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Sie fanden ihn erst eine Stunde später. Sie hatten, nachdem die größte Erregung vorüber war, angefangen, nach ihm zu suchen. Bucher war schließlich auf den Gedanken gekommen, noch einmal nahe zur Baracke zu gehen und dort zu forschen, und hatte ihn dann hinter dem Haufen mit Leichen gefunden.

Er sah Lewinsky und Werner herankommen.»509 ist tot«, sagte er.»Erschossen. Weber auch.

Sie liegen beide zusammen drüben.«

»Erschossen? War er denn draußen?«

»Ja. Er war um die Zeit draußen.«

»Hatte er den Revolver bei sich?«

»Ja.«

»Und Weber ist auch tot? Dann hat er Weber erschossen«, sagte Lewinsky.

Sie hoben ihn an und legten ihn gerade hin. Dann drehten sie Weber um.

»Ja«, erklärte Werner.»Es sieht so aus. Er hat zwei Schüsse im Rücken.«

Er blickte umher und sah den Revolver.»Da ist er.«Er hob ihn auf.»Leer. Er hat ihn gebraucht.«

»Wir müssen ihn wegbringen«, sagte Bucher.

»Wohin? Es ist alles voll von Toten. Über siebzig sind verbrannt. Mehr als hundert verletzt. Laßt ihn einstweilen hier, bis Platz wird.«Werner sah Bucher abwesend an.

»Verstehst du etwas von Automobilen?«

»Nein.«

»Wir brauchen -«, Werner unterbrach sich.»Was rede ich da? Ihr seid ja vom Kleinen Lager. Wir brauchen noch Leute für die Lastwagen. Komm, Lewinsky!«

»Ja. Verdammt schade um den da.«

»Ja -«

Sie gingen zurück. Lewinsky sah sich noch einmal um. Dann folgte er Werner. Bucher blieb stehen.

Der Morgen war grau. Die Reste der Baracke brannten noch. Siebzig Leute waren verbrannt. Es wären mehr ohne 509 gewesen, dachte er.

Er stand lange da. Die Wärme von der Baracke her war wie ein unnatürlicher Sommer.

Sie wehte über ihn; er fühlte sie und vergaß sie wieder. 509 war tot. Es war, als seien nicht nur siebzig gestorben – als seien es ein paar hundert.

Die Obleute übernahmen das Lager rasch. Mittags funktionierte die Küche. Gefangene mit Waffen hielten die Eingänge besetzt für den Fall, daß die SS zurückkommen würde. Ein Komitee aus allen Baracken war gebildet worden und arbeitete bereits. Ein Kommando wurde aufgestellt, um so bald wie möglich Essen in der Umgebung zu requirieren.

»Ich werde Sie ablösen«, sagte jemand zu Berger.

Berger blickte auf. Er war so müde, daß er nichts mehr verstand.»Spritze«, sagte er und hielt seinen Arm hin.»Ich falle sonst um. Ich kann nicht mehr richtig sehen.«

»Ich habe geschlafen«, erwiderte der andere.»Ich werde Sie jetzt ablösen.«

»Wir haben fast keine Anästhetika mehr. Wir brauchen sie dringend. Sind die Leute noch nicht von der Stadt zurück? Wir haben zu den Hospitälern geschickt.«

Professor Swoboda aus Brunn, Gefangener der tschechischen Abteilung, sah, was los war. Ein todmüder Automat arbeitete da mechanisch weiter.»Sie müssen jetzt schlafen gehen«, sagte er lauter.

Bergers entzündete Augen blinzelten.»Jaja«, erklärte er und beugte sich wieder über den verbrannten Körper.

Swoboda nahm ihn beim Arm.»Schlafen! Ich löse Sie ab! Schlafen müssen Sie!«

»Schlafen?«

»Ja, schlafen.«

»Gut, gut. Die Baracke -«Berger wachte einen Augenblick auf.»Die Baracke ist verbrannt.«

»Gehen Sie in die Kleiderkammer. Da sind ein paar Betten für uns fertig gemacht.

Gehen Sie dahin schlafen. Ich werde Sie in einigen Stunden wieder wecken.«

»Stunden? Ich werde nicht aufwachen, wenn ich nicht stehenbleibe. Ich muß noch – meine Baracke -, ich muß sie -«

»Kommen Sie!«sagte Swoboda energisch.»Sie haben genug getan.«

Er winkte einem Helfer.»Bringt ihn in die Kleiderkammer. Da sind ein paar Betten für Ärzte.«

Er nahm Berger beim Arm und drehte ihn um.»509«, sagte Berger, halb im Schlaf.

»Jaja, gut«, erwiderte Swoboda, der nichts davon verstand.»509, natürlich. Alles in Ordnung.«

Berger ließ sich den weißen Kittel abnehmen und sich hinausführen. Die Luft draußen traf ihn wie eine schwere Wasserwelle. Er taumelte und blieb stehen. Das Wasser stürzte immer noch über ihn.

»Mein Gott, ich habe ja operiert«, sagte er.

Er starrte den Helfer an.»Natürlich«, erwiderte der.»Was sonst?«

»Ich habe operiert«, wiederholte Berger.

»Aber natürlich. Erst hast du verbunden und Öl und so was geschmiert, und dann hast du auf einmal mit dem Messer losgelegt. Zwei Spritzen und vier Tassen Kakao hast du zwischendurch gekriegt. Sie konnten dich verdammt gut gebrauchen. Bei dem Ansturm!«

»Kakao?«

»Ja. Das haben die Kerle alles für sich gehabt. Kakao, Butter und Gott weiß was noch!«

»Operiert. Wirklich operiert«, flüsterte Berger.

»Und wie! Hätte ich nie geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte. Bei deinem Gewicht!

Aber jetzt mußt du mal ein paar Stunden auf die Matratze. Du kriegst ein richtiges Bett. Von einem Scharführer! Piekfein! Komm.«

»Und ich dachte -«

»Was?«

»Ich dachte, ich könnte es nicht mehr -«

Berger besah seine Hände. Er drehte sie um und ließ sie fallen.»Ja -«, sagte er.

»Schlafen -«

Der Tag war grau. Die Erregung wuchs. Die Baracken summten wie Bienenkörbe. Es war eine sonderbare Zeit der Ungewißheit, einer unfreien Freiheit, überstürzt von Hoffnung, Gerüchten und gedrängter dunkler Furcht. Immer noch konnten SS-Kommandos zurückkommen oder organisierte Hitlerjugend. Die im Depot gefundenen Waffen waren zwar verteilt – aber ein paar ausgerüstete Kompanien hätten dem Lager einen schweren Kampf bereiten können; und mit einiger Artillerie hätte man es beliebig zusammenschießen können.

Die Toten waren zum Krematorium hinübergebracht worden. Es gab keine andere Möglichkeit: Man mußte sie dort aufeinanderhäufen wie Feuerholz. Das Hospital war überfüllt.

Am frühen Nachmittag wurde plötzlich ein Flugzeug gesichtet. Es kroch aus den niedrigen Wolken hinter der Stadt.

Die Gefangenen gerieten in Aufruhr.

»Zum Appellplatz! Jeder zum Appellplatz, der laufen kann!«

Zwei andere Flugzeuge tauchten durch die Wolken. Sie zirkelten und folgten dem ersten.

Die Motoren dröhnten. Tausende von Gesichtern starrten in den Himmel.

Die Flugzeuge kamen rasch heran. Die Obmänner hatten einen Teil der Leute aus dem Arbeitslager zum Appellplatz gebracht. Sie formierten sie dort in zwei langen Reihen, die ein riesiges Kreuz bildeten. Lewinsky hatte Bettücher aus der Kaserne besorgt, und an den Enden der Kreuzbalken hielten je vier Gefangene ein Tuch und schwenkten es.

Die Flugzeuge waren jetzt über dem Lager und umkreisten es. Sie kamen tiefer und tiefer.

»Da!«schrie jemand.»Die Flügel! Wieder!«

Die Gefangenen schwenkten die Tücher. Sie schwenkten die Arme. Sie schrieen in das Röhren der Motoren. Viele rissen ihre Jacken ab und schwenkten sie. Die Flieger kamen noch einmal sehr tief herunter. Die Flügel grüßten wieder. Dann verschwanden sie.

Die Menge drängte zurück. Sie blickte immer wieder zum Himmel auf.»Speck «, sagte jemand.

»Nach dem Krieg 1914 gab es Speckpakete von Übersee -«

Dann sahen sie plötzlich, unten auf der Straße, niedrig und gefährlich, den ersten amerikanischen Panzer.