Boden. Eine Wasserlache bildete sich. Breuer ging mit der Gießkanne hinaus, um sie noch einmal zu füllen. Draußen blieb er stehen. Zwei Zellen weiter stöhnte jemand. Er stellte die Kanne ab, schloß die zweite Zelle auf und ging gemächlich hinein. Man hörte ihn murmeln; dann kamen dumpfe Geräusche wie Tritte; dann Poltern, Klirren, Stoßen, Schieben und plötzlich gellende Schreie, die langsam in Röcheln übergingen. Noch ein paar dumpfe Aufschläge, und Breuer erschien wieder. Sein rechter Stiefel war naß. Er füllte die Gießkanne und schlenderte zurück zur Zelle 7.»Sieh da!«sagte er.»Aufgewacht!«

Lübbe lag flach am Boden, das Gesicht nach unten. Er versuchte, mit beiden Händen das Wasser auf dem Fußboden zusammenzuscharren, um es aufzulecken. Er bewegte sich ungeschickt, wie eine halbtote Kröte. Plötzlich sah er die volle Gießkanne. Mit einem leisen Krächzen bäumte er sich auf, warf sich herum und haschte danach.

Breuer trat ihm auf die Hände. Lübbe konnte sie nicht unter den Stiefeln fortziehen. Er reckte seinen Hals, so weit er konnte, zur Gießkanne hin; seine Lippen bebten, sein Kopf zitterte, und er krächzte mit großer Anstrengung.

Breuer betrachtete ihn mit den Augen des Fachmannes. Er sah, daß Lübbe fast fertig war.»Na, sauf schon«, knurrte er.»Sauf deine Henkersmahlzeit.«

Er grinste über seinen Witz und stieg von den Händen herunter. Lübbe warf sich über die Kanne mit solcher Hast, daß sie schwankte. Er glaubte nicht an sein Glück.»Sauf langsam«, sagte Breuer.

»Wir haben Zeit.«

Lübbe trank und trank. Er hatte Stufe sechs des Breuerschen Erziehung«-Programms hinter sich: Ernährung mit nichts anderem als Salzheringen und Salzwasser für einige Tage; dazu volle Hitze, angekettet an die Heizungsröhren.

»Schluß«, erklärte Breuer schließlich und riß die Kanne weg.»Steh auf. Komm mit.«

Lübbe stolperte hoch. Er lehnte an der Wand und erbrach Wasser.»Siehst du«, sagte Breuer.

»Ich habe dir gesagt, trink langsam. Marsch!«

Er stieß Lübbe vor sich her, den Korridor entlang, in sein Zimmer. Lübbe fiel hinein.

»Steh auf«, sagte Breuer.»Setz dich auf den Stuhl. Los.«

Lübbe kroch auf den Stuhl. Er schwankte und lehnte sich zurück und wartete auf die nächste Tortur. Er kannte nichts anderes mehr.